H - Ich wollte schon immer nach Italien

„Du musst mal wieder raus aus der Stadt, Harry."
„So kann es nicht weitergehen, du solltest endlich wieder etwas erleben!"

Diese Sätze hatte mir Gemma, meine ältere Schwester, an den Kopf geworfen. Zusammen mit einem Ticket und einer Reisemappe.
Ich hatte sie verwirrt angesehen und sie hatte nur sanft gelächelt. Ihre grünen Augen hatten meine fixiert und sie hatte mir auf die Schulter geklopft.
„Es wird dir guttun, vertrau mir."

Und nun stand ich hier am Flughafen in Rom und sah mich nach jemandem um, der ein Schild mit meinem Namen hochhalten würde, um mich zu einem Reisebus zu bringen. Ich war weit weg von Holmes Chapel, das wurde mir gerade bewusst.
Gemma hatte das absolut Schlimmste getan, was sie mir hätte antun können. Eine Singlereise durch Italien, und das über mehrere Wochen. Mir war völlig klar, dass sie es nur gut meinte, doch ich war einfach noch nicht so weit. Vermutlich würde ich es nie sein.
Meine Gedanken wurden düsterer, bis ich meinen Namen hörte und somit unterbrochen wurde.

„Harry Styles!?"
Ich drehte mich in die Richtung, aus welcher die Stimme kam, und sah einen jungen Mann auf mich zueilen. Er hatte rabenschwarze Haare und gebräunte Haut, eindeutig ein Italiener. Er war deutlich kleiner als ich, wirkte aber unheimlich selbstbewusst. In seinen Händen hielt er ein weißes Blatt auf dem in großen, schwarzen Lettern mein Name prangte.
Ich ging auf ihn zu und nickte. „Der bin ich."
„Bongiorno, Mister Styles! Willkommen in Bella Italia!" sagte er überschwänglich mit hinreißendem Akzent und strahlte mich so glücklich an, dass meine Mundwinkel ein wenig nach oben zuckten.
„Guten Tag", erwiderte ich etwas steif und nickte ihm zu.
Er machte eine einladende Handbewegung und ich folgte ihm, während er sich durch die Massen an Menschen hier auf dem Flughafen einen Weg nach draußen bahnte.
Sowie ich auf die Straße trat, wurde es warm und die Sonne prasselte auf mein Gesicht. Für einen Moment schloss ich die Augen und genoss es. In England war es kalt und grau gewesen, hier mussten es mindestens 28 Grad sein.
„Wunderbar", murmelte ich.

„Kommen Sie, kommen Sie!" rief der Italiener und griff nach meinem Koffer, nahm ihn mir ab und eilte los in irgendeine Richtung, vermutlich führte sie zum Parkplatz. Ich beeilte mich, ihm zu folgen und verdrehte innerlich die Augen über seine Geschwindigkeit. Die Hektik war vermutlich völlig unnötig und ich konnte es nicht leiden. Ich hasste es, gehetzt zu werden.
Wir hielten wenig später vor einem riesigen Bus, vor dem bereits eine Menschentraube versammelt war. Augenscheinlich kannte sie niemand, denn sie alle waren entweder mit ihrem Handy beschäftigt oder schauten unsicher durch die Gegend. Der Italiener verstaute mein Gepäck im unteren Teil des Reisebusses und ich sah mich um.
Es war ein gemischtes Publikum von Männern und Frauen und ich fragte mich augenblicklich, wieso Gemma mich auf eine Singlereise für ganz offensichtlich gemischte Sexualitäten geschickt hatte, wo ich doch völlig offen und kompromisslos nur Interesse an Männern hatte. Nun, theoretisch gesehen hatte ich Interesse an niemandem mehr, aber das war eine andere Geschichte.

Ich atmete tief durch und musterte die Runde. Zwei Männer stießen mir besonders ins Auge, denn sie sahen sich so ähnlich, dass ich davon ausging, sie waren Geschwister. Sie beide waren hochgewachsen und ziemlich gut trainiert, beinahe schon aufgeblasen. Sie trugen weit ausgeschnittene Tanktops, auf denen recht unauffällig eine kleine Regenbogenflagge am Rand des Saumes angebracht war. Ein ziemlich unnötiges Signal für so eine Reise, wenn ich es mir genau überlegte. Sie unterhielten sich über Fitness und wirkten vertraut.
Meine Theorie, dass sie Geschwister waren, behielt ich vorerst bei. Neben ihnen stand ein junges Mädchen, ihre rabenschwarzen Haare waren in einen hohen Zopf gebunden und sie tippte an ihrem Handy, ihre langen Nägel klackerten auf dem Display und sie wirkte konzentriert, kaute auf ihrer Lippe herum.
Und rechts von mir stand ein Mann, der mich musterte, was mir jetzt erst auffiel. Ich sah irritiert zu ihm und unsere Blicke trafen sich.
Er fuhr sich durch die braunen Haare und lächelte mich an, kam auf mich zu. Alles in mir schrie förmlich danach, mich sofort von ihm wegzudrehen. Ich wollte keine Kontakte knüpfen.
„Hi, Niall mein Name", stellte er sich vor.

Ich nickte ihm zu, ging jedoch nicht weiter darauf ein. Ich wollte niemanden kennenlernen. Dass Gemma mich zu dieser Reise genötigt hatte, würde jetzt nicht bedeuten, dass ich mich in das Getümmel aus Singles stürzen würde und die Vergangenheit vergessen konnte, nur weil mich ein attraktiver Mann anlächelte.
Wenn sie das gedachte hatte, dann hatte sie sich gewaltig getäuscht.

Ich zückte mein Handy aus meiner Hosentasche und beschloss, ihr zu schreiben, dass ich gut angekommen war und dass ich sie nicht ausstehen konnte, weil sie mir das antat. Meine Schwester antwortete sofort.

G: Du wirst es genießen, das weiß ich. <3 Ich wünsche dir viel Spaß und Entspannung, Bruderherz

Schnaubend schüttelte ich den Kopf und steckte mein Handy weg.
„Stress zuhause?"
Ich sah zu meiner Rechten, wo der Braunhaarige stand und mich neugierig anlächelte. Er schien Ire zu sein und seine Augen waren blau. Eine interessante Kombination und ich fragte mich, ob er sich die Haare färbte.
„Ich wüsste nicht, wieso ich dir davon erzählen sollte", sagte ich leise.
Er lachte leicht. „Verstanden! Ich bin auch nicht so gerne hier. Geburtstagsgeschenk meines Bruders. Nur leider", Niall atmete theatralisch ein und aus. „Leider hat er die falsche Singlereise gebucht, sodass ich als Hetero-Mann hier wohl keinen Blumentopf gewinnen kann!"
Ich musterte ihn und konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. „Sicher sind auch bisexuelle Frauen dabei, immerhin ist die Singlereise darauf ausgelegt."

Der Ire sah mich an und nickte grinsend. „Vielleicht hast du recht. Hopfen und Malz sind noch nicht verloren!" antwortete er lachend und ich nickte leicht, sah mich weiter um, denn für mich war das Gespräch erledigt.
Der Ire jedoch sah das anders.
„Hast du schon jemanden ausgespäht?" fragte er mit aufgeregtem Grinsen. Ich sah ihn mit hochgezogener Augenbraue an. Was sollte das?
„Nein", antwortete ich knapp. Ich ließ aus, dass ich das auch garantiert nicht tun würde und seufzte innerlich, ließ den Blick schweifen.

Vor dem Bus saß ein junger Mann, dessen Basecap tief ins Gesicht gezogen war. Er lehnte an einem Laternenpfahl, die Beine hatte er übereinandergeschlagen und die Arme vor der Brust verschränkt. Er schien zu schlafen, zumindest machte es den Anschein.
Auf seinem schmalen Gesicht war ein Bartschatten zu erkennen, er trug ein schwarzes Joggingset. Die Hose hatte er in die weißen Tennissocken gestopft, was mich die Nase rümpfen ließ. Wer zog sich so an? Und noch viel wichtiger, wieso trug man bei diesem Wetter lange Kleidung?
Er atmete ganz ruhig und ich schüttelte leicht den Kopf.
Unter dem Cap auf seinem Kopf quollen dunkelbraune Haare hervor und ich fragte mich unwillkürlich, was er für eine Frisur trug, bis ich mich selbst zur Ordnung rief und die Schultern ein wenig anspannte. Es war scheißegal, was der Mann für eine Frisur hatte. Es tat nichts zur Sache. Ich würde mich auf Italien und die Sehenswürdigkeiten konzentrieren, während die anderen um mich herum gerne flirten konnten, was das Zeug hielt. Ich war nicht daran interessiert.

Wieder holte mich der Italiener aus meinen Gedanken, in dem er uns aufforderte, in den Bus zu steigen. Ich setzte mich in Bewegung, stieg ein und wählte einen Platz am Fenster aus, auf den ich mich fallen ließ und meinen Rucksack auf meinen Beinen ablegte. Als der Sitz sich leicht bewegte, blickte ich nach links. Niall hatte sich neben mich gesetzt und grinste mich gewinnend an.
„Was dagegen?" fragte er überflüssigerweise, denn jetzt saß er ja schon einmal.
Ich schüttelte den Kopf, zog Kopfhörer aus der vordersten Tasche meines Rucksackes und steckte sie in meine Ohren.
Nachdem der Italiener, der anscheinend auch unser Reiseführer sowie der Busfahrer war, sich als Giovanni vorgestellt hatte, betrat noch ein Nachzügler den Bus. Es war der junge Mann, der geschlafen hatte. Offensichtlich hatte ihn niemand geweckt und nun hatte er Glück gehabt. Ich musste mir merken, dass Giovanni offensichtlich keinen Überblick hatte. Das konnte heiter werden.

„Sorry!" sagte er zu Giovanni, der ihm einfach nur nickend zulächelte und ihm ein Zeichen gab, sich einen Platz zu suchen.
Der Fremde ging durch den Gang und sein Blick traf auf meinen, kurz sahen wir uns in die Augen und ich bemerkte das helle Blau, das förmlich strahlte.
Er lächelte mich höflich an, genau wie die anderen, die ihn betrachteten, dann ging er weiter. Ich erwiderte das Lächeln nicht, nahm stattdessen mein Handy in die Hand und öffnete Spotify. Das Murmeln der beiden blonden Männern eine Reihe vor mir, die sich ganz offensichtlich über den Fremden austauschten, interessierte mich nicht, ich wollte Musik hören.
Ich startete meine Playlist, die ich die letzten zwei Jahre fast täglich hörte, und sah aus dem Fenster, als der Bus sich in Bewegung setzte. Die ruhigen Klänge des ersten Songs drangen an mein Ohr und ich lehnte den Kopf gegen das Fenster und dachte an damals, während die Landschaft um uns herum sich veränderte, die Stadt wich der Natur und wurde grün um uns herum. Paradiesisch beinahe, wenn ich es mir recht überlegte.
Ich wollte schon immer nach Italien. Ohne je da gewesen zu sein, faszinierte mich die Kultur und das Essen. Immerhin in dieser Hinsicht hatte Gemma den richtigen Riecher gehabt. Ich war gespannt, ob dieses Land meine Erwartungen, die ich mir über die Jahre unweigerlich aufgebaut hatte, erfüllen würde.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top