Kapitel 7

Am Morgen stehe ich besonders früh auf und beeile mich, um meiner Mutter möglichst aus dem Weg zu gehen. Außerdem trage ich einen Hoodie und setze die Kapuze erst wieder ab, nachdem ich aus dem Haus bin.
Komischerweise ist es mir egal, was die Passanten denken.
Erst, als ich an der Schule ankomme, habe ich plötzlich etwas Angst, wie meine Klassenkameraden reagieren könnten. Trotzdem setze ich die Kapuze nicht wieder auf, schließlich sind meine Haare nichts, wofür ich mich schämen sollte.

Und siehe da, meine Angst war wirklich unbegründet. Einige der Mädchen sagen, es würde mir gut stehen, aber der Rest der Klasse gibt nicht einmal einen Kommentar ab. Sogar als ich mir das letzte Mal die Spitzen habe schneiden lassen, gab es ein größeres Drama.

In den ersten beiden Stunden haben wir heute Religion, aber momentan machen wir ausschließlich Ethik, was den Unterricht viel besser macht. Es ist zwar auch wichtig, über Religionen zu lernen, aber die ganzen letzten Jahre über haben wir immer das gleiche durchgekaut. Christentum, Judentum, Islam - aber nie auch nur ansatzweise interessante Informationen über die drei Weltreligionen.
Wie dem auch sei, heute werden wir nach dem Religionsunterricht unsere Halbjahreszeugnisse bekommen und wieder gehen dürfen.

Wie so oft streiten sich die Jungen in meiner Klasse in der kurzen Pause zwischen den Stunden. Unsere Lehrerin holt sich einen Tee und deshalb sind wir kurz alleine, was man 14- bis 15-Jährigen ja auch zutrauen können sollte. Aber nicht allzu selten fühlt man sich, als wäre das hier noch ein Kindergarten. Zum Glück bin ich inzwischen ganz gut darin, die anderen auszublenden - meistens.

„Alter du bist so schwul!"

Solche Bemerkungen haben mich schon immer auf die Palme gebracht, weil ich mich dadurch immer teilweise persönlich angegriffen fühle, und das sogar schon, bevor ich mich als queer gesehen habe.
Ich öffne den Mund, um Niklas zurechtzuweisen, aber bevor ich einen Ton herausbekomme, sagt Louis selbst etwas. Anscheinend war er gerade gemeint.

„Na und? Ist was falsch daran? Alter, du bist ja sooo straight", erwidert er sarkastisch und verdreht die Augen.
Daraufhin herrscht erst einmal Stille, in der Louis realisiert, was er gerade gesagt hat.

Frau Deters kommt wieder in das Klassenzimmer.
„Ist etwas passiert? Normalerweise seid ihr nicht so leise."
Noch immer sagt niemand etwas.
„Gut, egal. Unser nächstes Thema ist übrigens Diskriminierung und sexuelle Identität. Was wir jetzt machen, zählt schon in die Note für das zweite Halbjahr, also arbeitet bitte konzentriert mit."

Weil sich immer noch niemand traut etwas zu sagen, fängt Frau Deters mit dem Unterricht an.
„Ich habe mir gedacht, dass wir zum Einstieg eine Schätzaufgabe über den Anteil von queeren Personen machen könnten. Wenn alle einverstanden sind, könnten wir auch anschließend eine anonyme Umfrage in der Klasse machen. Ist jemand dagegen? Falls ja, sagt das bitte, daran ist nichts schlimmes." Niemand meldet sich. „Schön, möchte jemand eine Schätzung abgeben?"
Sophie hebt ihre Hand: „Ich würde sagen, eine Person in unserer Klasse ist queer."
Zögerlich melde ich mich auch zu Wort. „Ich würde eher zwei schätzen."
„Ich auch", sagt Louis.

Nachdem jeder eine Zahl zwischen 1 und 4 gesagt hat, dürfen wir über unsere Smartphones auf eine Internetseite für anonyme Umfragen gehen. Wir sollten extra heute alle unsere Handys mitbringen. Auf der Seite gibt es zwei Auswahlmöglichkeiten: cis + hetero und queer.
„Cis bedeutet, dass man sich dem Geschlecht zugehörig fühlt, dem man von Körper her zugeordnet wurde und hetero heißt, dass man als Frau Männer liebt und anders herum. Alle anderen Geschlechter und Sexualitäten sind unter queer zusammengefasst", erklärt unsere Lehrerin kurz. „Wer sich überhaupt nicht sicher ist oder doch nicht mitmachen möchte, enthält sich bitte einfach. Niemand kann sehen, wer was antwortet."

Von den 27 Personen haben exakt drei queer angegeben und ich bin mir sicher, dass ich von zweien davon weiß, wer sie sind. Allerdings sind auch nur 26 Stimmen abgegeben worden.

„Ich möchte noch einmal ausdrücklich darauf hinweisen, dass niemand sich für seine Gefühle schämen muss und, unter meiner Aufsicht, definitiv nicht deswegen benachteiligt wird. Auch sonst seid bitte tolerant und verwendet Adjektive wie schwul und behindert nicht als Schimpfwörter, denn das sind sie nicht. Und auch nicht als Witz. Alle Geschlechter und Sexualitäten sind gleich normal, auch wenn manche vielleicht seltener sind. Die Umfrage war dazu gedacht um euch zu zeigen, dass längst nicht jeder heterosexuell und cis ist und dass man niemandem deren Sexualität und Geschlecht ansehen kann."

***

Anders als in den letzten Jahren wird nicht mehr so ein großes Theater um die Zeugnisausgabe veranstaltet, worüber ich auch froh bin. Abgesehen davon, dass es einfach weniger unnötiges und langweiliges Trara gibt, kommen wir so auch schneller nach Hause.
Ich überfliege meine Noten, die meisten sind Zweien oder Dreien. Eine Vier ist dabei, aber auch zwei Einsen. Nicht das beste Zeugnis, aber immerhin etwas besser als mein letztes, wo ich einen Schnitt von exakt 2,5 hatte.

Ich habe etwas Angst, wie meine Mutter mich wohl empfangen wird und bin deshalb besonders auf der Hut. Allerdings scheint sie in ihrem eigenen Zimmer zu sein, weshalb ich glücklicherweise nicht direkt mit ihr reden muss.
Vor meiner Zimmertür liegt ein beschriebenes Blatt Papier. Ich schließe die Tür hinter mir und setze mich mit dem Brief in der Hand auf das Bett.

Hey Charlie,
Es tut mir leid, wie ich gestern reagiert habe. Wenn du innerlich ein Junge sein möchtest, ist das in Ordnung. Es war nicht richtig von mir, das als Phase abzutun. Vielleicht ist es das ja doch nicht und du wirst für immer so sein. Ich habe dir nicht die Aufmerksamkeit geschenkt, die du gebraucht hättest. Ich kann verstehen, warum du weggelaufen bist. Ich möchte gerne für ich da sein und dich unterstützen. Du kannst immer zu mir kommen und mit mir sprechen.
Von deiner Mutter, die dich liebt ♡

Ich bezweifle immer noch, dass sie mich auch nur ansatzweise versteht. Zunächst einmal bin ich kein Junge, aber okay, das weiß sie nicht. Trotzdem, wenn ich ein trans Junge wäre, dann würde ich nicht innerlich einer sein wollen, sondern wäre schon einer. Außerdem ist der ganze Text so formuliert, als wäre sie enttäuscht von mir und sich. Vielleicht wäre ich ja doch für immer so. Sie hätte mir nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt. Warum kann sie nicht verstehen, dass das Geschlecht keine Krankheit oder ein Erziehungsfehler ist?

Ich könnte zu ihr gehen und mit ihr reden, wie sie ja will. Aber ich habe weder Lust auf eine Diskussion, noch, dass sie mir wieder vermittelt, es sei falsch. Ich bin genderflux und stehe auf Mädchen und daran ist niemand Schuld, weil es vollkommen richtig ist. Punkt. Meine Mutter sollte definitiv an meiner Stelle in Frau Deters' Unterricht gehen.
Nichtsdestotrotz bleiben in meinem Inneren Zweifel. Vor einem knappen Jahr habe ich mir endlich voll und ganz eingestanden, queer zu sein und es nicht selber, unbewusst wie bewusst, als Phase zu sehen. Manchmal kommen in mir aber Gedanken hoch, wie dass ich mir nicht sicher sein könnte oder eben wie jetzt, dass meine Mutter vielleicht Recht haben könnte. Ich weiß, dass es rein rational keinen Grund gibt, das zu glauben.
Nur sind Gefühle und Gedanken nicht immer leicht zu kontrollieren.

Um mich abzulenken schreibe ich Freya.

„Hey ^^"
„Hi :)"
„Hast du morgen vielleicht Zeit, was mit mir zu machen?"
„Naja, wenn du Marvelfilme magst ja. Ich habe nämlich schon Kinokarten. Du könntest aber mitkommen wenn du möchtest, ich habe nämlich eine über, weil mein Vater doch nicht mit will."
„Ja, das wäre voll cool! Welcher Film ist es denn?"
„Infinty War
im April soll die Fortsetzung rauskommen"
„Cool, ich habe den Film tatsächlich noch nicht geguckt, obwohl ich Marvelfan bin. Soll ja n riesen Cliffhanger sein und ich will nicht zu lange auf die Auflösung warten müssen 😅"
„Haha genau das war auch mein Grund 😂"
„😂❤ Wann ist denn die Vorstellung?"
„Morgen um 13 Uhr fängt der Film an :)"
„Gut, ich komme dann bei dir vorbei, ok? <3"
„Ok 💞"
„Ach so, wenn meine Mutter es erlaubt, könnte ich dann vielleicht bei dir übernachten? Ich könnte Filme und Chips mitbringen und dann machen wir es uns gemütlich"
„gerne! ❤ Dann bis morgen?"
„Bis morgen 😘"
„😘"

„Mama?", frage ich und klopfe zögerlich an ihre Tür.
Ich habe nicht vor, ihr meine Gefühle zu erklären, zumindest nicht jetzt. Ich werde sie nur fragen, ob ich mit Freya und Kino darf und einmal sagen, dass alles gut ist.
„Komm rein! Charlie, es tut mir wirklich leid, das gestern. Ist alles gut?", fragt meine Mutter mich und ich kann nicht einordnen, ob sie wirklich besorgt ist.
„Ja, mir geht es gut. Ich wollte nur fragen, ob ich morgen mit Freya ins Kino darf."

Mit einem leicht überraschten Blick sagt meine Mutter: „Klar. Brauchst du Geld für die Karte?"
Ich bin erleichtert, dass sie es einfach so hinnimmt. Vielleicht fühlt sie sich tatsächlich schuldig und möchte mir jetzt mehr Freiraum geben?
„Nein, sie hat noch ein Ticket über. Kann ich danach bitte noch bei Freya übernachten?"

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