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➷ 𝟷𝟷. 𝙽𝚘𝚟𝚎𝚖𝚋𝚎𝚛 𝟸𝟶𝟷𝟼

「 ⓟ🅞🅘ⓝⓣ 🅞🅕 ⓥⓘ🅔🅦:
𝐓𝐬𝐮𝐤𝐢𝐬𝐡𝐢𝐦𝐚 𝐊𝐞𝐢 」

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Café. Auffällig. Ein auffälliges Café. Wieso sollte gerade er, der sich jede Prachtvilla kaufen könnte, in einem Café untergekommen sein? Und wie soll ich gerade DAS Café finden? Gut, in Sendai gibt es nicht allzu viele davon, aber wie finde ich heraus, welches jetzt das ist, wo er wohnt? Ich kann nicht jedes Café abklappern und mal nachgucken, ob ein gewisser Herr Yamaguchi da wohnt. Das wirkt so, als würde ich davor stehen und dann merken, dass ich doch nicht genug Geld dafür habe und dann sehe ich auch wie der letzte Trottel aus. Aber es nützt ja nichts, irgendwie muss ich das ja rausfinden. Aber ich finde das sicherlich auch so heraus, ohne Paparazzi zu spielen.
Also: was verstehe ich unter einem auffälligem Café? Ein Katzen-Café, ein in ein Genre einordbares Café, ein auffällig gestaltetes Café..?
Katzen-Café schließe ich mal lieber aus, er hat ja eine Katzenhaarallergie. Also muss es ein auffällig gestaltetes sein, zumal ich nicht glaube, dass es hier so besondere Cafés gibt. Das schränkt die Auswahl zwar nicht stark ein, aber etwas. Weil ich nicht jedes der Cafés hier kenne, muss ich nachschauen, welche es alle gibt. Ich suche auf einer Online-Karte, da ich so jedes berühren kann, Name und Öffnungszeiten sowie Kundenrezensionen und Fotos sehe. Ich gehe jedes einzelne durch und streiche jedes, welches nicht auffällig gestaltet ist oder nicht seinem Standard entspricht. Die Auswahl wird immer geringer, wirklich auffällig ist keines davon. Es sind immerhin öffentliche Orte, die einladend und nicht abschreckend wirken sollen. Das hier ist ja keine Karnevalsveranstaltung. Vielleicht muss ich auch um die Ecke denken und die japanische Bezeichnung für diese Stammtöne verwenden? Das wären dann ro, i, ni und ho. Roiniho? Bei meiner Recherche finde ich darunter nur Zeitungen aus dem achtzehnten Jahrhundert über irgendwas mit Chromcarbonat in einer anderen Sprache. Also muss es einen anderen Hinweis geben, wenn keines der übrig gebliebenen Cafés in Frage kommt, da um die Ecke zu denken wohl nichts bringt. Ist es die Bewertung? Eine herausragende Bewerbung oder eine sehr schlechte? Ich schaue mir die jeweiligen Bilder an und schließe beides sofort aus. Das am besten bewertete Café hat gar kein zweites Stockwerk und er wird ja wohl nicht im Keller leben, auch daneben sind keine Gebäude. Darin wird sich ja wohl nicht auch eine Wohnung befinden, es ist immer noch ein öffentlich begehbarer Ort. Das am schlechtesten bewertete ist geschlossen, das wird es auch nicht sein. Ach Mist, das wird mir wirklich zu blöd. Ich weiß doch gar nicht, nach welchen Kriterien ich suchen soll. Die letzten Kategorien, die mir einfallen, wären Name oder Standort des Cafés. Mithilfe des Standortes kann ich auf keine Lösung kommen, nichts davon sticht wirklich heraus. Die sind eben alle über gut besuchte Ecken verteilt. Also der Name? Sofort sticht da für mich nichts raus. Die heißen alle gleich, der Nachname des Besitzers und dann ein Café dahinter geklatscht. Oder eben, wenn es aus der Reihe fällt, dann steht da auch mal was anderes. Das Einzige, das sich namentlich stark unterscheidet, wäre eines, das sich "Shinsetsu Hade" nennt. Moment mal... Habe ich gerade wirklich das offensichtlichste Detail von allen übersehen? War die Lösung wirklich so verdammt einfach? Hade sollte gar nicht für "auffällig" stehen. Es war der Vorname einer Person und ich habe meine Zeit und meine Gedanken völlig umsonst verschwendet. Ehrlich, manchmal wünschte ich, ich sei dümmer. Dann würde ich schneller auf offensichtliches kommen und nicht immer versuchen, um die Ecke zu denken und Richtiges für falsch zu halten. Aber was soll's, ich habe mir das ja nicht ausgesucht. Jetzt, wo ich weiß, wo er sich aufhält, liegt der Schlüssel zum weiteren Verlauf in meinen Händen. Je nachdem, ob ich den Hintern hochkriege und Eier zeige oder einen Rückzieher mache und kalte Füße bekomme, wird jetzt über zwei Leben entschieden. Ich bin der springende Punkt. Die gesamte Verantwortung liegt bei mir, in meinen Händen. Habe ich all die Zeit und Gedanken umsonst aufgebracht, nur um jetzt ins Wochenende zu gehen und völlig außer Acht zu lassen, dass ich das gesamte Leben eines Einzelnen, der mir doch viel, viel mehr bedeutet als ich zugebe, ein weiteres Mal entzwei zu brechen, obwohl mich das erste Mal noch immer so quält? Oder beiße ich jetzt diesen sauren Apfel und suche das Gespräch? Was ist meine Entscheidung? Ein Leben zerreißen und mein eigenes niemals wieder leben können, ohne daran zu denken, was ich jemandem angetan habe, oder einmal einer unangenehmen Situation entgegen gehen und vielleicht den Knoten auflösen, der uns Beide in jeder Hinsicht behindert?
Jeder Fakt spricht dafür, mich zusammen zu reißen und endlich das Problem zu lösen, statt immer wegzulaufen.
Also erhebe ich mich und verlasse die Wohnung, die zwar das Haus ist, in dem ich lebe, aber nicht das Zuhause, das ich mir wünsche.
Es ist glatt draußen, zu riskant, um jetzt mit dem Auto zu fahren. Deshalb gehe ich zu Fuß. Das Café ist irgendwo in einer Gasse in der Innenstadt, bestimmt gut besucht. Es ist zwar bitterkalt draußen, aber ich überwinde mich trotzdem. Ich halte es für keine besonders gute Idee, mir jetzt Gedanken über die folgenden Stunden zu machen, aber ich kann einfach nicht anders. Es gibt zu viel, was ich wissen will, zu viel, was ich ihm sagen muss und ich muss meine Gedanken dafür ordnen, mich irgendwie darauf vorbereiten. Ich muss ja erstmal dieses Café erreichen. Dann muss ich einen Eingang von Außen zum Wohnbereich finden, wenn es den nicht gibt, muss ich drinnen nachfragen, wenn ich ehrlich bin, kriege ich beim Gedanken daran schon eine Gänsehaut. Wenn da keiner wohnt, sehe ich aus wie der letzte Trottel, aber es nützt ja nichts, wenn es keinen anderen Weg gibt, muss ich es ja so machen. Dann geht es erst richtig los. Schon ab dem Moment, wo ich ihn wiedersehen werde. Normalerweise ändert man sich in zwei Jahren in diesem Alter nicht mehr wirklich stark, aber den Umständen entsprechend ist es gut möglich, dass ich vor einem ganz anderen Menschen stehe, als den, den ich zu kennen pflegte. Wie wird er aussehen? Klar, durch das Video weiß ich ja, dass er dünner ist und sein Haar nur etwas gewachsen ist, durch den Winter sind seine Sommersprossen ein wenig verblasst. Aber ich fürchte mich vor der Art, wie er mich empfängt. Wie er mich ansieht allein ist schließlich schon ein großer, ausschlaggebender Punkt. Ich weiß nicht, ob er sich freuen würde. Ob seine Augen vor Freude strahlen würden, so wie sie es immer für mich taten. Bei dem was ich getan habe, wage ich, das zu bezweifeln. Aber wie wird er dann aussehen? Wird er wütend und schlägt mir die Tür wieder zu? Wird sein Gesicht verletzt aussehen? Oder zeigt er gar keine Reaktion? Nimmt er mich überhaupt noch wahr oder glaubt er erst gar nicht, wie ihm geschieht? Und was passiert dann? Was, wenn es gar nicht erst zum Gespräch kommt? Das wäre der schlimmste Fall von allen. Soll er doch weinen, mich anschreien, mich jeden meiner Fehler bewusst sein lassen, es ist mir egal, was er mir an den Kopf wirft. Ich verdiene es. Die Hauptsache ist seine Bereitschaft, mit mir zu reden und das alles irgendwie zu beseitigen. Selbst, wenn es nicht ganz so wie früher wird. Selbst, wenn wir nicht einmal mehr Freunde werden. Solange ich es schaffe, mich zu entschuldigen und ihn noch einmal lächeln sehen kann, ist es egal.
Mit diesen letzten Gedanken komme ich dann vor einem kleinen Gebäude zu stehen. Vor mir ist die Glastür, über mir hängt das große "Shinsetsu Hade"-Schild. Jetzt wäre der letzte Moment, um zu zögern und den Plan zu überdenken. Jetzt könnte ich umdrehen, zurückgehen und vergessen, was für einen dummen Plan ich da hatte. Aber ich tue es nicht. Hinter mir fallen nun langsam wieder Schneeflocken, als würden selbst sie mir verbieten wollen, jetzt einen Rückzieher zu machen. Aber das will ich ja sowieso nicht. Mit zitternden Fingern aber einem doch vor Entschlossenheit festen Griff ergreife ich die zierliche Edelstahlklinke runter und drücke die Tür auf. Sofort tritt mir der Geruch von Kaffee in die Nase und ein kleines bisschen Erinnerungen an mein altes Zuhause entgegen, dadurch, dass es nach Kirsche riecht. Man hört die Löffel, die den Kaffee umrühren, die Gabeln, die achtlos gegen den Teller klirren und die paar Leute, die sich munter unterhalten. Irgendwo im Hintergrund spielt zusätzlich noch Musik. Die warmfarbige Einrichtung erinnert mich an warme Wintertage im Wohnzimmer, als ich noch jünger war und Akiteru und ich gemeinsam vor dem Kamin gespielt haben und unsere Eltern uns auf dem Sofa zugesehen haben. Ich vermisse diese Zeit. Damals war ich so sorglos und habe nicht in Allem einen Sinn gesucht, sondern einfach das getan, worauf ich Lust hatte und habe nichts bereut. Damals war richtig und falsch viel einfacher zu unterscheiden. Zudem habe ich das Gefühl, dass man mit dem Alter immer unbedeutender wird. Man ist durch manche Talente nichts besonderes mehr, man muss sich um alles selbst kümmern und Probleme werden unterschätzt, weil man ja nun "groß, reif und erwachsen ist und sich um sich selbst kümmern kann und muss". Aber nun gut, genug dazu. Ich bin nicht hergekommen, um zu philosophieren. Ich habe etwas wichtiges zu erledigen.
Ich trete nun langsam auf die Theke zu, an der eine Frau steht und ein wenig melancholisch aussieht, als würde sie in der Musik und alten Erinnerungen schwelgen. Vielleicht vermisst auch sie ihr Zuhause. Als ich vorher nach anderen Eingängen in einen mutmaßlichen Wohnbereich gesucht habe, fiel mir auf, dass es keine Häuser in der Nähe gab, also entweder lebt sie ganz woanders oder über dem Gebäude.
"Kann ich etwas für Sie tun, junger Mann?", fragt sie, als sie aus ihren Gedanken fällt und mich bemerkt.
"Na ja, ich suche da jemanden. Wohnt hier drüber jemand, der Yamaguchi heißt?"
Sie zieht erstaunt eine Braue hoch.
Habe ich das so richtig gemacht? Fragt man so danach?
"Ja, so jemand wohnt hier. Wenn Sie davon wissen, müssen Sie in guter Verbindung mit ihm stehen. Darf ich fragen, in welcher?"
"Wir waren mal sowas wie beste Freunde...", murmele ich, da ich merke, dass mir dieses "waren" einen Stich ins Herz versetzt.
"Dann weiß ich Bescheid. Komm mit, ich bringe dich nach oben."
Das heißt wohl, er hat von mir erzählt. Ihrem Blick nach zu urteilen ist sie nicht mehr so erfreut.
Ich folge ihr hinter der Theke durch einen dunkeln Gang, an der Vorratskammer vorbei und dann in Richtung Wendeltreppe. Bevor wir hochgehen, bleibt sie kurz einen Moment stehen und sieht mich durchdringlich an.
"Ich bringe dich jetzt nach oben, ich muss das machen, nicht, dass später mein Wohnbereich betreten wird. Aber darum geht es nicht nur. Tadashi ist in keinem guten Zustand und ich möchte nicht, dass er verletzt wird. Also halt dich bitte zurück. Er ist emotional gerade nicht gut drauf, zumal er gestern auch noch seinen Vater verloren hat. Ich möchte nicht, dass er irgendwann auf dumme Gedanken kommt. Was er jetzt braucht, ist ein Freund und niemanden, der ihm zur Last fällt. Bitte sei ihm eine Stütze und tu ihm nicht weh."
Dann führt sie mich weiter die Treppe rauf. Sofort steigt mein Puls immens an. Nicht, weil diese Treppen so anstrengend sind, sondern weil ich wirklich Angst habe. Jemandem, der eine frische, emotionale Wunde hat, in die Augen zu sehen, dann noch jemand zu sein, der selbst der Grund für eine weitere seelische Verletzung ist, das ist so ziemlich das nervenaufreibendste und schlimmste, das ich jemals erlebt habe und die schrecklichste Erfahrung, die ich jemandem aufzwinge. Sogar noch schlimmer als jenen Tag vor zwei Jahren, da heute alles auch noch zusammen kommt. Bevor ich weiter Zeit habe, darüber nachzudenken und mir Gedanken darüber zu machen, was jetzt kommt, klopft sie schon an die Tür. Jetzt sind es nur noch wenige Sekunden und eine Holztür, die uns voneinander trennen.
"Tadashi, du hast Besuch.", sagt sie mit einem traurigen Unterton.
Jetzt ist es für alles zu spät. Nur noch wenige Sekunden, bis ich wieder in sein Gesicht schauen werde.
Die Tür öffnet sich einen Spalt breit. Es ist zu dunkel, um etwas zu erkennen, da der Flur auch nicht beleuchtet ist, tritt auch von hier kein Licht in seine Richtung, das mich seine Gesichtszüge sehen lässt.
Aber kein Geräusch der Welt übertönt das erste Wort, das er seit zwei Jahren zu mir sagt.
"Tsukki."
Ganz leise verlässt es seine Lippen, wie ein Wassertropfen, der von einem Blatt tropft und dann in tausend Teile zerspringt. Genauso wie mein Herz. Er zerspringt nicht vor Freude oder Aufregung. Er zerspringt, weil plötzlich eine Art Dolch darin steckt. Viele unterdrückte Gefühle kommen auf einmal in mir hoch, Erinnerungen an früher und schließlich auch Angst. Die Vertrautheit, wenn ich damals diesen Namen gehört habe, ist zu einer leeren Angst geworden. Ich starre still in die Richtung, in der ich seine Umrisse erkenne.
Das "Ich lasse euch zwei dann mal allein" nehme ich kaum wahr. Es fühlt sich an wie Stunden, in denen wir uns gegenseitig ansehen, aber es sind sicherlich nur wenige Sekunden.
Ich muss mir endlich einen Ruck geben. Egal, wie sehr er sich verändert hat, vor mir steht immer noch der gleiche Mensch, den ich liebe und abgewiesen habe. Ich bin schließlich aus einem Grund hier.
"Darf ich reinkommen?", frage ich also ohne sonderlich viel Gefühl.
Wortlos geht er zurück und öffnet die Tür weiter. Ich sehe ihn immer noch nicht ganz, in seinem Zimmer ist es schwarz vor Dunkelheit.
Mit zitternden Knien bewege ich mich vorwärts, betrete das Zimmer und frage mich, was als nächstes zu tun ist. Da er die Tür geschlossen hat, ist es eigentlich klar. Jetzt wird sich unterhalten, aber nicht bei der Dunkelheit. Ich muss nach etwas Licht fragen.
"Magst du vielleicht das Licht anmachen? Ich... Würde dich gern sehen."
Eine Lüge. Ich könnte es nicht übers Herz bringen, ihn anzusehen, aber sich jetzt, unter diesen Umständen und dieser Tageszeit in der Dunkelheit zu unterhalten, ist auch irgendwie komisch.
"Ich sehe schrecklich aus."
Eine weitere Lüge.
"Das glaube ich nicht. Es ist egal, wie du aussiehst, ob du nun völlig ausgebrannt aussiehst oder so aussiehst, als hättest du dich in Schale geworden, es ist egal, ob du deine Schlafklamotten oder einen Anzug trägst. Das hier ist keine Modeshow und ich bin gekommen, um mit dir zu reden. Und dabei würde ich dich gerne ansehen."
Wieder eine Lüge, ich weiß, wir schwer mir das fallen wird. Aber trotzdem beharre ich so stark darauf, dass wir ein normales Gespräch führen können. Mit Licht, bitte.
Wir haben uns verfremdet und ich möchte Normalität zurückbringen, was nicht geht, wenn dieses Gespräch schon so komisch aufgebaut ist.
Er seufzt. Ich hoffe, dass es ein Zeichen dafür ist, dass er nachgibt. Den Gräuschen zu entziehen ist er aufgestanden und schließlich fahren die Rolladen automatisch hoch. Zuerst fällt das Licht nur durch die kleinen, löchrigen Öffnungen und die Lichtflecken verteilen sich im Ganzen Raum. Ich erkenne sie auf seinem Körper, sehe das Licht reflektiert in seinen Augen. Dann öffnet sich ein Schlitz, das Licht fällt auf den Boden, auf seine rot-gelb gestreiften Socken, der Schlitz vergrößert sich und erhellt den gesamten Raum immer weiter, sodass ich seinen Körper bald ganz sehe. Und dann nehme ich all meinen Mut zusammen und schaue mir den aussagekräftigsten Teil seines Körpers an.
Er ist blass. Seine Mundwinkel sind nicht im geringsten angespannt, hängen herunter. Durch den Winter und seine Blassheit sind seine Sommersprossen noch immer heller und kaum sichtbar. Auf seinen Wangen zeichnen sich rote Striemen ab. Seine Augenbrauen zittern unsicher. Und dann seine Augen. Geschwollen, als hätte er gerade eben noch geweint. Das glänzende Braun, das Strahlen darin, die Emotionen, all das Gefühl- wie fortgeblasen. Ich sehe darin nicht mehr die Wärme und Vertrautheit, die ich kannte. Was ich sehe, sind zwei matte, glanzlose braune Augen, das einzige Licht darin war die Reflektion des Lichtes vorhin, jegliche Wärme und Vertrautheit wurden durch Leere, Kälte und Hoffnungslosigkeit ausgetauscht. Und die Angst, die ich daraus ablese. Die Angst vor mir.
Es versetzt mir doch einen Stich in die Brust. Eine Mischung aus Trauer, Leere, Angst, Wut und Wehmut.
"Ich sagte ja, dass ich schrecklich aussehe", murmelt er, als ich meinen Blick wieder senke. Und nochmal dieselbe Lüge. Das ist es nicht. Er sieht nicht schrecklich aus. Er könnte Verbrennungen dritten oder vierten Grades, Keloidnarben oder Falten oder was auch immer in unserer Gesellschaft unter hässlich fällt haben, er würde nicht schrecklich aussehen. Es würde sein Erscheinungsbild zwar beeinflussen und entspricht nicht der Normalität oder dem Schönheitsideal. Aber was sagt das schon über ihn aus? Solange er derselbe Mensch ist, ist er wunderschön, egal, was genau da ist. Ob er lächelt oder nicht, ob seine Augen strahlend blau oder matt braun sind, das ist völlig egal. Wenn man jemanden für sein Aussehen liebt, ist das ein Grund, aber keine Liebe. Wenn man jemanden liebt, dann nicht, weil man sich an dessen Bild ergötzen will, sondern der Persönlichkeit wegen. Sonst könnte man genauso gut einen Gegenstand heiraten.
"Nichts auf der Welt würde dich je schrecklich aussehen lassen, solange du dem Charakter entsprichst, der du bist und keinem Anderen. ", antworte ich darauf und wende meinen Blick dabei nicht ab, so sehr ich es auch will.
Er erwidert nichts darauf, aber was will man darauf auch schon sagen?
Damit es gar nicht erst wieder zu dieser unangenehmen Stille kommt, sollte ich wohl schnell etwas sagen.
"Also, jetzt bin ich hier."
Schlechter Anfang. Was soll das denn für eine Aussage sein?
"Das heißt, jetzt ist es an der Zeit, mir alles an den Kopf zu werfen, wofür du mich hasst, um das Problem aus der Welt zu schaffen."
Schon besser. Ich erhalte keine Antwort darauf, also blicke ich auf. Er schaut mich kurz an, senkt dann den Blick aber wieder.
"Ich hasse dich nicht."
Das ist doch auch eine Lüge. Er muss mich hassen. Alles andere ergibt keinerlei Sinn.
"Wieso nicht?"
"Wieso sollte ich?"
"Ganz einfach. Weil ich ein Idiot, wenn nicht sogar ein Arsch war. Sieh dich an. Ich weiß, dass ich nicht an dem Tod deiner Eltern Schuld trage, aber es war meine Entscheidung, dich dann zu verlassen, wo es am schwierigsten war. Ich wusste zwar nichts davon, aber es ist deswegen keine Ausrede, weil der Grund für den Kontaktabbruch total kindisch war und nur entstanden ist, weil ich nicht mit mir umzugehen wusste. Weil ich die Situation damals unreif und unerfahren geklärt habe und vor etwas weggelaufen bin, das niemals eine Gefahr dargestellt hat. Weil ich meinen besten Freund aus selbstsüchtigen Gründen losgelassen habe. Deshalb sollst du mich hassen. Ich habe dich nur tiefer in das Loch gedrängt, statt dir zu helfen. Das sind deine Gründe, mich zu hassen. Ich bin dir nie eine Stütze gewesen, war nur eine Last, an die du dich geklammert hast."
Seine Mundwinkeln zucken ganz leicht, als hätte er versucht zu lächeln und es dann sein gelassen.
Dann schüttelt er leicht den Kopf.
"Ja, vielleicht. So siehst du das. Aber ich sehe das nicht so. Ich bin einfach zu sensitiv, es ist viel zur gleichen Zeit passiert, ich wurde immer tiefer in den Boden gestampft. Ich sehe die Schuld bei mir. Ich wusste zwar immer, dass ich dich brauche und dass ich dich nicht mehr habe, aber das hat mich nie dazu verleitet, die Schuld bei dir zu suchen. Wie könnte ich dich jemals hassen?"
"Immer und immer wieder ist es das Selbe. Ich mache einen Fehler und nie ist es meine Schuld, von wegen..."
"Du hast keinen Fehler gemacht, Tsukki. Ja, es tat weh. Ja, ich habe dich gebraucht und du warst nicht da. Aber ist es denn immer falsch, zuerst an sich selbst zu denken? Du lebst dein Leben, du musst für dich sorgen, für niemanden anders, du musst nicht soviel Rücksicht nehmen, nur weil ich es mir zu Herzen nehme. Du warst nur ehrlich."
Und schon wieder, eine Lüge.
"War ich nicht. Ich war nicht ehrlich. Ich war verklemmt, überrumpelt, unerfahren, unreif, nicht vorbereitet und lange nicht bereit. Aber am wichtigsten, ich habe nicht nachgedacht. Weder vorher, noch nachher, auch nicht dabei. Was ich gemacht habe, war nicht, ehrlich zu sein. Ich habe intuitiv gehandelt. Und intuitiv heißt, unangenehmen Situationen zu entfliehen, ohne nachzudenken. Den einfachsten Weg zu wählen. Mir selbst bloß keinen Schaden zukommen lassen. Doch wenn ich dabei eins gelernt habe ist es, dass wenn sich etwas für den Moment gut anfühlt, es nach der Zeit zu einer schweren Reue werden kann. Ja, Tadashi, ich habe einen Fehler gemacht. Aber ich bin nicht hergekommen, um darüber zu diskutieren, dass ich Schuld trage. Ich bin gekommen, um ein Problem aus der Welt zu schaffen und richtig zu stellen. Erstens bin ich hier, um mich zu entschuldigen. Dafür, dass ich die Sache so unstrukturiert und unbedacht angegangen bin. Dafür, dass ich wegen dieser Sache den Kontakt abgebrochen habe. Dafür, dass ich dir nicht zur Seite stand, wie ich es als Freund hätte müssen. Es tut mir Leid. Ich weiß, du willst es jetzt abstreiten, die Schuld wieder annehmen, aber wir schieben jetzt die Schuld sicherlich nicht immer hin und her. Bitte, nimm es einfach an oder nimm sie nicht an. Aber wenn du sie nicht annimmst, dann weil du mir nicht verzeihst, nicht, weil du mir die Schuld nicht geben willst. Es ist okay, Einsicht zu zeigen, selbst wenn man selbst dadurch keinen Schaden bekommt. "
"...Okay, ich nehme es an."
So einfach. So gottverdammt einfach. Man macht es mir wirklich immer leicht. Man unterstützt meinen Charakter immer weiter. Ich trage nie Schuld, obwohl es meine Schuld ist. Man verzeiht mir immer sofort. Wieso? Warum ist man nie wütend auf mich? Ich verdiene es nicht. Ich will das nicht. Ich will nicht immer verhätschelt werden. Es fühlt sich falsch an, als Schuldiger im Paradies zu baden und Unschuldige dafür brennen zu sehen. Es ist nicht mein Charakter, dass es mich freut. Ich mag kaltherzig sein, denke vielleicht an erster Stelle an mich selbst, aber ich bin nicht böse. Trotzdem bin ich noch lange kein guter Mensch und niemand sagt etwas. Es nervt.
"War es das jetzt?", fragt er unsicher, als wolle er, dass es endlich vorbei ist. Vielleicht fehlt ihm aber noch etwas und deshalb fragt er.
"Nein, das war es nicht. Du musst auch mal was sagen. Sag mir, was du fühlst, wie es dir geht, erzähl mir alles. Wir haben zwei Jahre nachzuholen. Wie kommt es überhaupt dazu, dass du hier bist?"
Vielleicht lockert es die Stimmung, wenn ich ihn mal reden lasse damit er sich nicht fühlt, als wolle ich ihn nur belehren um mit einem guten Gewissen wieder gehen zu können. Er soll wissen, dass ich es ernst meine. Ich habe nachgedacht. Ich weiß, wie wichtig er mir ist. Ich weiß, dass sich ein Freund anders zu verhalten hat. Und vorallem weiß ich jetzt, dass er das verloren gegangene Stück von mir ist. Dass seine Abwesenheit in mir diese tiefe Leere ausgelöst hat. Dass ich ihn doch an meiner Seite brauche. Dass er das Teil ist, das mein Haus zu einem Zuhause macht. Ich habe gemerkt, dass ich ihn bei mir will, er derjenige ist, mit wem ich einschlafen und aufwachen will, von dem ich mich verabschiede, auf wen ich mich freue, wenn ich nach Hause komme, mit dem ich esse, fernsehe, koche, lache, rede, weine. Ich möchte ihm alles geben, was ich ihn in den letzten Jahren nie geben konnte. Zeit, einen Ort, an den er immer zurückkehren kann, jemanden, der ihn bedingungslos liebt. Ja, ich gebe es zu, ich liebe alles an ihm, das er an sich hasst. Und wenn ich ihm das nicht in jeder Sekunde zeige und nicht nur dann, wenn ich ihn für irgendwas brauche, dann bin ich für ihn niemand, der ihm gut tut, niemand, der ihn verdient. Es wird Zeit dafür, dass unsere Beziehung endlich auf Gegenseitigkeit beruht und ich nicht vor so einfachen Sätzen zurückschrecke und Zuwendung bekomme, aber keine vergebe.
Und für diesen für andere so selbstverständlichen Aspekt habe ich zwei Jahre gebraucht.

"Na ja, irgendwann wurde es mir zu unsicher, noch zuhause zu leben, da es Menschen gab, die von meiner Adresse wussten und ich hatte irgendwann Angst davor, meine Identität preisgeben zu müssen. Außerdem wurde ich ja auch älter. Ich wollte eigentlich nie weg. Ich wollte meinen Vater nicht allein lassen, vor allem nicht wegen der Gründe, weshalb das so war. Wir waren dann irgendwann gemeinsam unterwegs. Ich habe mir geschworen, alles dafür zu tun, ihm zuerst aus dem Loch zu helfen, in das wir beide gefallen waren. Also habe ich oft etwas mit ihm unternommen. So kam es dazu, dass wir hier waren und etwas gegessen haben. Dabei haben wir das Thema aufgegriffen, dass es unsicher für mich sei, bei ihm zu wohnen. Klar, niemand wusste, dass ich derjenige war, der innerhalb so kurzer Zeit diese Durchbrüche hatte und ohne Identität berühmt wurde. Aber ich habe die Schule abgebrochen und habe keinen Job ausgeübt und zur selben Zeit wurde diese Person immer aktiver, einige kannten ja auch meine Stimme. Außerdem war ich nicht mehr sicher, ob dieses Geheimnis, von dem nur du wusstest, noch sicher war. Wegen unseres Streits hatte ich Angst, dass du es erzählst oder es vielelicht einfach ausversehen sagst. Jedenfalls kam dann die Bedienung zu uns, da sie uns zugehört hatte und bot mir an, ich könne ja einfach hier unterkommen. Ich wusste erst nicht, wieso ich das annehmen sollte, aber dann erkannte ich, dass das die Frau war, die gemeinsam mit meiner Mutter im Krankenhaus lag . Frau Shinsetsu hat damals ihre gesamte Familie verloren, das Café ging den Bach runter und wurde weniger besucht, da war das für mich die Gelegenheit. Ich konnte ihr Gesellschaft schenken, ihr unter die Arme greifen und hatte ein sicheres Zuhause, nicht allzuweit entfernt von meinem Vater. Sie war mein Mutterersatz, ich ihr Sohnersatz. So kam ich hierher."
Ich nicke verständnisvoll. Der Grund war für mich nachvollziehbar. Von mir aus hätte ich sein Geheimnis nicht preisgegeben, aber er hat Recht, es hätte mir einfach rausrutschen können und dann wäre es das für ihn gewesen. Aber um zurück in die Gegenwart zu kommen, er hat den mir mehr bedeutenderen Teil meiner Frage einfach nicht beantwortet. Das war vermutlich Absicht, aber da kommt er nicht drumherum.
"Auch, wenn du langsam redefreudiger wirst, sagt alles an dir alles andere aus, als dass es dir gut geht."
Er will gerade etwas automatisch sagen, aber wenn das so aus der Pistole geschossen kommt, lügt er.
"Du warst schon immer ein schlechter Lügner, versuch das gar nicht erst."
Dann ist er still. Als ich ihn ansehe, merke ich, dass trotzt seines flüssigen Redeflusses immernoch kein Leben in ihn widergekehrt ist. Er sieht noch immer abwesend, leer und tief verletzt aus. Diesem Jungen geht es nicht gut und ich sehe das. Das ist kein frischer Schmerz, der auf den Tod seines Vaters zurückzuführen ist. Das sind Schmerzen, die seit langer Zeit andauern. Und auch sehe ich, dass nicht jede momentanige Unvollkommenheit seiner körperlichen Kondition mit dem Leid seiner Seele begründet werden kann.
Er sinkt kraftlos auf den Boden, als hätte er bis jetzt all die Kraft zu stehen aufgebracht, um nicht schwach zu wirken und erst jetzt merkt er, dass er diese Lüge nicht aufrechterhalten muss, gar nicht mehr dazu imstande ist. Als hätte er gedacht "ich dachte schon, du fragst nie".
"Ich bin sehr, sehr müde.", seufzt er und legt seinen Kopf in seine Hände.
"Dann leg dich hin. Das ist okay für mich, ich werde hier einfach sitzen bleiben."
Bevor er etwas erwidern kann, stehe ich auf und helfe ihm hoch. Mir fällt sofort auf, dass seine Körpertemperatur ziemlich hoch ist. Ich lege meine Hand an seine Stirn und kann mit Sicherheit sagen, dass er Fieber hat.
"Du hast dich wohl erkältet. Kein Wunder bei dem Wetter."
Er scheint schon so wenig Kraft übrig zu haben, dass er gar nicht erst antwortet und kaum noch richtig steht. Sein Körper zittert und zuckt, sodass ich ihn stütze und irgendwie ins Bett schleife und dort zudecke. Von ihm höre ich dann kein Wort mehr. Ich prüfe zur Sicherheit, ob er überhaupt noch atmet, aber das tut er, also sollte ich mir wohl keine Sorgen machen. Oder doch? Die Aktion gerade war schon irgendwie komisch. Innerhalb weniger Sekunden ist er zusammengeklappt und ist nicht mehr ansprechbar. Ist er wirklich so schwach? Aber bei Grippen ist das doch normal... Oder? Dazu kommt diese Gewichtsabnahme. Er isst bestimmt zu wenig, daran liegt es wahrscheinlich. Ich könnte mich ja nützlich machen und was zu essen besorgen, das ich in ihn reinzwingen kann, wenn er aufwacht, aber mit einem Blick nach draußen merke ich, dass mittlerweile ein heftiger Schneesturm aufgezogen ist. In die Küche für den Privatgebrauch kann ich aber sowieso nicht gehen, also verwerfe ich die Idee. Ich zwinge ihn einfach, wenn er wieder wach ist. Er scheint Ruhe zu brauchen. In der Zeit sollte ich zusehen, dass ich eine leise Beschäftigung finde. Ich kann Tadashi ja nicht ewig beim Schlafen zusehen. Er ist ziemlich kurzatmig, er träumt sicher schlecht. Also lasse ich von ihm ab und schaue in den halb abgedunkelten Raum. Auf dem Schreibtisch springt mir sofort etwas buntes ins Auge. Als ich näher rangehe, sehe ich, dass es an mich adressiert ist. Da steht Tsukki drauf. Es ist frisch verpackt, kein Zweifel. Wenn es an mich verpackt ist, darf ich ja wohl daran gehen, oder? Ich bin neugierig, er schläft, ich habe Langeweile und es ist sowieso an mich adressiert, also spricht alles dafür. Na ja, zumindest suche ich nur nach den Gründen, die dafür sprechen. Aber ich kann mich so oder so nicht zurückhalten. Ich muss das jetzt öffnen. So gehe ich leise darauf zu, mache still die Verpackung wieder auf und greife mit meiner Hand in die kleine Pappschachtel, da ich durch die Dunkelheit nichts erkenne. Darin befinden sich zwei verschiedene Notizblock-Zettel. Der eine ist ziemlich ziemlich lang, der andere besteht nur aus ein paar Sätzen. Ich beschließe, mich zuerst mit dem Langen auseinander zu setzen. Und sofort bereue ich es auch. In diesem Schriftstück hat er all das niedergeschrieben, das ich von ihm hören wollte, als ich ihn fragte, wie er sich fühlt. Aber es ist nicht nur dieses halbe mentale Gesundheitsprotokoll, sondern auch das gesamte Ende des Briefes. Er entschuldigt sich, dankt mir tausende Male für die verschiedensten Dinge. Das geht mir doch näher, als ich je wollte. Einfach, weil es ungerecht ist. Er hat sich die Mühe gemacht, in einem Brief meine Aktionen gutzureden, mir meine Schuld abzunehmen, sich zu entschuldigen, mir zu danken und mir noch einmal zu sagen, dass er mich liebt, nur um nach zwei Jahren endlich zu leben, ohne es letztendlich zu können, während ich in all der Zeit nur mich selbst bemitleidet habe, viel zu spät begonnen habe, nachzudenken und mir selbst meine Schuld ausgeredet und seine Gefühle nur wort- und tatenlos erwidert zu haben, wo er sich jede Mühe gemacht hat. Er hat alles immer nur für mich getan. Meine Herzfrequenz steigt und meine Gliedmaßen beginnen zu zittern. Wenn meine Worte oder mein Gesichtsausdruck aussagelos sind, übernimmt mein Körper für mich gerne diese Arbeit und verrät meine Gefühle doch. Schließlich widme ich mich dem anderen kleinen Zettelchen und falte es mit zitternden Fingern auseinander. Doch das darauf geschriebene macht es nicht besser.

Eigentlich wollte ich nicht darüber reden. Davon sollte niemand erfahren, einfach wegen dem unnötigen Drama, falls es nicht so ist. Aber sollte es passieren, dass ich eines nicht allzufernen Tages sterbe, dann war das kein Unfall und auch kein Selbstmord. Ich habe einen Tumor, Kei. Ich erzähle es dir nicht der Aufmerksamkeit wegen, sondern damit du Gewissheit hast. Es ist zwar eine Selbstdiagnose, aber ich bin sehr sicher. Ich kann ihn fühlen und ich weiß, dass er irgendwo am Herz ist. Aber es gibt keinen Grund, ihn behandeln zu lassen, niemanden mehr, für den es sich lohnen würde, weiterzuleben. Deshalb habe ich nichts unternommen. Also, falls du das je lesen solltest, wirst du mit mir abgeschlossen haben, deshalb ändere deine Meinung nicht und versuche nicht, mir wegen deinem schlechten Gewissen zu helfen. Tut mir Leid, dass du es auf diese Weise erfährst.

Meine Hand schnellt in meine Hosentasche. Ich brauche mein Handy.
Das war kein Erkältungsanfall, keine Schwäche und auch keine Unterernährung, weswegen er nicht mehr ansprechbar ist. Das würde auch das Fieber, die kurze Atmung, die Gewichtsabnahme und die extreme Schwäche erklären. Ich kann nicht einschätzen, ob er in Lebensgefahr ist, ich kenne mich mit sowas absolut nicht aus, aber mit einem Tumor geht man in jedem Falle ins Krankenhaus. Ich muss einen Arzt rufen, noch kann ich ihn retten, falls es so sein sollte. Noch ist es nicht zu spät, ich weiß, dass ich ihm noch helfen könnte. Die Nummer ist gewählt, es tutet eine Zeit lang, dann geht jemand ran. Hektisch stehe ich auf und erkläre stotternd, worum es geht und gebe die Erklärung nach zehn Sekunden auf, verlange nach einem Krankenwagen und nenne dann noch die Adresse, ohne den Zuhörer überhaupt Möglichkeit zu geben, etwas zu sagen. Es muss jetzt schnell gehen. Ich hasse mich dafür, dass ich in einer so wichtigen Situation nicht ruhig bleiben kann, aber was soll ich tun, die Angst steuert Kopf und Körper.
"Guter Herr, Sie befinden sich drei Straßen vom Krankenhaus entfernt. Bitte bringen Sie Ihren Freund doch her, wegen des Schneesturmes ist es kaum möglich, mit dem Rettungswagen zu fahren. Ich erkenne keine Lebensgefahr bei dem Patienten, da Sie sagten, dass er atmet und sein Herz schlägt. Bevor es zu Unfällen im Straßenverkehr kommt, werden wir die Gefahr nicht riskieren, schließlich ist Ihr Freund nicht in akuter Lebensgefahr, außerdem ist er nicht schwerverletzt und es müssen keine Verletzungen behandelt werden und der Patient ist nicht laufunfähig. Beruhigen Sie sich, der Patient wird innerhalb dieser zehn Minuten Fußweg nicht sterben."
Ich drücke wortlos auf "auflegen". Ich kann mich jetzt nicht beruhigen und dieses Gerede macht mich fertig. Wenn sie ihn nicht holen, muss ich ihn bringen. Scheinbar bin ich der Einzige, der den Ernst der Lage zu erkennen scheint. Ich eile zu ihm ans Bett, schlage die Decke zur Seite und rüttele an seiner Schulter. Als er davon nicht aufwacht, steigt meine Herzfrequenz noch weiter an. Es geht ja nicht anders, dann muss ich ihn tragen. So packe ich mit rechts unter seinen Oberkörper und mit links in seine Kniebeugen, dann hebe ich seinen fast leblosen, leichten Körper hoch und merke, dass ich ihn so nicht tragen kann. Er ist doch etwas zu schwer, um das Gewicht so lange zu halten. Also setze ich ihn wieder ab und nehme ihn, so gut es geht, Huckepack. Er wird davon wach, das macht es einfacher, da er sich so aus eigener Kraft festhalten kann. Dann, ohne Erklärung, eile ich die Treppe runter, so gut es denn mit knapp 60 Kilo auf dem Rücken geht. Um einen Aufruhr zu vermeiden, nehme ich die Hintertür des Cafés nach draußen. Sobald die Tür aufgeht schießt uns eine stechende Kälte entgegen, welche ich sofort auf meiner erhitzen Haut spüre. Meine Augen beginnen zu brennen und fühlen sich trocken an, wie doll er frieren muss, daran darf ich jetzt erstmal nicht denken. Es ist mir wichtiger, ihn erstmal irgendwie in ärztliche Obhut zu bringen, egal, wie ernst es denn letztendlich um ihn steht. Er soll untersucht werden, ihm soll geholfen werden, denn egal, was ich tue, er wacht nicht für lange Zeit auf. Für mich steht fest, dass ich ihn nicht verlieren werde. Nicht an diesem Abend. Nicht, solange ich etwas dafür tun kann.

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