H - Menschenkenntnisse

Für einen Moment hielt er mich einfach nur fest, bis ich mich löste und die Schultern straffte. Ich wollte vor ihm hier nicht heulen, weshalb ich versuchte, mich zusammenzureißen.

„Woher weißt du überhaupt meine Zimmernummer?" fragte ich ihn mit belegter Stimme.
„Hab unten in den Computer geguckt, als die Rezeptionistin auf dem Klo war", sagte er achselzuckend, so als wäre es das Normalste auf der Welt, und ich hob eine Augenbraue.
„Du hast dir illegal datenschutzrelevante Informationen beschafft?"
„Wer bist du? Die Datenpolizei?" fragte er lachend und ich musste schmunzeln.
Louis sah sich im Zimmer um und nickte anerkennend. „Sieht genauso aus wie meins. Nur ordentlich", bemerkte er mit einem schiefen Grinsen und setzte sich auf mein Bett.

Ich musterte ihn einen Moment, ehe ich mich ihm gegenüber auf einen Stuhl setzte, um Sicherheitsabstand zu wahren. Louis sah mich an und lächelte. „Ich bin also kein schlechter Küsser, oder?" fragte er und ich lachte leise und schüttelte den Kopf.
Ich spielte mit meinen Fingern und sah auf die graue Jogginghose, die ich trug. Auf ihr waren Flecken, die nicht mehr auswaschbar waren, außerdem war die Farbe ausgeglichen. Zugegeben, die Jogginghose war in schrecklichem Zustand und gehörte eigentlich ausgemustert. Da sie aber Tristan gehörte, brachte ich es nicht übers Herz. Ich trug sie oft zuhause, so konnte ich mich ihm näher fühlen.
„Erde an Harry?"

Ich sah zu ihm und nickte leicht. „Nein, nein bist du nicht. Wirklich nicht", antwortete ich schließlich und ließ den Blick zum Fenster schweifen.
„Ich war nicht darauf vorbereitet, jemanden zu küssen."
Louis nickte. „Verstehe, okay."
Er zog aus der Innentasche seiner Jacke eine Flasche Wein und sah mich mit wackelnden Augenbrauen an.
„Lust auf einen kleinen Absacker?"
„Du trinkst Wein?"
Er wirkte beleidigt und rümpfte die Nase, ehe er nickte. „Was hast du gedacht, dass ich nur Bier und Vodka saufe, bis ich bewusstlos werde?"
Entschuldigend sah ich ihn an und er schmunzelte amüsiert. „Ich bin durchaus fähig, auch kultiviert aufzutreten. Allerdings..." Er öffnete die Flasche und trank direkt daraus einen Schluck, ehe er sie mir entgegenhielt und mich auffordernd angrinste. „...macht das doch nur halb so viel Spaß, findest du nicht?" fügte er mit einem Zwinkern hinzu.

Seine Augen hatten wieder dieses schelmische Funkeln und ich hielt seinen Blick für einen Moment fest, ehe ich die Flasche nahm und sie an meine Lippen setzte.
Die eiskalte Flüssigkeit lief meine Kehle hinab und ich nahm einen viel zu großen Schluck, ehe ich sie ihm wieder reichte und mir mit dem Zeigefinger über die Lippen wischte, um sie zu trocknen. Ich bemerkte, dass er meinen Bewegungen folgte und ließ die Hand sinken, sah ihn unsicher an.
„Wieso bist du nicht mit Niall und Tommi im Club? Seid ihr etwa schon fertig mit Feiern?" fragte ich ihn leise.
Er schüttelte den Kopf. „Ich bin dir hinterher. Aber du bist ja so schnell, dich holt ja niemand ein", meckerte er gespielt und unterdrückte ein Grinsen.
„Du bist mir hinterher?" fragte ich ihn überrascht.
Sein Ausdruck wurde weicher und er legte den Kopf schief, während er an dem Etikett der Weinflasche herum pulte.
„Wie gesagt, ich habe mir Sorgen gemacht. Ich fand den Kuss schön und ich hätte dich gerne weiter geküsst. Ich hatte das Gefühl, dass wir da drin auf einer Wellenlänge waren. Und wenn du dann panisch wie ein Hase davon hüpfst, dann muss ich ja gucken, was los ist."

„Panisch wie ein Hase?!" fragte ich mit leisem Lachen, in welches er ebenfalls einstieg.
„Es wirkte so", antwortete er und musterte mich lächelnd. „Geht es dir jetzt besser?" fügte er hinzu und ich nickte leicht.
„Ein wenig."
„Schön!" sagte er und ich nahm es ihm komplett ab, dass er das wirklich so meinte. „Willst du drüber reden? Also...wieso du so traurig bist?"

Ich schluckte leicht und sah wieder auf meine Hände, während sich mein Brustkorb zusammenzog. Leicht zuckte ich mit den Schultern. „Ich...ich weiß nicht. Es, also..." fing ich an zu stammeln.
Nur wenige Sekunden später war er bei mir, weshalb ich ihn nur überrascht anstarren konnte. Er lächelte.
„Komm, setz dich mit mir aufs Bett", bat er mich leise. Nach kurzem Zögern stand ich auf und wir setzten uns beide im Schneidersitz auf das Hotelbett und sahen uns an.
„Ich kann nicht darüber reden, Louis", sagte ich leise, woraufhin er nickte.
„Das ist völlig in Ordnung, Harry. Ich werde dich zu nichts drängen. Ich wollte nur sicher gehen, dass du okay bist, deshalb bin ich hier", antwortete er mir.

Fasziniert sah ich ihn an und schluckte leicht. „Du bist unheimlich nett", sagte ich leise, woraufhin er lachte. „Nett ist die kleine Schwester von scheiße. Aber ich nehme es mal trotzdem als Kompliment!" antwortete Louis.
Ich lächelte und nickte. „Das war ein Kompliment, ja. Ich bin nicht mehr so gut darin."
„Worin?"
Seufzend zuckte ich mit den Schultern. „Mich anderen gegenüber zu öffnen."
Er grinste und trank einen Schluck von dem Wein, übergab mir die Flasche wieder. „Ich finde, deine Augen sagen schon ziemlich viel aus, ohne dass du etwas sagen musst."

Seine Worte verwirrten mich. Was sollten meine Augen schon aussagen?
„Du wirkst traurig, aber irgendwie auch ein bisschen neugierig. Als wärst du in einer Warteposition. Als würdest du es wirklich versuchen, aber der nötige Anstoß fehlt noch."
Louis sah mich an und ich presste die Lippen zusammen. „Du hast eine ziemliche Menschenkenntnis", entgegnete ich leise und er nickte. „Das musste ich früh lernen", antwortete er schulterzuckend.
„Wieso?" fragte ich aus einem Reflex heraus, rechnete jedoch damit, dass er genau wie ich ablehnen würde, mit persönlichen Informationen herauszurücken.
Doch zu meiner großen Überraschung antwortete er mir ohne zu zögern. „Ich hatte einen ziemlich gewalttätigen Vater. Er war unberechenbar, weil er niemals etwas sagte oder uns korrigierte, stattdessen schlug er meine Schwester Lottie und mich, manchmal auch meine Mom. Ich habe gelernt, in seinem Gesichtsausdruck zu erkennen, wann man lieber gehen sollte und wann es sicher war, zu bleiben."

Betreten sah ich zu ihm und schluckte. „Das tut mir unglaublich leid", sagte ich leise.
Louis zuckte mit den Schultern. „Jeder hat sein Päckchen zu tragen, oder? Mir geht es gut. Lottie und ich haben es da raus geschafft und auch meine Mom ein paar Jahre später endlich."
Nickend nahm ich die Weinflasche und trank einen Schluck. Louis hatte recht. Jeder von uns hatte mit irgendetwas zu kämpfen, so war es einfach, auch wenn das beschissen war.
Er jedoch wirkte, als würde ihm das überhaupt nichts ausmachen. Louis war unbekümmert und fröhlich, unwillkürlich fragte ich mich, ob er auch im normalen Alltag immer so lebensfroh war. Meine Neugier siegte und ich fragte ihn einfach.
Er grinste mich an und nickte. „Ich bin eigentlich fast immer gut gelaunt, ja. Ich habe nichts auszustehen. Mein Job ist okay, bringt Geld ein. Ich habe Freunde, Familie. Ich bin gesund", sagte er, dann fiel sein Lächeln.
„Scheiße, Harry, tut mir leid! Ich will nicht unsensibel sein!"

Ich winkte ab und sah ihn mit einem leichten Lächeln an. „Alles gut. Ich kann mich schließlich immer noch für andere freuen, richtig?"
Er nickte leicht und musterte mich. „Sicherlich hast du auch bald wieder die Möglichkeit, richtig glücklich zu sein", entgegnete er leise.
Schulterzuckend lehnte ich mich gegen das Kopfende und sah nach oben an die Decke. „Das kommt mir unrealistisch vor", murmelte ich.
Louis legte sich neben mich und ich spürte, wie seine Schulter meine berührte, weshalb ich zu ihm sah. Er lächelte und zwinkerte mir zu.
„So unrealistisch ist das gar nicht. Vertrau mir", sagte er und ich konnte nicht anders als zu lächeln, während ich ihm in die Augen schaute.

In dem schummrigen Licht wirkten seine Augen mehr blau-grün als nur blau. Als würde sich etwas von meinen Augen in seinen widerspiegeln.
Als ich realisierte, wie kitschig dieser Gedanke war, färbten sich meine Wangen rosa und ich sah weg, doch er legte die Hand an meine Wange und zwang mich, den Blick bei ihm zu behalten.
„Guck nicht weg", flüsterte er.
Ich nickte leicht und atmete tief durch. Louis kam mir näher und kurz bevor sich unsere Lippen berühren konnten, sah er mich fragend an.
„Darf ich dich küssen?" fragte er, seine Stimme war kaum mehr als ein Hauchen. Nach einem kurzen Zögern nickte ich leicht und er überbrückte den Abstand zwischen uns und legte die Lippen auf meine.

Sofort explodierte mein Herz förmlich wieder in meiner Brust, doch das Gefühl seiner Lippen war schön und ich merkte, dass ein Teil von mir die Berührung genoss. Seit zwei Jahren hatte mich niemand mehr berührt und die sanften Bewegungen auf meiner Wange, über die er mit seinen Fingern strich, ließ mich wohlig in den Kuss seufzen.
Er löste sich und lächelte mich an.
„Ich sollte jetzt wohl gehen", sagte er leise.
Unsicher nickte ich, dann sah ich ihn wieder an. „Willst du nicht...du kannst auch hier schlafen. Schließlich liegst du schon mal."

Louis sah mich überrascht an, ehe er nickte und die Weinflasche abstellte auf dem Nachttisch neben ihm. Er zog sich die Jacke aus und legte sich neben mich, während ich die Decke über uns legte und das Licht ausschaltete.
Er berührte mich zunächst nicht und auch ich drehte mich in die andere Richtung und starrte die Wand an. Ich war überrascht von mir selbst. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich ihn fragen würde, ob er hier schlafen wollte.
Und wieso sollte er das überhaupt? Sein Zimmer war sicher nicht weit weg, er hätte locker zu sich gehen können.
Irgendwann fühlte ich, wie er sich nah an mich heranlegte und sein Atem fabrizierte eine Gänsehaut an meinem Nacken. Und ganz einfach legte er den Arm um mich und hielt mich sanft fest.
„Schlaf gut, Harry", wisperte er.

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