Kapitel 2

Obwohl ich letzten Abend ausnahmsweise keine Einschlafprobleme hatte, fühle ich mich am Morgen überhaupt nicht erholt. Nur mit größter Mühe kann ich meine Augen auch nur einen Millimeter öffnen, so müde bin ich. Gleichzeitig will ich aber auch nicht weiterschlafen, meine gestrigen Sorgen haben mich bis in meine Träume verfolgt und würden das bestimmt auch weiterhin tun. In ihnen wurde ich von meiner Klasse ausgeschlossen und gemobbt, und das nur wegen meiner sexuellen und geschlechtlichen Identität.

Und wenn ich jetzt an die Träume denke, was wie von selbst geschieht, fühlen sie sich beinahe realer an als Erinnerungen an die Wirklichkeit. Immer wieder sehe ich meine Mitschüler vor mir, wie sie mich auslachen und über mich lästern, weil ich kein normales Mädchen bin. Natürlich sind die Bilder nicht echt, doch sie wollen mich einfach nicht loslassen.

Die Erinnerungen an die Scheinwirklichkeit letzter Nacht vermischen sich mit echten von vor ein paar Jahren. Statt meiner jetzigen Klassenkameraden sind da meine ehemaligen Grundschulfreunde, die sich plötzlich alle von mir abwenden und über mich lachen, nur weil ich plötzlich keinen Vater mehr habe. Als wäre meine Welt nicht schon genug zusammengebrochen, als er ohne Vorwarnung abgehauen ist, nein, natürlich musste ich danach zur Außenseiterin werden.
Nie wieder will ich das erleben müssen, selbst wenn ich dafür mein wahres Ich verstecken muss.

Aber es ist doch besser geworden, es ist vorbei, sage ich mir selbst.
Mit dem Eintritt ins Gymnasium hat sich meine Klassensituation glücklicherweise geändert, ich habe neue Leute kennengelernt und bin jetzt wenigstens nicht mehr die einzige, deren Eltern nicht zusammenleben.
Der einzige, dessen Eltern, verbessere ich mich gedanklich probeweise. Wenigstens im Kopf kann ich ausprobieren, für mich andere Pronomen zu verwenden. Und um ehrlich zu sein, obwohl es ungewohnt ist, fühlt es sich so viel besser an. Vielleicht finde ich ja irgendwann andere Menschen, die mich akzeptieren können, vielleicht wird irgendwann alles gut.
Mein Wecker klingelt zum zweiten Mal und zwingt mich damit, endlich aufzustehen.

Obwohl ich mir erst Sorgen gemacht habe heute wieder zu spät dran zu sein, verläuft mein Morgen reibungslos und als ich fertig bin, habe ich sogar noch etwas Zeit über. Genug, um mir eine Strähne meiner Haare zu flechten und alle ordentlich zusammenzubinden. Dann greife ich meinen Rucksack und mein Skateboard und mache mich auf den Weg.

***

Als es endlich zur zweiten großen Pause klingelt, schlage ich erleichtert meinen Schnellhefter zu und stecke ihn zusammen mit meiner Federmappe in den Rucksack.
Wir hatten gerade eine Stunde Geschichte und ich kann mir die ganzen Daten und Zusammenhänge bei bestem Willen nicht merken. Ich verstehe nicht, weshalb wir Geschichte am Mittwoch und Freitag jeweils eine Stunde haben, anstatt einer einzigen Doppelstunde. So haben wir nie genug Zeit und bekommen dafür auch noch doppelt so viele Hausaufgaben auf.

Auf dem Schulhof angekommen geselle ich mich zu ein paar Klassenkameraden. Ich mag nicht Freunde sagen, weil sie zwar nett sind, aber mehr auch nicht.
Einige Meter entfernt sitzt Freya auf einer Bank und liest in irgendeinem dicken Roman. Sie ist wirklich hübsch und noch dazu nett, ich verstehe nicht, warum sie nicht beliebter ist.
Vielleicht sollte ich den ersten Schritt machen und sie fragen, ob wir mal wieder etwas zusammen unternehmen wollen?
Vorerst konzentriere ich mich mehr auf das Gespräch, aber hin und wieder werfe ich ihr einen Blick zu. Sie ist einfach zu perfekt.

„Hey Charlie, hörst du eigentlich zu?", fragt mich Julia lachend.
„Ja klar, ich habe nur gerade etwas nachgedacht", erwidere ich und lächle, in der Hoffnung, dass es nicht zu gezwungen wirkt.
„Also", greift Julia das Gespräch wieder auf. „Mögt ihr so Superheldenfilme?"
„Ihr wisst doch, dass ich ein riesiger Fan von den Marvelfilmen bin, oder? Also ja, tue ich. Du?", frage ich zurück.
Wie sind sie überhaupt auf das Thema gekommen? Normalerweise interessiert sich doch niemand außer mir dafür.
„Naja, meistens gucke ich so Filme nur, wenn ein hotter Schauspieler dabei ist."
„Fühl ich. Habt ihr auch so oft Celebrity-Crushes?", schaltet sich Sophie in das Gespräch ein.

Ich überlege und naja, ich fand schon mehrfach irgendwelche Schauspieler toll und habe für sie geschwärmt. Aber eigentlich waren alle berühmten männlichen Personen für mich mehr wie Idole. Oder ich habe mir einfach vorgestellt, ich wäre mit einer Filmfigur befreundet. Tiefere Verbindungen oder Fantasien hatte ich tatsächlich nur mit Frauen oder eben weiblichen Jugendlichen. Weil ich mich aber definitiv auch schon ein oder vielleicht sogar zweimal, ich bin mir nicht so sicher wie stark meine Gefühle wirklich waren, in Jungen verliebt habe und definitiv nichts gegen nicht-binäre Personen hätte, kann und mag ich mich in meiner Sexualität nicht festlegen. Bi, homo, pan, polysexuell oder noch etwas anderes, ich könnte fast alles sein. Auf der anderen Seite scheint wiederum keins der Label zu passen.
Gerade als Julia den Mund wieder öffnet, läutet die Schulglocke - das heißt, eigentlich wird das Läuten nur über Lautsprecher abgespielt, die auf dem gesamten Schulgelände verteilt sind, denn unsere Schule hat keine richtige Glocke.

***

Irgendwann ist der Unterricht vorbei und ich bin wieder Zuhause. An sich würde ich gerne wieder etwas mit Freya unternehmen, ich möchte ihr einfach auch in unserer Freizeit wieder näher kommen. Ich schaue auf mein Handy, was ich neben mich auf mein Bett gelegt habe. Ich könnte Freya einfach anschreiben und sie fragen... Theoretisch.
Würde das nach mehreren Jahren beinahe ohne außerschulischen Kontakt aber nicht komisch wirken? Was, wenn sie gar nichts mehr mit mir zu tun haben will?
Und außerdem wäre es auch viel einfacher, über meine Gefühle hinwegzukommen, wenn wir keinen Kontakt haben als wenn wir wieder beste Freunde werden. Aber ich möchte sie ja nach einem Treffen fragen.
Schließlich siegt die Seite von mir, die sich fragt, was denn schon schlimmes passieren könnte.
Ich greife mein Smartphone und scrolle mit klopfendem Herzen meine Kontakte durch, bis ich Freya finde.
Soll ich ihr wirklich schreiben? Andererseits, wieso nicht?

„Hey, ich bin's, Charlie. Ich habe diese Woche noch nichts vor und wollte fragen, ob wir vielleicht mal nach der Schule in ein Café gehen wollen?"

Mein Herz schlägt inzwischen wie wild und ich bin kurz davor, die Nachricht wieder zu löschen, doch stattdessen drücke ich auf senden. Warum sollte ich ihr denn nicht schreiben? Was ist auf einmal mit meinem Selbstbewusstsein passiert?
Ich starre gebannt auf den Bildschirm.
Schreibt steht da nun anstelle von zuletzt online um.
Dann erscheint Freyas Antwort:

„Ehrlich?"
„Klar, hättest du Lust?"
„Ja, auf jeden Fall! Wie wäre es mit morgen, direkt nach Schulschluss?"
„Gerne! Cool dass wir mal wieder was machen👍🏻 Dann bis morgen?"
„Bis dann 😙"
„Bye 😚"

Augenblicklich macht sich in mir ein Gefühl von Erleichterung breit. Eigentlich war es ja gar nicht so schwer, ihr zu schreiben. Und wir treffen uns direkt morgen!
Bei der Vorstellung, in nicht einmal vierundzwanzig Stunden mit ihr an einem kleinen Tisch im Café zu sitzen, muss ich unwillkürlich lächeln und mein Brustkorb zieht sich vor Vorfreude zusammen.

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