19. Dezember

Mal wieder waren sie wegen der vermissten Kinder auf dem Weg ins Waisenhaus. Der neueste Grund dafür hieß Tamika.

Auch die zweitletzte Entführung hatte sie gestern noch beschäftigt. Da sein Sohn schon drei Tage lang als vermisst galt, war Herr Helmer bei ihnen aufgekreuzt und hatte sie zusammengeschrien, dass sie „gefälligst ihren Job machen" sollten.

Als würden sie nicht ohnehin schon Tag und Nacht am Fall arbeiten.

Dementsprechend freute sich Alan schon fast, heute nur mit einem Betreuer des Waisenhauses und nicht mit aufgebrachten Eltern zu sprechen. Theoretisch könnten sie sich zwar genauso empören, taten es aber nicht. Bei einem Gehalt knapp über dem Mindestlohn konnte das auch keiner erwarten.

Mittlerweile waren sie beim Waisenhaus angekommen. Draußen davor standen zwei Teenager, ziemlich eng beieinander. Ihrer Pose entnahm Alan, dass sie gerade mit etwas sehr Intimen beschäftigt waren. Würden sie vorbeigehen, schreckten sie sie sicher auf. Alan wollte das eigentlich vermeiden, denn er fand es süß, nur leider standen sie direkt vor dem Eingang; es war unvermeidlich.

Okay, kurz und schmerzlos. Alan beschleunigte seine Schritte. Kylie warf ihm mit einer gehobenen Augenbraue einen Seitenblick zu, passte sich aber wortlos an.

„Komm schon, Zuzu", raunte der Typ gerade und beugte sich noch ein Stück näher zum Gesicht des minimal größeren Mädchens.

Sie kamen näher, Alan drosselte seine Schritte.; er wollte ja nicht in sie reinrennen. Hoffentlich bemerken sie uns noch, dachte er, sonst wird das unangenehm.

Aber das Pärchen bekam nichts mit. Stattdessen zischte sie zurück: „Pass ja auf, was du sagst und erst recht, wo deine Finger landen. Sonst rutscht meine Hand ebenfalls rein zufällig aus."

Das wollte er wirklich nicht hören, doch sie blieben direkt neben ihnen stehen, sie hatten keine andere Wahl.
Sie waren mittlerweile einfach angekommen, auch wenn sie auf sich aufmerksam zu machen versucht haben. Alan seufzte, peinlich berührt. Er würde sie wohl jetzt doch noch ansprechen müssen. Das dachte er zumindest.

Womit er nämlich nicht gerechnet hatte, war, dass der Junge sich vorlehnte und sie küsste, woraufhin das Mädchen ruckartig das Knie hob, er aufschrie, rückwärts taumelte und sich krümmte.

Schadenfroh sah sie auf den sich vor Schmerzen krümmenden Typen nieder.
Alan erkannte sie als das Mädchen, das da gewesen ist, als sie Finn Förster nach Hause begleitet hatten, nachdem er für eine Weile vermisst gewesen war. Alan war sich ziemlich sicher, dass sie Zhuri hieß.

Zhuri bemerkte die beiden Ermittler und augenblicklich nahm ihr Gesicht einen ernsteren Gesichtsausdruck an.
„Frau Carpenter! Haben Sie neue Informationen zu den vermissten Kindern?", erkundigte sie sich ernst.

Kylie schüttelte bedauernd den Kopf.

„Aber wir arbeiten daran", versprach Alan schnell, „ deshalb sind wir auch hier: wir würden gerne noch mal einen der Betreuer diesbezüglich befragen."

Der Typ, den Zhuri attackiert hatte, richtete sich wieder auf. „Mich können sie befragen", bot er an. Es war Seppl, er sagte: „Da sie mich schon so oft verhört haben, wird es sicher ein Kinderspiel dieses Mal. Auch, wenn ich denke, dass sie so langsam wissen, was ich weiß."

Zhuri schnaubte: „Ich sage dir auch jeden Tag, dass ich nichts mehr von dir will und trotzdem checkst du es nicht."

Seppl verzog das Gesicht.
„Und deswegen musstest du mich gleich angreifen? Woher soll ich denn wissen, wann du das ernst meinst? Das sagst du immer!"

Sie schnaubte. „Dann frag dich mal, warum!"
Höflich wandte sie sich noch ein letztes Mal an die Ermittler: „Viel Erfolg bei den Ermittlungen und einen schönen Tag wünsche ich Ihnen noch!"
Sie lächelte ihn ein letztes Mal zu, zeigte Seppl den Stinkefinger, dann zog sie von dannen.

„Ich liebe dich auch!", rief er ihr lachend hinterher. Danach wandte er sich zurück an sie: „Ich nehme mal an, sie wollen mich direkt befragen?" Alan nickte.

„Alles klar. Lassen Sie mich nur noch kurz etwas holen. Wollen sie für den Moment mit reinkommen?"

Kylie und Alan sahen einander an und zuckten mit den Schultern.
„Wie es Ihnen lieber ist", kommentierte Kylie.

Seppl zuckte mit den Schultern, drehte sich um, öffnete die Tür und hielt sie für sie auf.
Angenehme Wärme drängte zu ihnen heraus und sie traten hinein.

Drinnen war es, wie immer, chaotisch. Allein, als sie eintraten, sahen sie bereits Kinder durch die Flure wuseln, gleichzeitig stieg der Geräuschpegel um locker 20 Dezibel an und verschiedene Gerüche - Süßes, Herzhaftes und teilweise Schweiß oder Parfüm - wucherten hier herum.
Es war ganz wie immer.

„Zu meinem Zimmer geht es hier lang", lotste Seppl, bog links ab und direkt wieder links. Er betrat das Zimmer, die beiden Ermittler blieben davor stehen.

Alan tat, als wolle er sich strecken und drehte dabei den Oberkörper. Seine Augen scannten die Umgebung. Wo könnte Hoffmanns Zimmer sein?

„Denk nicht mal dran", warnte Kylie, ohne sich auch nur umzudrehen.

Gespielt empört zog Alan die Brauen hoch. „Ich weiß gar nicht wovon du redest!", behauptete er und trat gleichzeitig ein paar Schritte rückwärts, mucksmäuschenstill, um Kylie nicht so aufzufallen. Durch einen Spalt zwischen Tür und Rahmen konnte er in das Zimmer linsen.

Es war offensichtlich, dass das keins der Kinderzimmer war, denn er hatte schon das Vergnügen (oder eher das traurige Erlebnis) gehabt, eines von innen zu sehen. Sie waren viel beengter als dieses hier und hatten natürlich deutlich mehr Betten.

Seppl rief etwas aus dem Zimmer heraus, Kylie trat näher und antwortete. Alan verstand zwar nicht, was sie sagten, witterte aber seine Chance, seine Spur kurz auszukundschaften. Immerhin war heute Elias' freier Tag. Er musste es tun; jetzt oder nie!

Von den beiden unbemerkt, huschte er ins Zimmer. Wie ein Erdmännchen, welches seinen Kopf gerade aus seinem Erdloch gesteckt hatte, sah er sich um.

Er sah viel grün und grau, doch durch das Licht und die Beleuchtung schienen die Farben alles andere als düster. An der Türseite stand ein Regal mit Pflanzen und Büchern, an der Fensterseite ein Schreibtisch, zu seiner Linken das Bett und zu seiner Rechten noch ein Schrank.

Grübelnd sah sich Alan um. Wo würde ich am ehesten meine Beweise verstecken?, fragte er sich selbst. Auf Zehenspitzen trat er ans Fenster. Die meisten Leute bewahrten vertrauliche Dinge auf oder in ihrem Schreibtisch auf.

Alan bezweifelte zwar, Hinweise dort zu finden, aber man wusste ja nie. Schnell, aber leise zog sich den Ärmel über die Hand und dann die Schublade auf. Eigentlich war er der Beste im Jahrgang bezüglich Spurensicherung gewesen, doch jetzt hatte er einfach keine Zeit, mit richtigem Equipment auf Fallensuche und dann auf Indiziensuche zu gehen. Sein Ausbilder hätte bei seinem Stil in diesem Moment geschrien.

Während seine Hand noch in der Schublade kramte, fiel sein Blick allerdings auf die Zimmerpflanze neben dem Schreibtisch. Das war doch ein gutes Versteck!

Seine Bewegungen in der Schublade wurden langsamer, er zog die Hände raus und ließ sich fallen. Hastig checkte er zwischen Topf und Übertopf. Sein Gesicht erstrahlte, als er dort tatsächlich etwas kleben sah.
Gespannt riss er den Zettel ab und liest die Pflanze achtlos zurück in den Topf fallen - und mit ihr jegliche Vorsicht, denn dieser Laut ließ Kylie erst richtig bemerken, dass er weg war.

Alan entfaltete unterdessen schnell das Papier und las:

2x pro Woche Gießen,
düngen alle 3 Monate-> 1 Düngerstick

Enttäuscht senkte er das Papier. Er hatte wirklich gedacht, eine Spur gefunden zu haben... Also doch vielleicht in der Schublade? Alan wollte das Zettelchen gerade dahin zurück tun, wo er es her hatte, als ihn eine Stimme zusammenfahren ließ: „Was machen Sie da?"

Ertappt wirbelte er herum. Im Türrahmen standen Seppl und Kylie. Sie hatte die Arme verschränkt und presste entnervt die Lippen aufeinander. Jetzt seufzte sie und schüttelte den Kopf. Seppl hingegen schien schlichtweg verwirrt. Mit unverständiger Mine und offener Hand deutete er in seine Richtung.

Sollte er lügen? Er überlegte, aber es fiel ihm auf die Schnelle nichts ein. Nein, er musste die Wahrheit sagen. Alan gab zu, wonach er gesucht hatte. Kylies Blick verriet ihm, dass sie schon mit sowas gerechnet hatte, trotzdem war sie enttäuscht.

„Sie verdächtigen Elias?", fasste Seppl es zusammen. Unerwarteterweise lachte er. „Das kann ich Ihnen wirklich nicht verübeln. Er ist ein grauenhafter Betreuer."

Freundlicherweise halfen ihm beide, alles in den Originalzustand zurückzubringen.

„Bleibt das unter uns?", fragte Alan hoffnungsvoll, etwas Blumenerde zurück in den Topf scheffelnd. Seppel verzog das Gesicht etwas und hörte auf, die Blätter zu begradigen.

„Naja, das ist eigentlich Nadjas Zimmer. Es wäre schon gut, Sie darüber zu informieren, damit Sie sich nicht wundert, was mit ihrem Zimmer passiert ist. Aber Elias würde ich nichts sagen nein. Er würde sich nur unglaublich aufregen."

Erleichtert atmete Alan auf.
„Glück gehabt", kommentierte Kylie froh.

Da es schon so gut lief, beschloss Alan, sich noch einen Schritt weiter zu wagen: „Und könnten Sie uns vielleicht auch verraten, wo Hoffmanns richtiges Zimmer ist?" Hoffnungsvoll grinste er, doch Seppel schüttelte, sich den Nacken reibend, den Kopf.

„Das müssten Sie ihn leider selber fragen. Würde ich das für ihn entscheiden, könnte ich froh sein, überhaupt noch hier arbeiten zu dürfen."

Bevor sie gingen, sagte er noch den anderen Betreuern bescheid, dass er jetzt mit ihnen zur Befragung ginge, dann gingen sie zu Alan nach Hause. Die anderen Befragung (mit Ausnahme der von Marko) hatten sie im Waisenhaus oder in der Schule durchgeführt, da es gut gepasst hatte, jedoch war es gerade Vormittag, die meisten Kinder waren momentan dort und der Pausengang wäre auch nicht gerade passend und Seppl meinte, er könne sich dort drin nicht konzentrieren.

Es passte gut, dass Alans Mutter gerade bei einer Nachbarin war, also nahmen sie ihr Haus als guten Ersatz.

Gemeinsam setzten sie sich auf die Couch, Kylie holte den Rekorder.

Alan klärte unterdessen schonmal die Formalitäten. „Ich nehme mal an, Sie haben kein Problem damit, wenn wir das Gespräch aufnehmen, oder?"

Seppl verzog das Gesicht. „Eigentlich wäre es mir lieber, wenn sie das nicht tun."

Verdutzt drehte sich Alan nach Kylie um. Sie stand ein paar Meter weiter und versuchte, das Aufnahmegerät unter ein paar Büchern herausziehen, die vermutlich Alans Mutter darauf gelegt hatte. „Hey, Kylie,", rief er ihr zu, „hast du gehört? Er will nicht, dass-"

Seppel wedelte wild mit den Armen.„Schreien sie das doch nicht so herum! Das scheint ja fast so, als hätte ich was zu verbergen! Ich meine- meinetwegen können Sie das Gespräch auch aufnehmen, aber-"

Inmitten seiner Erklärung kam Kylie zurück, das Aufnahmegerät in der Hand. Kurz hörte sie zu, dann würgte sie ihn ab: „Alles klar, das ist ihr gutes Recht.“ Sie stellte das Aufnahmegerät wenig begeistert, dass sie es umsonst geholt hatte, auf den Boden. „Wie steht es mit Notizen? Sind Sie damit einverstanden, dass wir uns während des Gespräches welche machen?"

„Äh, klar", stimmte er verdutzt zu. Vielleicht hatte er mit mehr Fragen oder Widerstand gerechnet, aber Kylie war es eigentlich egal. Er war ohnehin kein Verdächtiger.

Sie seufzte, holte kurz ihren Block, setzte sich dann neben Alan und notierte sich dann ein paar Dinge, ehe sie ihrem Partner per Nicken das Startsignal gab.
Sofort legte Alan los: „Okay, erste Frage: wie ist ihr voller Name?"

Seppl verzog das Gesicht. „Das hatten wir doch alles schon.“

Alan nickte, wandte aber ein: „Schon, aber wir müssen das ja auch alles ordnen und so geht es leichter. Also, ihr voller Name?“

Seppl seufzte. „Nagut. Sebastian Mark Hermann."

„Und ihr Alter?"

„ 18 Jahre."

Alan wartete kurz, bis Kylie sich das aufgeschrieben hatte. Seine nächste Frage lautete: „Was wissen Sie alles zu Tamika Müller?"

Seppl erzählte auf die Schnelle, Tamika sei zwei Jahre jünger, lebe (wie er) im Waisenhaus und gehe auf die Schule im Dorf. Er begann gerade, ihr Aussehen zu beschreiben, als Alan ihn unterbrach.

„Das wissen wir alles schon, das haben sie uns teilweise selbst erzählt. Was wissen sie noch? Gibt es Orte, wo sie oft hingehen? Irgendwelche Leute, die sie vielleicht auf dem Kieker- ähm, die sie vielleicht nicht mochten?"

Seppl stieß entnervt die Luft aus, lehnte sich auf der Couch zurück und überlegte. „Mal sehen... na ja, da wäre Olivia Layolli, sie ist eine Klassenkameradin von ihr und sie scheinen sich oft zu streiten. Ansonsten ... mit ihren besten Freunden streitet sie sich eigentlich nie ... Ich weiß ja nicht, ob das wichtig ist, aber das sind Seth Schneider und Louise... Uhh, Fiablö oder so? Und sonst... Sie hat einen Freund, Adrian Espoir. Oder vielleicht ist er auch ihr Ex... ich sehe da nicht durch, die beiden haben die ganze Zeit Drama... hey, warten sie, schreiben Sie das doch nicht auf!"

„Wieso nicht?"

Seppl meinte, heftig den Kopf schüttelnd: „Adrian ist es definitiv nicht. Der kann doch keiner Fliege was zuleide. Davon mal abgesehen, ist der doch viel zu verhätschelt, alsdass er überhaupt wüsste, wie man mit Mädchen umgeht, geschweige denn, wie man eins entführt."

„Sprechen sie aus Erfahrung?", witzelte Alan und gluckste.

Da keiner der anderen Anwesenden lachte, schob er schnell hinterher: „Außerdem haben sie uns, als Finn Förster verschwunden ist, ebenfalls Tamika Müllers Namen genannt, ohne sie zu verdächtigen, oder? Nur weil Sie einen Namen nennen, heißt das nicht, dass wir diese Person direkt verhören oder gar verdächtigen."

„Oh. Okay, gut." Er atmete hörbar aus und nickte, höflich lächelnd. „Joa, auf jeden Fall... Olivia Layolli wäre die einzige Spur, die ich ihnen geben könnte, aber zu ihrer Beziehung weiß ich nichts Genaues so.
Und was war das andere? Ach ja, Orte... Naja, Tamika war nie- ach, sie konnte noch nie lange an einem Ort bleiben, ist deshalb oft mit ihrem Fahrrad unterwegs. Es ist türkis, also eigentlich recht auffällig... Vielleicht kann man anhanddessen herausfinden, in welcher Gegend sie so entführt wurde? Andererseits hat der Entführer das Fahrrad vermutlich nicht mitgenommen, wäre ja schön blöd...
Auf jeden Fall fährt sie häufig durch den Wald. Oder zumindest... denke ich das."

Synchron hoben die beiden Ermittler ihre Köpfe und sahen einander an. Klar, der Wald!

Dort könnten die Kinder natürlich am besten entführt werden: man hört seinen Verfolger nicht unbedingt, weil alles durch den Wind immer raschelt, man ist fernab von möglichen Zeugen und mit einem Auto kann man die Person sehr schnell sehr weit wegschaffen. Das hatten sie komplett vergessen.

Seppl sagte noch etwa zwei Sätze, doch sie hörten nicht mehr zu. Viel zu sehr beschäftigte sie dieser neue Gedanke, denn dadurch wuchs das Feld der Verdächtigen enorm.

Wenn man es so betrachtete, war es überhaupt wahrscheinlich, dass alle Kinder in der Nähe des Waldes entführt worden waren.
Linus und Marko standen bekannterweise vor dem Waisenhaus, das ja blöderweise direkt am Waldrand stand. Auch Tamika hatten sie schon das eine oder andere Mal an entsprechenden Stellen gesehen. Besonders lebhaft erinnerte sich Kylie an den dritten Dezember, als die Ausgangsbeschränkungen noch ganz frisch waren.

Es fühlte sich wie eine Ewigkeit seitdem an... und doch waren sie wieder am Anfang.
Sie hatten zwei Verdächtige, beide unwillig, vernünftig zu kooperieren und kein Motiv sowie keine handfesten Beweise.

Der Plan für die kommenden Tage lautete dementsprechend, ihre Verdächtigen dazu zu bringen, sich zu verraten (entweder durch Tricks, Kooperation oder über Dritte) - und das möglichst noch vor Weihnachten.

Ihr Ziel: Weihnachten sollten alle glücklich sein.

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