Kapitel 16

Auf dem Schulweg lasse ich in Gedanken den gestrigen Tag revue passieren. Das ganze Gespräch mit meiner Mutter kommt mir derart surreal vor, dass ich ein Gefühl habe, als würde ich jeden Moment aufwachen und alles wäre nur ein schöner Traum gewesen.
Ich meine, das Gespräch mit meiner Mutter gestern hat meine Erwartungen bei Weitem übertroffen! Im Grunde kann ich ja sogar etwas verstehen, was ihre Sorgen waren und warum, auch wenn sie natürlich unbegründet sind. Ich bin so erleichtert, dass sie mich akzeptiert und mich jetzt doch unterstützen möchte, dass ich es, egal wie übertrieben es klingt, kaum fassen kann. Vielleicht kann ich sie nachher sogar nach einem Binder fragen, in wenigen Monaten habe ich sowieso Geburtstag.

Schwungvoll stoße ich mich von dem Asphalt ab und genieße, wie das Skateboard unter meinen Füßen über den Boden gleitet. Ich nehme einen tiefen Atemzug der kalten Morgenluft, der sich beim Ausatmen mit den dünnen Nebelschwaden vermischt, die auf den Vorgärten zu meiner Rechten liegen. Jeder einzelne Grashalm ist mit zartem Raureif gesäumt, welchen die ersten Sonnenstrahlen in feine Tauttropfen verwandeln.
Es ist so wunderschön und entspannend, frühmorgens durch die Kälte zu fahren. Auch, als mich noch viel mehr Probleme belastet haben als jetzt, hat es mir immer so ein ruhiges Gefühl gegeben.

Der Unterricht zieht an mir vorbei, ohne dass ich wirklich etwas mitbekomme. Zwar melde ich mich sowohl in Spanisch als auch in Englisch ein paar Mal, bin mit meinen Gedanken jedoch abwesend. Freya ist heute nicht da, sondern mit ihrer Klasse auf einem Ausflug, leider. Trotzdem vergeht der Tag zum Glück schnell.

Ich schlucke meine Angst mühsam herunter und klopfe an die Zimmertür meine Mutter.
Was soll schon passieren? Selbst wenn sie Nein sagt, habe ich es wenigstens versucht.

"Mama, ich wollte noch einmal mit dir reden."
Sie dreht sich zu mir. "Natürlich, was ist denn?"
"Die Sache ist die, dass ich mich in meinem Körper ja nicht... richtig fühle", sage ich, gehe in den Raum und setze mich auf ihr Bett.
"Ich meine, so wie ich aussehe werde ich durchgehend in die Kategorie weiblich gesteckt und das bin ich nunmal nicht, wie du weißt. Manche Leute machen eine geschlechtsangleichende OP, aber das will ich auch nicht, weil ich mich manchmal wohl fühle und ich möchte mich außerdem sowieso nicht dauerhaft verändern."

Meine Mutter nickt, wobei sie so aussieht, als würde sie noch versuchen den Haken an der Sache zu finden.
"Es gibt wie so Kleidungsstücke, die den Oberkörper flach machen, weißt du? Das Gegenteil von einem Push-Up-BH sozusagen", setze ich wieder an.
"Ich hätte gerne so einen Binder, den kann ich dann einfach anziehen, wenn ich mich unwohl fühle."

"Okay, wenn dich das glücklich macht, wieso nicht. Aber pass auf dich auf und wenn dir jemand blöd kommt, sag Bescheid, ja?"

"Echt?", frage ich ungläubig. "Du... du würdest mir einen Binder zum Geburtstag besorgen? Danke!"
Ich falle meiner Mutter in die Arme und schmiege mich fest an sie.

"Natürlich würde ich dir so ein Teil kaufen, ich möchte doch auch nicht mehr, als meine To- mein Kind glücklich zu sehen."
"Danke, Mama."
"Dafür sind die Eltern doch da, um ihre Kinder fröhlich zu machen, oder?"
"Ich- Ich dachte nur, du würdest das vielleicht komisch finden oder mich nicht verstehen und mir darum keinen kaufen wollen oder so."
"Ach Schatz. Hatten wir nicht schon beschlossen, dass ich nicht alles verstehen muss, um dir zu helfen?"

Zurück in meinem Zimmer suche ich Freyas Kontakt, um sie anzurufen. Zum Glück nimmt sie direkt ab.
"Hallo Charlie! Alles gut?", ist das erste, was ich von ihr höre.
"Ja, alles super!", antworte ich, ich bin noch immer so euphorisch, dass ich vor Freude durch die Gegend springen könnte.
"Ich habe gestern noch mit meiner Mutter geredet und alles ist perfekt gelaufen! Sie unterstützt mich! Du hattest die ganze Zeit Recht, dass sie nur etwas Zeit und Gespräche braucht."

Ich halte kurz inne, um einmal tief durchzuatmen bevor ich weiterspreche. "Ich war gerade noch einmal bei ihr und sie schenkt mir zum Geburtstag einen Binder. Ich kann gar nicht sagen, wie glücklich ich bin", schluchze ich und fahre mir durch die Haare. "Und Freya, hättest du am Samstag vielleicht Lust, dich mit mir zu treffen?"

"Ja, auf jeden Fall! Und ich freue mich total für dich. Hast du eigentlich irgendwelche Wünsche, oder soll ich dich einfach überraschen?"

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