1. Dezember
Eine Gestalt taumelte aus dem Wald auf die dunkle Straße. Es war ein Mensch; er bemerkte das Auto nicht, welches sich schnell näherte.
In diesem Auto schliefen Alan und seine Freundin Kylie schon seit Stunden. Sie hätten noch weiterschlafen können - wäre da nicht der fremde Junge auf der Straße.
Paul, der Fahrer, vollführte eine Vollbremsung und scherte auf die (glücklicherweise leere) Gegenfahrbahn aus - jedoch nicht, ohne mehrfach zu hupen und mindestens zehn russische Schimpfwörter zum Besten zu geben. Der Junge erschrak und sprang ins Gebüsch auf der rechten Seite. Als das Auto knirschend auf der gestreuten Straße zum Stillstand kam, wurde es schlagartig ruhig.
30 Sekunden verstrichen.
„Was ist pas-", setzte Alan an, jedoch stieg in dem Moment Paul bereits aus.
„Blyat!", fluchte er dabei, „wenn dieser Junge nicht verletzt ist, dann-" was Paul vorhatte, konnte das Pärchen durch die zuknallende Autotür nicht hören.
Sie wechselten einen Blick, dann sahen sie nach draußen, wo Paul wild gestikulierend mit dem Jungen redete. Dieser hatte den Kopf zwischen die Schultern gezogen und sah zu Boden, während er an den Gurten seines schwarzen Rucksacks herumspielte. Er war maximal 17. Seine schwarzen Haare verdeckten sein Gesicht, eine einzelne neongrüne Strähne stach aus dem Rest heraus. Er trug ausschließlich schwarze Klamotten, nur auf seiner Jacke tummelte sich eine Menge grüner Aufnäher.
Alan löste kopfschüttelnd seinen Gurt. „Ich gehe da lieber raus, um einzugreifen." Ohne auf eine Antwort zu warten, löste der Brünette seinen Gurt.
„Du weißt doch, wie Paul ist."
Die zuknallende Tür verschluckte Kylies Protest. Sie war noch etwas dösig, auch wenn ihr Verstand schon arbeitete.
Es war ihr ein Rätsel, wie man schon ein paar Sekunden nach dem Aufwachen so energievoll sein konnte wie ein Kleinkind auf Redbull in der Nacht des heiligen Abends.
Alan hatte sich beschützend neben den deutlich größeren Fremden gestellt, einer seiner Hände ruhte auf dessen Rücken. Dem Jugendlichen war das sichtlich unangenehm, doch der Brünette schien es nicht einmal zu bemerken. Er war viel zu beschäftigt, dem befreundeten Taxifahrer eine Standpauke zu halten, warum er den Jungen nicht so rundmachen solle.
Kylie seufzte. Sie würde wohl eingreifen müssen.
„... vor 13 Jahren weggezogen. Jetzt besuchen wir - oh, hey, Schatz!", plapperte Alan munter. In der kurzen Zeit, in der sich Kylie aus dem Auto geschält hatte, hatte sich Alan schon auf ein neues Thema fixiert: seine Kindheit, von der er seit Tagen andauernd erzählte.
Paul hingegen hatte sich verzogen, um das Auto auf Schäden zu inspizieren. Kylie wünschte, sie könnte ihm helfen, statt so kurz nach dem Aufwachen schon sozial sein zu müssen.
Sie unterbrach Alan, der schon wieder wie ein Wasserfall redete, und wandte sich an den Fremden: „Bist du verletzt?"
Der Angesprochene schüttelte den Kopf. Kylie lächelte minimal. So sehr sie ihren Freund auch liebte, in diesem Moment war ihr dieser Fremde lieber, weil er schwieg. Sie hoffte nur, dass es nicht am Schock lag.
Auch Alan wandte sich wieder an den Fremden: „Was machst du überhaupt hier, so ganz alleine? Es ist ja erst sieben Uhr dreißig. Außerdem sind wir ungefähr- HEY, PAUL, wie weit sind wir von den nächsten Ortschaften entfernt?"
Paul brüllte zu ihnen herüber: „Eine halbe Stunde mit dem Auto bis zur nächsten Stadt. Und dann circa 10 Minuten!"
Der Brünette nickte und wiederholte:„Genau, zehn Minuten Entfernung mit dem Auto, Minimum. Wusstest du, dass wir auch nach Silberweiler wollen? Das ist das Dorf, das ich vorhin erwähnt habe. Kommst du auch aus Silberweiler? Weißt du-"
Kylie räusperte sich. Es war ihr eigentlich lieber, dass Alan redete und sie schwieg, aber dieser Junge wollte offensichtlich nicht in dieser Situation sein. So konnte sie ihn zumindest bremsen.
Zögerlich ergriff der Junge das Wort und beantwortete die Fragen, die Alan ihm gestellt hatte: Ja, er komme aus Silberweiler und habe nicht schlafen können, also sei er Spazieren gegangen. Dann sei er etwas vom Weg abgekommen und auf die Straße gestolpert.
Letztlich entschuldigte er sich überschwänglich.
Alan wurde sofort weich. „Hey, nein, alles gut, Kleiner. Es ist doch nichts passiert. Alles gut!"
Kylie warf ihrem Cousin Paul einen fragenden Blick zu. Dieser interpretierte den richtig als „Wie steht es mit dem Wagen? Ist wirklich alles gut?"
Er nickte.
Der Junge hatte Glück gehabt - für Paul gab es (neben der Familie) nichts Wichtigeres als seinen Wagen.
Der Teenager schien sich immernoch nicht allzu wohl zu fühlen, vermutlich dem geschuldet, dass er irgendwo im Nirgendwo mit drei ihm vollkommen fremden Erwachsenen war.
„Ich denke,", meldete sich Kylie deshalb zu Wort, „dass alles geklärt ist. Du kannst gehen."
Der Fremde entspannte sich ein bisschen. Alan jedoch rief: „Warte, wir können ihn doch nach Silberweiler mitnehmen! Wie ist überhaupt dein Name?"
Kylie verpasste ihrem Partner innerlich eine Ohrfeige. Wäre Alan ein Anderer, hätte sie ihm schon mehrfach den Hals umgedreht seit sie ihn kannte.
Der Junge beantwortete brav, aber ungeduldig, Alans Frage: „Mein Name ist Finn Förster."
Alans Augen weiteten sich. „Förster, sagst du?", hakte er nach, „na, wenn das kein Zufall ist-
Zwei Jahre, bevor ich Silberweiler verlassen habe, wurde ein Mädchen, ein paar Klassen über mir, Mutter. Ihre Gesundheit war noch nie die beste, deshalb ist sie bei der Geburt gestorben. Ihre Eltern weigerten sich, das Kind großzuziehen, vermutlich trauerten sie ihrem eigenen Kind zu sehr hinterher oder so- auf jeden Fall zogen sie kurze Zeit später weg.
Allerdings hat niemand im Dorf den Vater des Jungen gekannt, weil Andie Förster - also vermutlich deine Mutter - zu Lebzeiten niemandem den Vater nennen wollte. Stimmt es, dass du jetzt deswegen im Waisenhaus bist? Und hast du dort Freunde gefunden?“
Er sah Finn von oben bis unten an. „Naja, so wie du aussiehst, mit den schwarz gefärbten Haare und den dunklen Klamotten und so siehst du eigentlich eher emo aus. Oder als wolltest du nicht gesehen werden. Oder beides? Das war aber kein Suizidversuch eben, oder? Freunde finden ist nicht leicht, Mann, aber das ist wirklich kein Grund, zu sterben."
Kylie presste die Lippen vor Scham über ihren Partner zusammen. Das war definitiv keine Konversation, die man führte, wenn man sich erst seit etwa zehn Minuten kannte.
„Äh", begann der Junge mit brennenden Wangen. Ihm schien die ganze Situation genauso peinlich wie ihr. „Ich bin nicht suizidgefährdet, nein. Das war- das war keine Absicht, Herr- äh, Mister, äh- Ich mag... mag schwarz einfach nur", stotterte er zusammen.
Kylie hatte Mitleid mit dem Jungen und mit sich selbst. So peinlich war Alan noch nie gewesen.
„Na dann ist ja gut", antwortete er unterdessen glücklich, „dann hüpf' mal rein." Ohne sich nochmal mit Paul oder Kylie abzusprechen ging er auf das Auto zu.
Sie wollte ihm gerade erklären, dass drei fremde Erwachsene, die einen Jugendlichen in ihrem Auto mitnehmen wollten, nicht gerade vertrauenserweckend waren, doch den Schwarzhaarigen schien es nicht zu stören. „Vielen Dank!", tönte seine hohe Stimme.
„Diese Naivität wird noch sein Tod sein", wisperte Kylie ihrem Partner auf dem Weg zurück zum Auto zu. Alan sah das anders: „Ach, das ist schon in Ordnung. In Silberweiler wurde noch nie eine Straftat begangen. Die Leute hier sind einfach anders."
❆
Der schwarzhaarige Junge auf dem Rücksitz spielte schon die ganze Zeit an seiner schwarzen Kapuzenjacke herum. Darauf waren Aufnäher mit Sprüchen wie „aliens are real" oder „Aliens landen hier aus gutem Grund nicht". Andere Aufnäher zeigten weitere Aliens, UFOs oder schlichtweg den Mond oder Planeten.
Kylie hatte sich, als sie wieder losfuhren, kurzerhand den Vordersitz geschnappt. Sie traute keinen Fremden - auch keinem jugendlichen. Es kam schon zu oft vor, dass Kriminelle den Fahrer vom Sitz hinter ihm oder vom Beifahrersitz aus beeinflusst haben, deshalb hatte sie den fremden Jungen lieber hinter sich selbst.
Kylie war sich nämlich sicher, Paul könnte sich nicht (schon gar nicht während des Fahrens) gegen einen Schnürsenkel-Erstickungsversuch wehren. Sie schon. Sie ist schon einmal in so einer Situation gewesen und wüsste deshalb, was zu tun wäre.
Sie ertappte sich dabei, in der Gedankenspirale immer weiter abzurutschen und rief sich zur Ordnung.
Das dort ist nur ein Junge.
Er greift sie nicht an.
Er bedroht sie mit keiner Waffe.
Er ist nicht aggressiv.
Deshalb ist er auch keine Bedrohung.
Sie sollte wirklich aufhören, ihren Job in ihr Privatleben zu übertragen. Ihr Partner schaffte das gar nicht und wo hatte es ihn schon hingebracht? Zugegeben, in eine höhere Position als sie, aber ebenfalls hatte es ihn beinahe umgebracht.
Wo Kylie gerade so darüber nachdachte, ertappte sie sich dabei, Finn wie einen Verdächtigen im Vernehmungsraum niederzustarren.
„Cousinitschka, du machst ihm Angst", wies nun auch Paul sie darauf hin.
Schnell sah sie weg. „Sorry", murmelte sie, wenn auch mehr zu Paul als zu Finn. Alan warf ihr einen semi-strengen Blick aus dem Rückspiegel zu. Er machte sich dauernd Sorgen, seine Freundin könne paranoid werden.
Kylie sagte dann zwar immer, das könne sie sich nicht leisten - sie müsse ja arbeiten. Andererseits war ihr klar, dass sie bereits solche Ansätze hatte, gegen die sie arbeiten musste.
„Stopp!", rief Finn plötzlich. Paul, der nicht noch einen fast-Unfall riskieren wollte, trat zum zweiten Mal an diesem Tag das Gaspedal durch. „Was ist?", fragte er alarmiert.
Finns Gesicht lief knallrot an. Seine neongrüne Strähne biss sich mit seinen Wangen. Er stotterte: „Ent- entschuldigung, ich... ich bin's nicht... nicht gewohnt, dass man so schnell auf mich re- reagiert. Was ich sagen wollte ist, uh, sie können- sie können mich hier rauslassen."
Paul schnaubte wütend (er hatte sich erschreckt und fand das natürlich gar nicht witzig), während Alan einen Blick mit Kylie wechselte. Sie waren gerade mal fünf Meter vor dem Dorf stehen geblieben und Alan wusste, dass das Waisenhaus definitiv nicht direkt am Ortsausgang stand, auch wenn er einige Jahre nicht da gewesen ist.
„Bist du dir sich-"
„Dankeschön fürs Mitnehmen!" Ehe Alan erneut protestieren konnte, stieg der Junge eilig aus und knallte die Tür hinter sich zu. Paul fuhr desinteressiert weiter.
Kurze Zeit später kamen sie bei Alans Mutter an. Paul half ihnen noch beim Auspacken, dann fuhr er weiter, denn der befreundete Taxifahrer hatte nicht vor, in Silberweiler zu bleiben.
Alans Mutter freute sich (wie erwartet) riesig, ihren Sohn wiederzusehen. Auch Kylie wurde herzlich begrüßt. „Alan hat deine Schönheit total untertrieben! Ohh, man sieht ja nicht einmal, dass du schwanger bist! Was, zwei Monate schon? Als ich zwei Monate schwanger war, war mein Bauch schon doppelt so groß! Aber ich hatte auch etwas mehr auf den Rippen. Du bist ja doch ziemlich mager... Wollt ihr vielleicht Kuchen?" Tüchtig ging sie gleich an die Arbeit, den Kuchen zu backen, während das Pärchen in Alans altes Zimmer ging, um sich einzurichten.
Anschließend bestand dieser darauf, gemeinsam den Leuten im Dorf Hallo zu sagen. Immerhin hatten sie ihn auch seit 13 Jahren nicht mehr gesehen. Größtenteils besuchten sie ältere Frauen, wobei der Brünette seiner Freundin vorher immer eine kurze Beschreibung gab, wer das denn jetzt war. Er wusste, dass Kylie sich sicherer fühlte, wenn sie alle Informationen hatte.
Nach fünf Besuchen bei alten Frauen, einem bei einer Mutter mit Kleinkind („wow, Linda, Glückwunsch!") sowie bei zwei Paaren, kamen sie an einer Schule an.
Trotz der niedrigen Temperaturen spielten die Kinder auf dem Hof. Als Kylie sie herumtollen sah, musste sie einfach lächeln.
„Süß, nicht?", kommentierte der Brünette. Sie nickte.
Alan setzte noch einen drauf: „Das könnten in ein paar Jahren unsere Kinder sein, weißt du? Gerne auch hier, es ist ja eine sichere Gegend. Wie gesagt, in Silberweiler ist noch nie was passiert."
Die Blondine nickte. Er hatte Recht, alles war in Ordnung. Wenn ihr paranoider Freund sich entspannen konnte, sollte sie das auch tun.
„Naja, nie würde ich jetzt nicht sagen, mischte sich plötzlich eine nahestehende Betreuerin ein. Das Pärchen drehte sich um und sah eine Frau mit braunen schulterlangen Haaren, einer grünen Brille, einem grünen Oberteil und einem grauen Cardigan. Alan erkannte sie sofort als eine ehemalige Klassenkameradin.
„Josie! Du wirst doch wohl nicht das eine Mal zählen, als Noah einen Apfel von eurem Baum gemopst hat, oder?" Alan rollte mit den Augen, lächelte aber.
Doch Josie schüttelte den Kopf. „Ich rede von den verschwundenen Kindern."
Augenblicklich hatte die Betreuerin die volle Aufmerksamkeit des Pärchens.
„Wisst ihr es denn noch nicht? Seit zwei Wochen wird Gesa Benz vermisst, seit so anderthalb Wochen ihre etwas ältere Freundin Elaisa Landmann und seit circa 'ner Woche Linus Moor. Der arme Fratz ist erst 5 Jahre alt!", erzählte sie den beiden.
Kylie teilte der Betreuerin ihr Beileid mit. Ihr Freund jedoch fragte: „Warte... war Elaisa nicht die kleine von Noah und Angelina? Ich glaube mich zu erinnern, dass sie sie ab und an in den Briefen erwähnt haben..."
Die Betreuerin nickte bedauernd.
Alan antwortete: „Das ist fürchterlich! Habt ihr eine Ahnung, wo die Kinder sein könnten?"
Josie schüttelte den Kopf. „Der Sheriff sind schon seit Tag eins am Suchen, aber sie sind wie vom Erdboden verschluckt", erzählte sie.
Nachdem sie zuhause den warmen Kuchen gegessen hatten, nutzten die Zwei den restlichen Tag, um die übrigen Bewohner zu begrüßen - doch es war lange nicht mehr so unbeschwert wie vorher.
Von da an konnte Kylie es nämlich nicht mehr lassen, nachzuhaken, wann die Bewohner die Kinder jeweils zuletzt gesehen hatten. Zu ihrer Frustration gab es keine verdächtigen Antworten. Alle waren sehr offen, luden sie zu sich ein und redeten mit ihnen.
Während sie liefen, stupste Alan die Blondine an. Er meinte: „He, es ist fast geschafft. Nur noch Jonathan aus meiner Stufe und das Waisenhaus. Ich weiß, das waren schon viele Leute, aber hätte ich sie nicht alle heute begrüßt, wären sie mir böse gewesen. Dann wird man nicht zu Barbecues und sowas eingeladen und glaub mir, die sind es wert."
Die 27-Jährige seufzte. „Ach, es ist nur... Ich frage mich, was mit den Kindern geschehen ist", gab sie zu.
Ihr Freund nickte. „Ja, ich mich auch. Aber niemand in Silberweiler würde sowas je tun, warum auch? Es gibt bestimmt eine plausible Erklärung dafür. So, siehst du, wir sind schon bei Jonathan angekommen. Er ist Fleischer. Bereit?"
Sie nickte, er klopfte. Laute Schritte waren zu hören, dann öffnete ein Schrank von Mann die Tür. Er hatte rotes, krauses Haar und einen Vikingerbart. Stirnrunzelnd fragte er: „Wer seid ihr?“
Kylie stellte ihren Freund und sich selbst mit vollen Namen vor. Seine finstere Mine enspannte sich erst, als sie Alans Namen nannte.
Ein Lächeln zog sich durch den zottigen Bart.
„Alan, Mann, wie lang ist es her, 15 Jahre? Hab' dich gar nicht erkannt!", freute sich Jonathan. Alan korrigierte ihn: „Ja, fast, 13 Jahre. Gut siehst du aus, was machst du denn, um so in Form zu bleiben?"
Während die beiden Männer Smalltalk hielten, sah sich Kylie den großen Mann näher an. Er war ihr irgendwie unsympathisch. Alles an ihm schien zu grob, von seiner Art zu reden bis hin zu seinem Äußeren.
„Sagen Sie, wissen Sie irgendwas über die vermissten Kinder?"
Jonathans Lächeln verschwand.
Seine Unterlippe zuckte, ehe er knapp antwortete: „Nein, ich weiß nichts dazu." Am Ende seiner Aussage hob er leicht das Kinn wie bei einer trotzigen Geste eines Kindes.
„Und eigentlich fände ich es besser, wenn du und Catherine jetzt gehen würdet", fügte er hinzu.
Während Kylies Hirn in Hochgeschwindigkeit Jonathans Körpersprache auswertete, ärgerte sie sich gleichzeitig, sich mit ihrem ganzen Namen - Catherine Clarisse Carpenter - vorgestellt zu haben. Sie konnte diesen Namen nicht ausstehen, weshalb Sie neue Bekanntschaften normalerweise bat, sie Kylie zu nehmen. Allerdings hatte sie sich durch ihre Arbeit als Kriminalpolizistin angewöhnt, immer ihren vollen Namen, den ihres Einsatzpartners und den Grund für ihr Erscheinen zu nennen. Es schien ihr professioneller. Aber natürlich gab es immer auch Idioten die sich nicht für Ihre Wünsche interessierten.
„Kylie", verbesserte sie Jonathan deshalb bestimmt. „Wie auch immer", antwortete dieser gleichgültig, „ich habe noch zu tun. Schönen Abend euch noch." Damit knallte er ihnen die Tür vor der Nase zu.
Das Paar lief ein paar Schritte, ehe Kylie kommentierte: „Er ist verdächtig."
Alan stolperte vor Schreck, konnte sich aber gerade noch so fangen. Er wunderte sich: „Warum das denn?" Darauf hatte Kylie gewartet. sie erklärte:
„Okay, erstens ist da seine Physiologie. Er ist groß und damit einschüchternd, dazu ist er allemale stark genug, um ein Kind hochzuheben. Du hast seine Muskeln selbst gesehen.
Zweitens meintest du, er sei Metzger. Meinst du nicht auch, ein Metzger wüsste am besten wie man ein Kind schwächen kann, ohne es zu töten? Der Schritt vom Tier zum Mensch ist nicht so groß.
Drittens hat er auffällig knapp meine Frage beantwortet und uns direkt zum Gehen aufgefordert.
Viertens hat seine Oberlippe gezuckt, ehe er geantwortet hat und fünftens hat er zum Ende hin das Kinn gehoben und mich absichtlich mit falschem Namen angesprochen. Das ist ein klares Zeichen von einem Machtbeweis.
Sechstens hat er uns als Einziger nicht rein gebeten und siebtens habe ich bei ihm ein schlechtes Gefühl. Da ist was im Busch."
Alan sah seine Partnerin einen Moment lang nur an, dann seufzte er. „Deine Paranoia lässt dich voreilige Schlüsse ziehen", behauptete der Brünette und ignorierte ihren kleinen Protest, „ich kenne Jonathan und denke nicht, dass er Kinder entführen würde, schon gar nicht aus dem Dorf. Warum sollte er auch? Er hat doch gar kein Motiv."
Während Alans kleiner Rede schüttelte die Blondine den Kopf.
„Ich ziehe hier gar keine voreiligen Schlüsse! Du weißt genau, dass es oft im Endeffekt die waren, bei denen man es nicht erwartet. Das dürftest du ja am besten wissen... Weißt du, ich sage nur, dass er verdächtig ist, nicht, dass er sicher der Täter ist."
Abrupt blieb er stehen, seine Augen wurden glasig. Joe war, als Alan noch bei der Polizei gearbeitet hatte, sein Partner gewesen und hatte ihm Unaussprechliches angetan. Sie bekam ein schlechtes Gewissen dafür, es erwähnt zu haben, denn sie wusste, wie lange er gebraucht hatte, um darüber hinwegzukommen.
Sanft rüttelte sie ihn an der Schulter, mit großen Augen sah er zu ihr, die Furcht darin präsenter denn je.
„Es tut mir leid, das angesprochen zu haben, aber es ist alles gut." Sie lächelte ihm aufmunternd zu. „Es ist vorbei, du bist in Sicherheit", beruhigte sie ihn, „alles ist gut." Er brauchte noch eine ganze Weile, in der seine Freundin ihn beruhigte, ehe er bereit war, weiterzugehen.
Ohne es zu bemerken, waren sie allerdings genau vor dem Waisenhaus stehen geblieben. Es war bunt, mit Malereien und Graffiti geschmückt sowie etwas Mosaik. Es war wirklich ein Kunstwerk. Doch so schön es auch war, Alan wollte da jetzt nicht rein. Kylie ebenfalls nicht.
Der Brünette starrte ängstlich die Fassade an, er dachte immernoch an den Einsatz von vor ein paar Jahren und seine Hand legte sich auf die Narbe an seinem Oberarm. „Hey, denk' an die Barbecues", lenkte sie ihren Freund ab. Es funktionierte nicht.
„Wir könnten hier auch die Befragungen weiterführen, weißt du? Deine Mutter sagte doch, dass sowohl Linus als auch Gesa hier leben. Vielleicht wissen ja die anderen Kinder etwas. Ich könnte mit den Betreuern und du mit den Kinder sprechen", versuchte sje es anders. Sie wusste, wie sehr er Kinder liebte. Ehrlich gesagt hätte sie sich Sorgen gemacht, wenn das nicht gezogen hätte.
Während Alan sich also mit den Kindern unterhielt, sprach Kylie mit einem der Betreuer.
Nachdem sie sich vorgestellt und etwas höflichen Smalltalk gehalten hatte, ging es auch schon ans Eingemachte.
„Verschwinden Linus und Gesa öfter?", erkundigte sich die Blondine.
Jona, einer der Betreuer, schüttelte den Kopf.
„Eigentlich ist es ziemlich untypisch für die beiden. Aber ich fühle mich unglaublich schlecht, nicht genügend aufgepasst zu haben. Die Kinder haben doch niemanden außer uns vieren... Aber sie müssen verstehen, Gesa übernachtet dauernd bei ihrer besten Freundin, Elaisa. Als wir sie dann zwei Tage lang nicht sahen, dachten wir, sie sei nur etwas länger bei den Landmanns geblieben. Erst als deren Tochter uns am dritten Tag besuchte, um zu fragen ob Gesa Hausarrest hat, realisierten wir, dass sie verschwunden war und in paar Tage später verschwand Elaisa selbst.
Am Anfang hielten wir es noch für einen schlechten Scherz, aber nachdem es sich im Dorf rumgesprochen hatte und zwei Tage später sie immer noch niemand gesehen hatte, begannen wir erst, richtig zu suchen. Das war vor einer Woche. Durch die Suchaktion vernachlässigten wir allerdings das Aufpassen auf die kleineren Kinder - und zack, war Linus auch weg."
❆
Als Alan und Kylie an diesem Abend zu Bett gingen, war es lange still im Zimmer.
„Wir müssen diese Entführer ausfindig machen", entschied Alan irgendwann. Kylie nickte.
„Das werden wir."
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