❶❹ ⊱ • 「🎹」 • ⊰

𝟷𝟷. 𝙽𝚘𝚟𝚎𝚖𝚋𝚎𝚛 𝟸𝟶𝟷𝟼

「 ⓟ🅞🅘ⓝⓣ 🅞🅕 ⓥⓘ🅔🅦:
𝐘𝐚𝐦𝐚𝐠𝐮𝐜𝐡𝐢 𝐓𝐚𝐝𝐚𝐬𝐡𝐢 」

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Es wirkt, als sei alles nur ein Traum. Alles passiert langsam, ich reagiere erst spät auf Vieles, kriege Manches gar nicht richtig mit, es ist, als hätte man mich mitten in der Nacht geweckt. Ich merke die ruckartigen Bewegungen und Druck in den Kniekehlen, was daran liegt, dass Tsukki mich auf seinem Rücken trägt. Um mich herum ist es stechend kalt, aber ich trage auch keine Jacke. Mein Körper zittert und ich kann nicht einordnen, warum das alles passiert, erinnere mich kaum noch an das, was vorher war. Wir haben uns ausgesprochen, das weiß ich noch. Danach ist alles weg, als sei ich eingeschlafen und irgendwo, an einem anderen Ort wieder aufgewacht, aber vielleicht ist es ja sogar so. Vielleicht wegen einer der häufigen Schwächeanfälle. Aber wieso gehen wir durch diesen Schneesturm? Es scheint wichtig zu sein. Ich erkenne die Umgebung kaum und nur unscharf, durch halb geöffnete Augen. Es ist keine Menschenseele in der Nähe und es ist ziemlich dunkel. Und wirklich, wirklich kalt. Ich erkenne langsam, dass wir vermutlich die Hauptstraße runtergehen. Aber warum? Ich will etwas sagen, öffne meinen Mund, aber kann keinen Laut von mir geben, also lasse ich es. Dann wird es wieder schwarz um mich herum. Als ich das nächste mal wieder kurz wach werde, erkenne ich ein großes Gebäude vor uns und ich erkenne sofort, wo wir sind. Der Ort, an den ich nie wieder wollte. Das Gebäude, in dem es nach Desinfektionsmittel, Tod und Trauer riecht, der Ort, der mich so stark an meine Mutter erinnert. Ich will da nicht hin, kann mich aber nicht wehren. Sobald er mich die Treppen hochgeschliffen hat, geht alles so schnell, dass ich nicht mehr alles auf den Schirm kriege. Ich werde runtergelassen, es wird um Hilfe gerufen, irgendwann liege ich plötzlich und dann wird es wieder schwarz.

Ich frage mich, ob ich wohl tot bin. Aber nein, das kann nicht sein. Ich atme, ich rieche das Desinfektionsmittel, kann Zehen und Finger bewegen, spüre meinen Körper. Mein Bewusstsein scheint sich langsam zu bessern und als ich endlich meine Augen öffnen kann, sehe ich fast nichts. Es ist fast schwarz in meinem Zimmer. Aber das ist gar nicht mein Zimmer... Das merke ich an der Matratze und dem Geruch, bei genauerem Hinsehen auch am Grundriss des Raumes. Ich liege hier im Krankenhaus. Mittlerweile kommen auch Erinnerungen an den Weg hierher zurück und ich habe plötzlich einen ganz schlimmen Bewegungs- und Fluchtsdrang. Aber ich spüre Gewicht im Hüft- und Oberschenkelbereich. Haben die mich etwa angeschnallt? Nein, so fühlt sich kein Gurt an. Vorsichtig streiche ich mit meiner Hand über das Etwas. Als ich etwas Haariges berühre, ziehe ich meine Hand sofort verschreckt zurück und höre dann ein Brummen. Ab da weiß ich, dass ich nicht angeschnallt bin, sondern Tsukki tatsächlich neben mir auf einem Stuhl sitzt und schläft, seinen Oberkörper auf mir ablegt. Da steht fest: ich werde mich keinen Millimeter mehr bewegen. Dieser Junge hat mich bis hierhin geschleppt, er muss Rückenschmerzen bis zum Umfallen haben und todmüde sein, noch dazu. Ob er wohl gewusst hat, dass ich flüchten würde, wenn er da nicht liegen würde? Ist aber eigentlich auch egal, da dieser Plan nun längst von mir verworfen wurde. Es ist angenehm warm und sowieso, er ist bei mir. Ich fühle mich das erste Mal, seit über zwei Jahren, mal wieder sicher. Nicht einsam, nicht verlassen. Ich weiß, dass er da ist. Also lege ich vorsichtig meine linke Hand in seine Rechte, da diese geöffnet vor mir liegt. Ich bin einfach nur glücklich darüber, dass er da ist. Dass ich nicht alleine hier liege. Wir verharren beide so in dieser Position, bis die Sonne langsam aufgeht. Scheinbar bin ich, seit ich hier angekommen bin, nicht mehr aufgewacht. Als das ganze Zimmer schließlich in ein goldenes Licht getaucht ist, spüre ich eine leichte Regung auf mir und Kei dreht seinen Kopf verschlafen zu mir, die Brille steht sozusagen auf seinem Kopf, sodass sie mit einem Ruck runterfallen und wieder auf der Nase liegen würde. Ein Lichstrahl aus dem Fenster fällt in das Zimmer, direkt in sein Auge, sodass es für einen Moment aussieht, als würde es gold glänzen. Ich lächle ihn an und versuche, ihm zu zeigen, dass ich hier bin und froh bin, dass er da ist. Er lächelt zu meiner Verwunderung zurück und nimmt dann meine Hand, die noch eher auf seiner liegt, richtig in seine Hand und verharrt dann so. Es ist ein sehr schöner, friedlicher und für mich befreiender Anblick. Für mich das erste Gefühl von Glück seit zwei Jahren. Das erste Mal, dass ich meine Augen nicht mit Tränen darin schließen kann und einfach bewegungslos, lächelnd da sitzen kann, ohne irgendwas zu denken oder anzusehen. Ich habe ihn zurück. Vielleicht ist heute der Tag, ab dem wieder ein wenig Leben in mich einfließen kann. Der Tag, an dem ich vielleicht wieder einen Sinn darin sehe.
"Tadashi, der Arzt hat dir drei Monate gegeben.'"
Augenblickschlich erhöht mein Puls sich und mein Gesicht wird vor Schreck heiß. Das war... Sehr direkt. Darauf war ich nicht vorbereitet, ich kann mich gar nicht erst ordnen.
"W-was?"
"Deine Vermutung hat gestimmt, du hast einen Tumor. Direkt an deinem Herzen. Du hast ihn nicht rechtzeitig behandeln lassen, es war ein bösartiger. Der Tumor ist viel zu groß geworden, hat Tochtergeschwülste und Metastasen gebildet. Er sagte, er schätzt drei Monate, bis deine Organe aussetzen. Es kann sein, dass es länger dauert, einige schaffen noch ein ganzes Jahr. Aber es kann auch sein, dass es früher passiert. Einen Tumor dieser Größe zu überleben, der so schwerwiegend ist, der sich so weit ausgebreitet hat und nie behandelt wurde, ist nahezu unmöglich. Behandelt fünf Jahre, unbehandelt eins oder meist weniger.."

Es dauert eine Weile, bis ich die Bedeutung, das Gewicht dieser Worte erfasse. Es ist zu spät. Drei Monate bis zu einem Jahr. Mehr, weniger. Ist es nicht das, worauf ich die ganze Zeit gewartet habe? War es nicht das Ende, auf das ich gehofft hatte? Wieso freut es mich nicht mehr? Wieso füllen meine Augen sich mit Tränen? Ist es der Schock? Ist es, weil ich gerade merke, dass ich doch leben will? Dass ich nicht vorhabe, zu sterben? Dass ich so hoffnungslos war, mein Leben weggeworfen habe, und jetzt, wo es wieder einen Sinn gäbe, zu leben, noch jemand da ist, der mich vermissen würde, zu gehen?
Eine Träne läuft mir aus dem Auge, eine weitere aus dem anderen, bis es einfach läuft. Ich werde sterben. Und ich werde damit jemandem schrecklich wehtun. Deshalb einige ich mich sofort darauf, keine Behandlung machen zu lassen. Es ist sowieso schon unheilbar, auf diese fünf Jahre kann ich verzichten. Das wären nur fünf Jahre, in denen ich es herauszögern würde, einen zu engen Kontakt aufbauen würde, immer stärker am Leben hänge. Es bringt nichts, es würde nur mehr Schmerz verursachen. Ich habe zu früh aufgegeben. Nicht nachgedacht. Vergessen, dass es sein könnte, dass es doch nochmal dazu kommen könnte, dass mich jemand liebt und ich leben will.
"Ist okay. ", sagt er, aber es ist egal, was er sagen würde. Nichts davon könnte mich jetzt dazu bringen, mich besser zu fühlen. Das macht es nur schlimmer. Zu sehen, dass er da ist und all das, was vor zwei Jahren mal war, jetzt vergessen ist. Jetzt gerade, wo er beginnt, mich zu lieben, muss er sich mit dem Gedanken abfinden, dass ich bald nicht mehr da sein werde. Und das alles, weil ich es zu früh so wollte. Es ist fast so, als hätte ich Selbstmord begangen, das, was ich immer als egoistisch und als No-Go enpfunden hatte. Aber das, was ich getan habe, läuft auf das Selbe hinaus. Aber mir wäre in meinem Fall selbst ein Selbstmord leichter gefallen. Dann wäre ich sofort weg. Jetzt bin ich eine tickende Zeitbombe. In jeder Sekunde könnte es das gewesen sein, jede schöne Situation könnte unschön enden, jeder Atemzug könnte der letzte sein und anders als bei einem Selbstmord bin ich nicht der Einzige, der davor Last trägt. Man wird nicht nur danach um mich trauern. Man wird genauso wie ich zu jeder Sekunde im Hinterkopf diese Sanduhr haben, die läuft, aber man die verbleibende Menge des Sandes nicht mehr einschätzen kann, bis ganz plötzlich kein Sand mehr übrig ist und das wars. Ich kann dieses Gewicht nicht auf meinen Schultern tragen.
"Nein, ist es nicht. Ich will nicht sterben. Ich wollte doch nur, dass mein Leben wieder einen Sinn hat, ich wollte, dass du mich liebst, aber das passierte nie und jetzt soll es vorbei sein? Es ist ja nicht einmal jetzt vorbei, es könnte immer passieren und dann seid ihr die, die diese Last tragen müssen, solange ich lebe und nachdem ich gestorben bin."
"Nein, es ist okay. Ich liebe dich, hörst du? Dein Leben ist noch nicht vorbei, Tadashi. Wir alle leben jederzeit mit einer Bombe auf dem Rücken. Jeder von uns könnte jederzeit sterben. Der einzige Unterschied zwischen jetzt und davor ist, dass du genaueres über den Zeitpunkt weißt."
"Das ist... Das ist doch nicht dasselbe...", flüstere ich, ich merke, dass meine Stimme vor Schock verschwindet. Ich habe kaum noch Kraft und weine einfach weiter. Ich habe es von ihm ja jetzt auch gehört, er liebt mich. Doch ich kann mich nicht darüber freuen. Das ist genau das, was ihn jetzt zerstören wird. Wenn er mich doch einfach hassen würde. Dann würde ich nicht nochmal so ein Leid auf die Welt bringen, wie ich es zwei Male erlebt habe. Stattdessen sitzt er vor mir und beginnt, das erste Mal vor mir zu weinen. Egal, was er sagt, es wird nicht das geringste ändern. Letztenendes fühlt er denselben Schmerz wie ich und versucht es uns durch sein Gerede nur einfacher zu machen, aber es bewirkt nichts.
"Vielleicht. Aber wir müssen das Positive daraus ziehen. Ich weiß, es ist schwer. Da ist nichts positives am Tod. Aber du weißt ja jetzt Bescheid, dass du... st-sterben wirst. Du kannst all das tun, das du bereuen würdest, nicht getan zu haben. Mach dir eine Liste. Ich verspreche dir, sie mit dir gemeinsam abzuarbeiten. Bis zu deinem Tod werde ich an deiner Seite sein, hörst du?"
Dass gerade er sowas sagt... Es ist schön, aber ich kann diese Schönheit gar nicht richtig sehen. Alles ist gerade nur davon getrügt, dass ich sterben werde. Ich kann nichts anderes sehen.

"Tadashi, es gibt Wunder. So, wie du eins bist. Das Leben ist ein großes Wunder, sowohl mit Licht als auch mit Schatten. Aber selbst wenn alles auf etwas zeigt, gibt es immer Wunder, Auswege daraus. Wenn alle Ampeln auf grün stehen, kannst du immer noch überfahren werden, wenn alle Ampeln auf rot stehen, kannst du die Straße trotzdem überqueren. Deshalb, lass dich von einem Fakt niemals ganz überzeugen, denn Abweichungen und Wunder gibt es immer."
Ich höre die Worte meiner Mutter immer noch klar und deutlich in meinem Kopf, als hätte sie diese gerade erst zu mir gesagt, obwohl es schon Jahre her ist. Stimmt, es gibt Wunder. Ich glaube nicht, dass es so große Wunder gibt, dass ich nicht hieran sterbe, das wäre ein zu großer Schritt. Aber es gibt kleine Wunder wie zum Beispiel die Zeit, am besten eine schöne, in der wir lernen, zu akzeptieren und ich diese Liste, von der Kei geredet hat, erfüllen kann, sodass ich ohne Reue aus dem Leben gehen kann, wenn es dann passiert. Doch ich möchte nicht nur sagen können, ich hätte ein gutes Leben gelebt. Ich möchte wissen, dass ich dadurch nicht den Schmerz zurücklasse, den ich selbst erlebt habe. Dass Tsukki leben wird und es nicht mit Trauer vergeudet.

So schön er es mir an diesem Tag doch geredet hat, irgendwann müssen wir beginnen, uns darauf vorzubereiten. Er zieht zu uns ins Café, bis es soweit ist. Und wie viele Nächte er dadurch mit mir durchmacht, wie oft er Nachts aufwacht, weil ich Panikattacken habe, wie oft er meine Hand halten muss, bis ich einschlafe, weil ich so eine riesige Angst davor habe, zu sterben, vielleicht morgen nicht mehr aufzuwachen. Er hält sich an sein Versprechen, wir arbeiten jeden Punkt auf meiner Liste ab, aber er bekommt diese nicht zu Gesicht. Dazu gehört das Zurückziehen aller Videos und Audiodateien im Internet, das Kündigen jeder Lizenz und das Löschen aller Konten und Daten. Das war mein allererster ausgesprochener Punkt von der Liste, um den Verlust für Kei einfacher zu machen, damit er nicht in Melancholie schwelgend meine Lieder hört um sich tiefer reinzusteigern oder er jedes Mal beim Einkaufen in irgendeinem Supermarkt meine Stimme im Hintergrund hören muss. Ich beschließe, dem Team nicht Bescheid zu geben, um ihnen diesen Stress zu ersparen, da ich glaube, dass sie mich sowieso vergessen haben. Ich will nichts wieder aufmischen. Darauf folgen Stunden der Geldorganisation und Erstellung von Checks an Frau Shinsetsu, den Karasuno-Volleyballclub, einen Check, den ich heimlich Tsukki zukommen lassen will und schließlich das Geld für meine eigene Beerdigung. Sowas ist teuer, diese Last will ich nicht auch noch zurücklassen. Wir gehen jeden einzelnen Punkt gemeinsam ab, ohne dass er je von meiner Seite weicht. An einem Tag, kurz vor Neujahr, machen wir schließlich einen großen Spaziergang, ganz unter uns. Dabei gehen wir ans Grab meiner Eltern und ich bekomme Zeit, mich dort auch vor ihnen zu bekennen. Zum Ende des Spazierganges beschließen wir, am Bach vorbei zu gehen, da dieser Ort eine wichtige Bedeutung für mich hat. Gemeinsam bleiben wir in der Mitte der Brücke stehen, schauen, Hand in Hand, auf den Bach. Er... Ist zugefroren. Wieder hallen die Worte meiner Mutter in meinem Kopf.
"Tadashi, es gibt Wunder."
Das hier ist wohl eines davon. Wir haben niemals damit gerechnet, doch jetzt ist es doch passiert.
"Jetzt kannst du es ausprobieren.", sagt er und folgt meinem Blick.
"Ich verstehe nicht. Was denn?"
"Du wolltest dem Bach folgen, wenn er zufriert. Es steht zwar bestimmt nicht auf der Liste, aber ich erinnere mich gut daran, dass es eines deiner Ziele war. Auch, wenn du damals nur in Metaphern gesprochen hast."
Ich blicke ihn ungläubig an, nehme ihn aber doch beim Wort. Er lässt meine Hand los und ich steige von der Brücke, klettere den Abhang vorsichtig runter, um nicht zu fallen. Dann stehe ich, wenn auch wackelig, auf dem Eis. Obwohl es so dünn ist und alles dafür spricht, bricht das Eis nicht ein. Ich kann darauf laufen, gehe zögerliche, kleine Schritte. Ich laufe immer weiter, Tsukki neben her, bis man nicht mehr danebenher gehen kann, weil die Straße abgetrennt wird. Eines Tages.. Vielleicht, wenn es wirklich Wunder gibt, dann können wir vielleicht im Sommer durch das Wasser laufen und gemeinsam das Ende suchen. Dass ich es heute nicht finde, könnte ja ein Zeichen sein. Ob es von oben kommt, ob es ein Wunder ist, wer weiß das schon. Ich lächle und komme wieder zu ihm nach oben.
"Das reicht schon. Ich weiß, was ich wissen wollte."
Er nickt und hält mir die Hand hin. Dann gehen wir wieder zurück und stellen uns auf die Brücke, um den vorigen Frieden wiederherzustellen. Bis er ein weiteres Mal die Stille bricht.
"Ich habe mir die Liste durchgelesen. Ich weiß, vielleicht war das falsch, aber ich wollte sicher gehen, dass wir auch wirklich alles schaffen. Und da gab es einen Punkt, bei dem ich dachte, dass ich dir dabei helfen kann. Weißt du, bisher ist diese Brücke immer nur der Ort, an dem es damals geendet hat. Aber ich möchte nicht nur jenen Sommertag oder jene Herbstnacht und eben genannten Tag damit verbinden. Ich möchte diesen Ort zu einem Ort machen, der eine viel schwerwiegendere Erinnerung erzeugt. Einen Ort, der uns immer zusammenhalten wird, selbst wenn... Du weißt schon. Und deshalb möchte ich hier gerne den ersten Punkt auf der Liste abarbeiten."
Dann legt er seine Arme um mich und küsst mich. Ich bin darauf vorbereitet, schließlich würde ich niemals den ersten und wichtigsten Punkt auf meiner Liste vergessen. Ich wollte ihn nur ein einziges mal küssen. Wenn ich das nicht getan hätte, wäre ich nicht ohne Reue gegangen. Schließlich fällt wieder Schnee, aber diesmal unterstreicht er kein Drama, keine Trauer, keine Angst oder Ähnliches, heute landet er auf unseren Köpfen, tantzt um uns herum und ist der Ersatz für das Konfetti, das andere vielleicht über uns hätten regnen lassen. Und so wird diese Brücke nicht nur der Ort von jenem Sommertag, jenem Herbstabend und jener Winternacht. Sie wird der Ort, an dem wir immer zusammenfinden würden. Es gibt schließlich Wunder. Vielleicht bleibt mir noch genug Zeit, bis es soweit ist.
Und dann kommt schließlich Neujahr. Ich habe auf diesen Tag gewartet, da es der Tag ist, an dem ich mir offiziell, neben meinem Geburtstag, etwas wünschen darf. Das letzte Mal habe ich mir etwas an meinem sechzehnten Geburtstag gewünscht. Mittlerweile bin ich einundzwanzig. Vor fünf Jahren habe ich mir gewünscht, dass Tsukki mich liebt. Jahrelang ist daraus nichts geworden, aber jetzt ist es doch wahr geworden. Und das ist es, was mir Hoffnung gibt. Heute werde ich mir etwas wünschen, das nur sehr schwierig zu erfüllen sein wird, aber, wie schon so oft: es gibt Wunder. Ich wünsche mir, dass ich leben darf. Ja, ich will leben, und das nicht nur für drei Monate mehr oder weniger, ich möchte leben, bis zu meinem eigentlich letztem Atemzug. Ich möchte Musik machen, ich möchte labberig gewordene Pommes essen, ich möchte das erste Mal Alkohol trinken, ich möchte mit Tsukki Dino-Quartett spielen, mit ihm Jurassic Park gucken, noch einmal mit der Mannschaft Volleyball spielen, ich möchte das Ende des Baches finden, bis ich eines Tages lachend im Schaukelstuhl sitzen kann, über alte Tage philosophiere, aus dem Fenster starre und alles beobachte und lachend zu meinem Tumor sage, dass ich ihn überlebt habe. Ich möchte leben und nicht das wegwerfen, woraus ich so etwas Schönes hätte machen können. Die Kraft liegt in meiner Hand. Ich werde nicht aufgeben, wenn mein Körper sagt, dass er sterben will, muss ich eben dagegen ankämpfen und aus purem Willen leben. Für mich. Für Tsukki. Für meine Eltern, für Frau Shinsetsu, die Karasuno-Mannschaft, Hernn Shimada, ich möchte jede Sekunde dieser Welt mit einem Lächeln erleben können. Ich werde niemals zustimmen und mir das hier nehmen lassen.
Ein paar Wochen später ist schließlich der Tag gekommen, an dem die 3-Monate-Marke geknackt ist- und ich lebe. Ich bin aufgewacht, neben ein bisschen Blut spucken, Krampfanfällen und weiteren leichten Wehwehchen geht es mir gut. Ab da bin ich sicher, dass mein Wunsch vielleicht erhört wurde. Vielleicht ist es zu früh, um das zu glauben, aber ich werde nicht mehr aufgeben. Ich kann stark sein, das weiß ich. Ich habe mich so fest daran geklammert, dass ich leben will, habe es mir gewünscht, habe das erste Mal wirklich ernsthaft gebetet. Vielleicht schaffe ich es. Vielleicht darf ich leben. Vielleicht passiert das Wunder, auf das ich so hoffe. Zur Feier des Tages fahren wir noch einmal an den Strand, an dem wir vor Jahren mit Akiteru den Schlüssel gesucht haben. Etwa zur gleichen Tageszeit, als es sich damals zugetragen hat, sitzen wir im Sand und schauen auf die Wellen. Es ist wie damals, als er mir die Muschel geschenkt hat, die ich immernoch um meinem Hals trage.
"Du, Tsukki..."
Er brummt und sieht zu mir.
"Erinnerst du dich an dieses alte, japanische Sprichwort, das besagt, dass man als Abbild der Person wiedergeboren wird, die man am meisten geliebt hat? Wenn dem so ist... Dann wirst du mich doch sicher finden, oder?"
"Du wirst aber nicht sterben, es sei denn, am 30. Februar oder am 32. dreizehnten, vestanden? Ich dachte, du glaubst nicht mehr daran, dass es passiert."
Ich lächle leicht und nicke. Vielleicht sollte ich damit aufhören, uns beide mit diesem Thema zu belasten, damit Kei es mir nicht immer wieder ausreden muss. Noch gibt es Hoffnung, ich lebe noch. Und ich bin mir so sicher, dass das so bleibt. Da wir an der See sind, wir den elften Februar haben und es noch dazu ziemlich dunkel ist, rutsche ich näher an Tsukki heran und lege meinen Kopf auf seiner Schulter ab, nehme dabei seine Hand und schließe die Augen. Das Meer, die Kälte, die Tageszeit und diese von ihm ausgehende Wärme machen mich sehr schläfrig, also schließe ich friedlich die Augen.
"Erzähl mir was.", flüstere ich ihm zu.
Er scheint zu überlegen, kommt meinem Wunsch aber nach.
"Weißt du, früher habe ich mich nicht für sowas interessiert, aber mittlerweile schon und jetzt kann ich erkennen, welche Sternbilder da oben sind."
"Und, welche siehst du?", gähne ich und vertraue an der Stelle darauf, dass er mir beschreibt, wie die aussehen, denn zum Gucken bin ich jetzt zu müde.
"Im Februar kann man das ganze Wintersechseck sehen. In vier Tagen ist es am besten sichtbar. Das ist sozusagen ein Sternbild, das aus mehreren Sternen aus anderen Sternbildern gebildet wird, so zum Beispiel aus Sirius, dem Hund, der hellste Stern im Wintersechseck, die Zwillinge Kastor und Pollux, Orion und noch andere, aber die Namen kann ich mir nicht alle merken. Da siehst du übrigens auch, wo viele Namen herkommen, die Autoren verwenden, denn viele werden nach Sternen benannt. Kastor und Pollux zum Beispiel, die Brüder aus..."
Seine Stimme wird immer leiser, ich höre ihn kaum noch. Eine schöne Gute-Nacht-Geschichte. Morgen werde ich bestimmt alles Gelernte sowieso wieder vergessen haben, aber er kann es mir ja noch einmal erzählen.
"Hey, du kannst hier am Strand nicht schlafen, lass uns nach Hause fahren."
"Tadashi?"
Ich spüre ein leichtes Rütteln an meiner Schulter, aber um mich herum wird es dunkel. Ich bin zu müde, kann mich nicht bewegen.
"Tadashi!"
Ich kann mich nicht dagegen wehren. Nicht durch Willenskraft. Mein Körper hat den Geist aufgegeben.
Aber ich kann noch denken. Ich weiß, dass ich nicht mehr allzuviel Zeit habe. Ich muss die Angst für einen Moment vergessen. Egal, wie sehr ich gewünscht und gehofft habe, es hat mich wohl doch erwischt.
"Lass dich von einem Fakt niemals ganz überzeugen, denn Abweichungen oder Wunder gibt es immer."
Ich bin wohl wieder darauf reingefallen, war zu gutgläubig, zu hoffnungsvoll.
Aber ich habe endlich das Gefühl, fast ohne Reue gehen zu können. Ich habe jeden Punkt auf meiner Liste abgearbeitet. Ich habe schöne drei Monate gehabt. Vielleicht ist jetzt gerade die schönste Zeit für den überfälligen Abschied. Im Geiste sind wir beide darauf vorbereitet, wir sind beide dabei und bei Bewusstsein, es war nicht so eine lange Zeit, dass ich es durch diese dann tiefere Bindung hätte verschlimmert.
Ich liebe dich, Tsukki.
Ich höre ihn noch einmal meinen Namen rufen. Ich weiß, es tut weh. Ich weiß, wie sich dieses Leid anfühlt, was du fühlst.
Ich danke dir dafür, was du für mich getan hast.
Bebende Schultern schließen mich in die Arme.
Und das ist er. Der letzte Gedanke, den ich habe, bevor ich verspreche, wenn ich im Himmel angekommen bin, heller für ihn zu leuchten, als der Sirius es heute tat. Hoch über der Brücke, neben dem Mond will ich strahlen, sodass wir immer an diesem Ort zusammenkommen. Und dort werde ich auf ihn warten. Dann nehme ich meinen letzten Atemzug.
"Lebewohl. Das ist mein letztes Wort."

// the end. ☆

Nach dem Nachwort ist noch ein Kapitel!

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