Kapitel 5
Als ich am Dienstagmorgen aufstehe, merke ich direkt, dass ich wieder nicht weiblich sondern eher agender bin. Ich ziehe mir einen der weitesten Hoodies an, die ich habe und dazu eine einfache Jogginghose, wodurch meine Figur wenigstens teilweise kaschiert wird. Trotzdem bin ich nicht wirklich glücklich mit meinem Aussehen, vor allem meine Haare nerven mich. Das tun sie immer, aber an solchen Tagen wie heute regen sie mich nicht nur auf, weil sie im Weg sind, sondern weil sie so aussehen, wie sie es nunmal tun. Ich meine, sie sind schulterlang und rosa. Was zur Hölle habe ich mir nur gedacht, als ich sie so gefärbt habe?
Ich weiß, ich weiß, jeder darf lange, rosafarbene Haare haben. Ich habe auch nichts dagegen, wenn ein Junge sie so trägt. Aber ich fühle mich persönlich damit trotzdem zu stereotypisch-weiblich. Am liebsten würde ich mir auf der Stelle sofort eine Schere nehmen und sie alle abschneiden.
Noch bevor ich frühstücken gehe, suche ich im Internet schnell nach "Kurzhaarfrisuren Frau". Obwohl ich natürlich keine richtige Frau bin, will ich einfach vergleichbare Bilder sehen und vielleicht endlich mit einer konkreten Idee zum Friseur gehen. Vor ein paar Monaten wollte ich mir schon einen Pixie schneiden lassen, aber hatte dann doch zu große Angst, vielleicht wird es diesmal etwas. Es ist mir dabei ziemlich egal, dass meine Mutter mich voraussichtlich dafür töten wird.
Schnell finde ich Bilder von Frauen, die ihre Haare auf wenige Millimeter bis Zentimeter kurz geschnitten haben und es sieht einfach bei allen wunderschön und androgyn aus! Spontan beschließe ich, dass ich definitiv die gleiche Frisur haben möchte, am liebsten möglichst bald.
Für's erste begnüge ich mich aber mit einem Pferdeschwanz und gehe in die Küche, um mir ein Müsli zu machen.
„Guten Morgen, Schatz!", begrüßt meine Mutter mich.
„Morgen", antworte ich lustlos.
So früh bin ich schlichtweg nicht zu gebrauchen. Entweder man wartet eine Stunde, bis ich richtig wach bin, oder man gibt mir einen Kaffee, aber keinesfalls sollte man aktive Beteiligung von mir erwarten. Unter der Woche werde ich zum Glück auf dem Schulweg wach, am Wochenende verziehe ich mich hingegen häufig direkt wieder in mein Zimmer.
***
An der Schule angekommen sehe ich Freya wieder und muss direkt lächeln. Wir haben beschlossen, unsere Liebe vorerst geheim zu halten, aber darauf habe ich schon jetzt keine Lust mehr.
In den ersten beiden Stunden haben wir Sport und zwar klassenübergreifend. Es gibt zwei Jungengruppen und zwei Mädchengruppen, die in verschiedenen Hallen verschiedenen Unterricht haben. In meine Gruppe geht, wie es der Zufall so schön will, unter anderem Freya.
Nein, ich gaffe nicht beim Umziehen, nur weil ich nicht hetero bin. Schon alleine deswegen, weil es extrem unangebracht wäre.
Außerdem finde ich erstens sowieso nicht jede x-beliebige Person attraktiv und zweitens bin ich sowieso so, dass ich mich meistens möglichst schnell und wenig umziehe und dann den Raum verlasse. Es ist nunmal etwas völlig anderes, ob eine Schauspielerin in einem Film heiß aussieht, oder ob ich mit Klassenkameraden in der Umkleide stehe.
Tatsächlich fühle ich mich in der Umkleide immer sehr unwohl und habe sogar einen Anflug von Angst - vielleicht weil ich unterbewusst denke, dass man mir meine Sexualität anmerken könnte.
Ich muss aber zugeben, dass mein Blick heute ganz kurz zu Freyas Gesicht huscht, vielleicht für eine Millisekunde.
Ich habe mir meine Sportkleidung schon Zuhause angezogen, sodass ich meine Sachen erst nach der Doppelstunde wechseln muss. Zum Glück haben wir im Moment Tischtennis, dabei schwitzt man nicht ganz so sehr wie bei manchen anderen Sportarten. Anstrengend ist es trotzdem, aber man muss wenigstens nicht die ekelhaften Duschen benutzten. Was zwar auch sonst niemand tut, aber so kommt man doch deutlich angenehmer durch den Tag.
***
Meine Mutter hat heute einen wichtigen Termin, wie sie sagt. Ich denke eher, sie versucht ihr Singledasein endlich zu beenden. Momentan ist mir das aber relativ egal, Hauptsache ich bin allein Zuhause.
Ich beschließe, zum Zeitvertreib etwas mit Freya zu schreiben und ihr von meinen Haarplänen zu erzählen.
„Hey Freya <3"
„Hi, was geht? 💕"
„Bin allein Zuhause und habe Langeweile XD"
„Haha ich auch. Meine Eltern arbeiten beide noch."
„Du musst mich mal beraten: Ich überlege schon seit Längerem, mir kurze Haare schneiden zu lassen. Wie findest du diese Frisur?"
Dann lade ich ein Bild von einer Frau mit Buzzcut hoch.
„Wow das würdest du wirklich machen? Ich denke, es würde dir wirklich gut stehen! ❤"
„Echt? Ich möchte es unbedingt, aber habe noch ein kleines bisschen Angst, vor allem, wie meine Mutter denken wird. ☠"
„Also ich find's echt cool. Außerdem kann Ich mich keine Frisur vorstellen, die dir nicht steht <3"
„Danke ❤
Ich würde es am liebsten jetzt gleich machen, bevor ich es mir anders überlege."
„Wieso nicht? Eigentlich könnte man sich das auch einfach selber schneiden, oder? Wenn du willst, kann ich eben vorbei kommen ^^"
„Jaaa! Kannst du einen Rasierer mitbringen? Ansonsten wird das nämlich schwer 😂"
„Ja, mein Vater hat tatsächlich neulich einen neuen gekauft. Noch unbenutzt. Weißt, wie man das Ding bedient?"
„Vielleicht weiß Google das ja 😂 so schwer kann das aber ja wohl nicht sein"
„😅 Ok, ich bin dann in 15 Minuten da. Bist du dir sicher?"
„Ja 💕"
Als Freya mit dem Rasierer an der Tür steht, bin ich plötzlich doch sehr aufgeregt, bis jetzt war es nur so ein Gedanke. Aber ich bin mir trotzdem sicher, dass ich es durchziehen will.
Im Badezimmer habe ich schon eine Schere, einen Handfeger und ein Kehrblech bereitgelegt.
„Ich denke, wir sollten die Haare zuerst etwas kürzen", sage ich unsicher und greife die Schere. „Soll ich sie einfach abschneiden?"
Hilfesuchend gucke ich Freya durch den Spiegel an.
„Charlie, wenn du kurze Haare haben möchtest, dann mach es! Es wird hundertprozentig super aussehen! Und selbst wenn nicht, das Zeug wächst doch wieder nach und bis dahin könntest du zur Not eine Mütze oder Snapback tragen."
Aufmunternd lächelt sie mir zu und gibt mir damit den entscheidenden Impuls.
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