H - High Street

Als ich mit Gemma's Auto, welches ich mir für mein Vorhaben ausgeliehen hatte, das Ortseingangsschild von Doncaster passierte, wurde mir übel. Ich hatte gewusst, dass mein Ankommen hier Emotionen auslösen wurde. Kalter Schweiß bildete sich auf meiner Stirn und ich atmete tief durch, während ich den Wagen durch die Stadt navigierte und schließlich auf dem Parkplatz vor meiner ehemaligen Wohnung parkte. 
Ich krallte die Hände ins Lenkrad und schloss die Augen. "Du kannst das schaffen. Dir wird nichts passieren", flüsterte ich mir selbst zu. 

Als ich die Augen öffnete, blickte ich auf den Gebäudekomplex vor mir. Dunkler Backstein, in die Jahre gekommen. Von der weißen Eingangstür blätterte die Farbe bereits ab. Die Fensterläden waren nur noch teilweise vorhanden und in den Fenstern hingen keine Gardinen. Es schien leer zu stehen. Die 152 High Street schien verlassen zu sein. 
"So leer wie ich", sagte ich leise und verbrachte beinahe eine halbe Stunde damit, mir das Haus anzusehen. Da oben, auf der linken Seite des Obergeschosses, war unser Schlafzimmer gewesen. Die Wohnung war bescheiden, eher klein, aber in Bentley gab es fast nur solche kleinen Apartmenthäuser. Tristan war hier aufgewachsen und wollte daher hier bleiben. Ich hatte es gemocht, denn nur ein paar Gehminuten entfernt kam man zu großen Feldern, auf denen ich meine Joggingrunden abhalten konnte. 
Doncaster war recht groß und wir hatten es nie wirklich aus Bentley herausgeschafft, außer für Shoppingrunden in der Innenstadt. 

Ich stieg aus dem Auto und lief die Straße entlang, verfiel in meinen Erinnerungen und sah es praktisch vor mir, wie Tristan und ich Hand in Hand die Straße entlang liefen. Es überkam mich und ich seufzte leise, blickte nach links auf die Rhino Bar. Hier waren wir hin und wieder etwas trinken gegangen, doch Tristan stand nicht auf Bars. Er wollte das nicht, ihn störte die laute Musik. Es würde ihn von seinem Training ablenken, das hatte er immer gesagt. Mir war es egal gewesen, ich wollte damals einfach nur Zeit mit ihm verbringen. All meine Zeit. 
Irgendetwas zog mich in die Bar, weshalb ich meinem Gefühl vertraute und hinein lief. Die Musik war gedimmt, auf der kleinen Bühne schien eine Band ihr Equipment aufzubauen. Es roch nach Bier und Whiskey, eine widerliche Mischung. 
Die Einrichtung war typisch englisch. Dunkles Holz, cremefarbene Wände, an denen verschiedene Trikots der Doncaster Rovers, der hiesigen Fußballmannschaft, hingen. Auf ihnen waren Unterschriften zu sehen, unter den Trikots standen Jahreszahlen. 
Wer auch immer diese Bar besaß, schien die Rovers offensichtlich zu mögen. Wie automatisch musste ich an Louis denken, doch ich vermutete, dass er seine Bar wohl nicht hier in Bentley hatte. Gesetz dem Fall, er hatte mich nicht belogen, als er meinte, seine Bar wäre die Beliebteste der Stadt. 

"Kann ich dir helfen?" 
Ein Mann im mittleren Alter sah mich über die Bar hinweg freundlich an und ich schüttelte den Kopf. "Nicht wirklich. Ich...suche nach Erinnerungen", sagte ich. 
Er hob eine Augenbraue und lachte. "Letzte Nacht hier einen Filmriss gehabt? Ich kann mich gar nicht an dich erinnern!" antwortete er.
Ich lächelte ihn schwach an und schüttelte den Kopf. "Nein, nein. Ich habe hier mal gewohnt. Ich mache so eine Art...Tour. Durch meine Vergangenheit." 
Der Mann sah mich kritisch an und wirkte skeptisch, weshalb ich die Hand hob. "Ich gehe, entschuldigen Sie die Störung!" sagte ich und zog mich zurück, dann stoppte ich und sah zu ihm. "Sie...Sie kennen nicht zufällig einen Louis, oder?" 
Nun sah der Mann mich an, als wäre ich geisteskrank. "Ungefähr zehn! Welcher darf's sein, Junge?" antwortete er mit vor Sarkasmus triefender Stimme und ich nickte leicht, seufzte innerlich. 
Die Rhino Bar war definitiv nicht Louis' Bar. Aber das wäre auch ein unglaublicher Zufall gewesen und ich war schließlich nicht hier um ihn zu finden. 

Ich lief aus der Bar hinaus und wohin auch immer mich meine Füße trugen. Ich hatte kein Ziel, lief einfach die alten Wege hinab und fühlte in mich hinein. Es schnitt mir förmlich die Luft ab, so stickig kam es mir vor. Auf meiner Brust lag ein fester Druck und als ich irgendwann vor der Schwimmhalle stand, in der Tristan trainiert hatte, erstarrte ich förmlich zu Eis. 

Hatte ich mich selbst unterbewusst hierhin gebracht? Erschrocken starrte ich den Eingangsbereich an und es fühlte sich an, als würde mir die Luft genommen werden. Ich konnte kaum atmen und legte die Hand auf meine Brust. Hier war ich beim letzten Mal hineingegangen  und hatte Tristan leblos im Wasser gefunden. Mein Herz klopfte kräftig gegen meine Brust und ich schluckte. 
"Du schaffst das", flüsterte ich, bevor ich den Weg durch die Glastüren ging und die Eingangshalle betrat. Es roch nach Chlor, Wärme strömte mir entgegen. Das und die Feuchtigkeit in der Luft vermischte es zu einem frischen, sauberen Aroma. Wie oft hatte mich dieser Geruch begrüßt, während ich Tristan beim Training und seinen Wettkämpfen unterstützte. Es fühlte sich seltsam heimisch an und mir wurde warm. 
Dann blickte ich mich um und sah, wovor ich Angst gehabt hatte. 
An der Wand hing ein Poster von Tristan. 

Ich ging darauf zu und blieb mit zittrigen Knien davor stehen. Sie hatten ihm ein Denkmal hier gesetzt. Tristan Hiddleston. Nationalschwimmer für England, Sohn von Doncaster stand unter dem großen, gerahmten Bild von ihm. Mein Herz wurde schwer. Seine blonden Haare waren feucht vom Wasser, die grünen Augen strahlten fröhlich zu mir herab und sein Gesicht zierte ein strahlendes Lächeln, während er eine Medaille in der Hand präsentierte. Das Bild war entstanden nachdem er das erste Mal für England gewonnen hatte. Ein wundervoller Tag, an den ich mich noch immer erinnerte. 
Nur wenige Stunden später hatte Tristan mir den Heiratsantrag gemacht. 

Meine Gedanken wurden gestört, als mich jemand anrempelte. Erschrocken blickte ich mich um, während vor meinen Füßen ein kleines Kind auf den Boden fiel und erschrocken aufjapste. 
"Lucky!" rief jemand und ich blickte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Eine blonde, junge Frau kam auf mich zu und hob den kleinen Jungen hoch, dessen Unterlippe gefährlich zitterte. 
Sie beruhigte ihn leise, ehe sie mich ansah. "Sorry! Er ist so aufgeregt, dass er manchmal ein paar Dinge übersieht. Oder Menschen!" entschuldigte sie sich für ihren Sohn und ich lächelte sie leicht an. "Kein Problem!" sagte ich schnell. 

Sie musterte mich kurz und dann blinzelte sie und lächelte mich an, ehe sie den Jungen ansah. "Wir beruhigen uns jetzt, ja? Du kannst gleich in den Pool!" sagte sie und blickte wieder zu mir, strich sich die gesträhnten Haare aus dem Gesicht. "Wir gehen zum Kleinkinder-Schwimmen. Lucky liebt es!" erklärte sie unnötigerweise und ich nickte. 
"Das klingt schön. Viel Spaß!" antwortete ich ihr schlicht und sie nickte, beobachtete mich weiter und mir wurde unwohl. 
Sie räusperte sich und runzelte leicht die Stirn. "Ähm...bist du...schwimmst du hier auch?" fragte sie mich. 
Ich sah sie irritiert an für einen Moment, ehe ich den Kopf schüttelte. "Nein. Ich..." Ich sah zu dem Poster meinen Verlobten und dann auf den Boden. "Ich weiß auch nicht. Ich schätze, ich wollte mir einfach die Halle ansehen." 
Etwas an der Frau vor mir war seltsam. Der Junge in ihren Armen quietschte und ich sah ihn an, seine blauen Augen strahlten mich an und ich stockte, als er lächelte. Irgendwie wirkte er bekannt.

"Wie heißt du?" fragte sie mich nun. 
Ich seufzte innerlich und sah sie an. Wieso war sie so aufdringlich? Wir kannten uns nicht und ich wollte mich nicht unbedingt unterhalten. 
"Harry", antwortete ich ihr dennoch schlicht und ging einen Schritt zurück. "Ich muss jetzt gehen. Auf Wiedersehen!" ergänzte ich höflich und drehte mich um, ging mit eiligen Schritten aus der Schwimmhalle und sah mich nicht noch einmal um. Diese surreale Situation war mir unangenehm, ich wollte nicht dabei gestört werden, das Poster anzustarren und in Erinnerungen zu schwelgen. Ich fühlte mich seltsam ertappt von der Blondine, weshalb ich den Weg zu meinem Auto zurück eilte und mich schnell hinein setzte. Scham kroch in mir hinauf. 

Ich fuhr mir durch die Haare und schüttelte den Kopf, kniff die Augen zusammen. Das hier war vielleicht doch keine gute Idee gewesen und vielleicht hatte Gemma keine Ahnung wovon sie redete. Es half mir kein bisschen, die Wohnung zu sehen oder die Schwimmhalle. Es fühlte sich noch immer so beschissen an, als würde mein Herz herausgerissen. 
In meinen Gedanken konzentrierte ich mich auf Louis und stellte mir sein Gesicht vor, sein Lächeln. Ganz plötzlich wurde mir klar, dass ein Teil von mir ihn vermisste. Der Gedanke an seine gute Laune und seine positive Art half mir, mich zu beruhigen.
Doch er war nicht hier und ich war praktisch vor ihm geflüchtet, saß nun hier allein im Auto und versuchte mit meiner Vergangenheit abzuschließen. Und es fühlte sich mehr denn je nach einer Aufgabe an, der ich vielleicht noch nicht gewachsen war. 

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