Kapitel 23 • Anthoine Hubert
Spa, 31. August 2019
Emotionslos stocherte ich in meinem Abendessen herum und konnte einfach nicht begreifen, was geschehen war. Immer und immer wieder sah ich vor meinem inneren Auge den Unfall des Formel 2 Rennens. Dann tönte die Stimme von Claire durch meinen Kopf, als sie mir und Robert die erschütternde Nachricht überbrachte. ,Anthoine Hubert ist im Krankenhaus seinen Verletzungen erlegen', hatte sie uns mitgeteilt, bevor sie uns noch professionelle psychische Hilfe angeboten hatte, falls wir diese benötigten. Dabei hatte ich ihren Blick auf mir gespürt und mir war bewusst, dass das Angebot mehr an mich gerichtet war.
Anthoine war 2017 einer meiner Teamkollegen bei ART Grand Prix gewesen, gemeinsam mit Jack und Nirei hatten wir die GP3-Serie aufgemischt. Dadurch hatten wir uns schnell angefreundet und auch immer mal wieder etwas gemeinsam gemacht. Als ich den Unfall gesehen hatte, war ich geschockt gewesen, aber niemals hätte ich gedacht, dass er es nicht schaffen würde. Nun merkte ich, wie sich dieses perfekte Bild des Rennsports, das wohl jeder Fahrer seit der Einführung des Halos hatte, auflöste. Wir hatten gedacht, dass durch den Halo keine Fahrer mehr sterben würde. Wir lagen so falsch...
Sobald ich die Nudeln auf meinem Teller anblickte, wurde mir schlecht, weswegen ich sie schlussendlich wegschob. Ich würde sowieso nichts herunterbekommen. Auch mein Trainer neben mir kämpfte mit seinem Essen, im Gegensatz zu mir zwang er sich jedoch etwas rein.
Seit diese Nachricht den Paddock erreicht hatte, war es überall merkwürdig still, da jeder trauerte und seinen Gedanken nachhing. Im Team wurde nur gesprochen, wenn es wirklich sein musste, aber dann auch nur ganz leise, um die Trauer nicht zu unterbrechen. Größtenteils wurde aber durch Mimik und Gestik kommuniziert, was mir mehr als nur Recht war, denn mein Hals war trocken und ich fürchtete, dass ich keinen gescheiten Satz herausbringen könnte, wenn jemand mit mir ein Gespräch anfangen würde.
Ich holte mein Handy und blickte auf die Nachricht, die mir Lando schon vor mehreren Stunden geschickt hatte. ,Willst du zu uns kommen?', lautete sie. Nachdem ich sie zuerst ignoriert hatte, da ich nicht wirklich wusste, was ich fühlen sollte, würde ich ihm jetzt antworten. Wollte ich jetzt bei meinen Freunden sein oder nicht? Wollte ich überhaupt noch irgendwas machen heute?
Nun hatte ich eine Entscheidung getroffen und schrieb ihm zurück, dass ich gleich losgehen würde, bevor ich mich erhob, um mein Tablett wegzubringen. Ein Blickaustausch mit Aleix reichte, damit er verstand, dass ich nun meine Freunde aufsuchen würde. Er schenkte mir noch ein letztes bedauerndes Lächeln, dann verließ ich die Cafeteria.
Im Paddock war es immer noch genauso still wie nach dem Unfall. Ein paar Journalisten waren noch da, allerdings ließen sie mich in Ruhe, ohnehin war ich mir nicht ganz sicher, ob sie mich überhaupt wahrgenommen hatten. Somit konnte ich ungestört das McLaren Motorhome betreten, wo es genauso leise war wie bei uns. Ein Mitarbeiter lief an mir vorbei und legte kurz ein Hand auf meine Schulter. Es war eine fast schon freundschaftliche Geste, die auf keinen Fall normal war, aber was war schon normal heute? In dem Moment waren wir alle einfach eine große Familie.
Langsam lief ich zu Landos Fahrerzimmer, in welchem ich dieses Wochenende schon mehrmals gewesen war, und öffnete die Tür. Der Brite hatte seinen Kopf auf die Schulter seines Freundes gelegt, während beide einfach nur vor sich herstarrten. Als ich eintrat, versuchte Lando mich anzulächeln, scheiterte dabei jedoch kläglich.
Zwar hatte der Jüngere Anthoine nur flüchtig gekannt, aber darum ging es heute nicht. Es war ganz egal, wie gut man Anthoine gekannt hatte, wenn man Teil des Motorsports war und so etwas geschah, nahm es jeden mit. Manche vielleicht stärker als andere, aber gerade uns Fahrer traf es mit am härtesten, denn schlussendlich waren wir diejenigen, die wieder in das Auto steigen und uns somit in diese Lebensgefahr begeben würden.
Ich ließ mich gegenüber von der Couch an der Wand heruntergleite und stellte meine Beine auf. Immer noch hatten wir kein Wort gesagt, denn es gab nichts, was wir hätten sagen können. Die Stimmung konnte man einfach nicht beschreiben, jetzt wollte man nur noch bei den Leuten sein, die man am meisten liebte.
Bei diesem Gedanken schoss mir Eileen durch den Kopf. Ob sie wohl von dem Unfall mitbekommen hatte? Vielleicht würde ich mich später bei ihr melden, aber gerade war mir gar nicht danach, da sie es nicht verstehen würde. Das war kein normales Trauern, was hier abging, sondern etwas viel Tiefgreifenderes. Als außenstehende Person konnte man das unmöglich erfassen.
Keine Ahnung, wie lange wir einfach nur schweigend im Zimmer saßen, aber irgendwann klopfte es leise, woraufhin Zak den Kopf hereinsteckte. Als er mich erblickte, lächelte er gezwungen. „Hey, ihr drei. Wie geht es euch?", wollte er fürsorglich wissen.
Weder Lando noch ich konnten etwas sagen, was Carlos wohl auch bemerkte, weswegen er das Reden übernahm. „Ziemlich schlecht", gab er zu und ich musste traurig lächeln, da diese Worte nicht ansatzweise meinen Gefühlsstatus beschrieben.
„Ich wollte euch nur mitteilen, dass die FIA eben bekannt gegeben hat, dass das Rennen morgen nicht ausfallen wird, tut mir Leid", seufzte er leise. „Wenn euch etwas auf dem Herzen liegt, könnt ihr jederzeit in mein oder Andreas' Büro kommen. Ich hoffe, das wisst ihr." Diese Worte richteten sich vor allem an seine beiden Fahrer, aber dann blickte er zu mir und meinte überraschenderweise: „Das gilt auch für dich, George. In solchen Zeiten müssen alle Teams zusammenhalten."
Ich brachte nur ein schwaches Nicken zustande, auch wenn ich gerne mehr gesagt hätte. Es war rührend, dass Zak dies sagte, vor allem, weil McLaren irgendwie ein Teil meiner Vergangenheit war. Bei ihnen hatte ich zum ersten Mal in 2014 eine Formel-1-Testfahrt gemacht, wofür ich ihnen auf ewig dankbar war.
Der McLaren-CEO verließ das Zimmer wieder, woraufhin wieder Ruhe eintrat, bis Lando sie durchbrach. „Ich verstehe nicht, warum sie das Rennen nicht absagen", hauchte er mit zittriger Stimme. „Haben die eigentlich eine Ahnung, wie wir uns dabei fühlen?"
„Vermutlich nicht", gab ich verbittert zurück. „Sonst hätten sie es ja wohl getan."
Damit wurde es erneut still. Lando kuschelte sich noch näher an Carlos heran, der ihm zärtlich durch die Haare fuhr, und schloss die Augen. Ich wollte es ihm gerade gleich tun, als sich die Tür ein weiteres Mal öffnete.
Ein Schauer lief mir über den Rücken, als ich in die glasigen Augen von Alex blickte. Der Ältere erwiderte meinen Blick und flüsterte: „Sorry, ich gehe wohl besser wieder."
Er wollte sich schon umdrehen, als ich diese Handlung unterbrach. „Bleib", bat ich ihn leise. Überrascht drehte er sich zu mir zurück, ehe er leicht nickte und eintrat. Kurz darauf ließ er sich mit einem gewissen Abstand neben mir nieder. Kraftlos lehnte er an der Wand und fuhr sich durch die Haare. Dabei rutschten die Ärmel seines Pullovers etwas hoch, was seinen Unterarm freilegte.
Geschockt betrachtete ich die blauen Flecke, die seine Haut bedeckten, und ruckartig wurde ich aus meinen Gedanken rund um Anthoine gezogen. Was zur Hölle war das? Niemand konnte mir sagen, dass das normal war!
Ich schluckte schwer, als ich meinen Blick abwandte. Die Blutergüsse sahen aus wie Fingerabdrücke, als hätte jemand ihn deutlich zu fest an den Armen gehalten. Könnte das Jack gewesen sein? Nein, oder? Das würde Alex doch niemals zulassen. Aber wer war es dann? Jemand aus seinem Team? Oder ein Fremder? War ihm irgendetwas geschehen? Vielleicht hatte ich mich ja auch verguckt und es waren doch ganz normale blaue Flecken? Dann wiederum: Alex war kein tollpatschiger Mensch. Es kam natürlich mal vor, dass er sich irgendwo stieß oder mal mit einem Messer abrutschte, aber was musste man bitte tun, um so viele blaue Flecken auf dem Unterarm zu haben, die dann auch noch fast alle im gleichen Abstand waren? Es glich viel zu sehr Abdrücken von Fingern, als dass es einfach nur ein Unfall hätte sein können.
Wenn Jack wirklich dafür verantwortlich war, dann würde er einiges von mir zu hören bekommen. Für mich stand auf jeden Fall fest, dass ich mit Alex darüber reden musste. Nicht dieses Wochenende, denn da war schon genug geschehen, aber unbedingt nächstes.
Natürlich würde er nicht mit der Wahrheit herausrücken und mich vielleicht sogar von sich weisen, das war mir bewusst. Ich plante jedoch nicht damit, mich abschütteln zu lassen, denn es gab kein Stoppen gegen mich, wenn Jack Alex misshandelte. Da war es auch ganz egal, ob ich nun gerade sein bester Freund war oder eben nicht, denn ich liebte ihn immer von ganzem Herzen. Ob freundschaftlich oder darüber hinausgehend, sei mal dahingestellt. Alles was zählte, war, dass ich nicht wollte, dass die Personen, die ich über alles liebte, verletzt wurden, und zu diesen Personen zählte der Ältere schon fast mein ganzes Leben lang.
R.I.P. Anthoine Hubert🖤
Kommentar von dreaming_t :
[aber Gefühle hast du trotzdem nicht für Alex, huh? Bitte mach Jack einen Kopf kürzer für das, was er Alex antut. My poor baby... :(( Auch wenn das Kapitel wirklich traurig ist, hast du es schön geschrieben.💘 Rest in peace Anthoine<3]
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