H - Heilige Scheiße

Angekommen am Strand setzte ich mich in den Sand und sah auf das Wasser vor mir, das durch die Sonnenstrahlen glitzerte. Es waren nur wenige, flache Wellen und der Sand unter meinen Füßen hatte sich bereits aufgewärmt.
Es war vollkommen ruhig, nur wenige Hotelgäste hatten den Weg hier herunter gefunden bis jetzt und die wenigen, die in der Sonne auf ihren Handtüchern lagen, waren anscheinend zu entspannt zum Reden. Der zum Hotel gehörige Privatstand war wie eine kleine, ruhige Insel, zu welcher ich jetzt nur zu gern flüchtete, um meine Gedanken sortieren zu können.
Und so zog ich mir die Schuhe und Socken aus, setzte mich so hin, dass meine Füße im Wasser waren, und genoss das kühle Gefühl, wann immer eine kleine Welle das Wasser über meine Haut spülte.

Es roch salzig und frisch, also atmete ich tief durch und nahm dieses Gefühl in mich auf, während ich die Augen schloss. Zufriedenheit breitete sich in mir aus und als über mir das Krächzen der Möwen zu hören war, wurde ich innerlich ganz ruhig.
Das hier war wirklich. Kein Hetzen von Termin zu Termin, keine Anzüge, keine Krawatten und vor allen Dingen keine Emails. Ich hatte pedantisch darauf geachtet, dass auch wirklich alle Push-Benachrichtigungen für die Apps, welche ich auf Arbeit nutzte, abgeschaltet waren. Nach eineinhalb Jahren ohne einen einzigen Urlaubstag ging ich davon aus, dass ich mir das ruhig erlauben konnte für ein paar Wochen. Denn nachdem ich nach Tristan's Tod zunächst ein halbes Jahr völlig außer Gefecht gewesen war, hatte ich die darauffolgenden achtzehn Monate jeden einzelnen Tag gearbeitet. Auch das war für Gemma Grund genug gewesen, mir einen Urlaub zu schenken. Ich hatte mich nach der anfänglichen schlimmen Phase in die Arbeit gestürzt, einfach um nicht zu ertrinken. Viel hatte es nicht gebracht, denn ich fühlte mich noch immer so.

Das erste halbe Jahr nach seinem Tod hatte ich im Bett verbracht und hatte keinerlei Kraft oder Lebenswille gehabt. Die Planung und Durchführung seiner Beerdigung war das Einzige gewesen, dass ich halbwegs bewältigt hatte, aber auch nur weil ich es musste. Tristan hatte keine Familie gehabt, das war ich gewesen. Seit wir 21 waren, war ich seine Familie gewesen. Als er mir den Antrag gemacht hatte, während einer Wandertour, bei der es fürchterlich geregnet hatte, war ich der glücklichste Mensch der Welt gewesen. Ich kam mir vor als würde ich einen Traum leben.
Ein halbes Jahr später war dieser Traum vorbei gewesen.

Ich wischte mir Tränen weg und fuhr mit den Fingern durch den feinen Sand, schluckte leicht. Es gab viele solcher Momente, in denen mich alles wieder einholte und ich Tristan so sehr vermisste, dass es sich anfühlte, als würde man mir das Herz aus der Brust reißen.
Normalerweise rief ich in diesen Momenten Gemma an und bat sie, dass ich sie zu ihr kommen konnte. Wir trafen uns dann und erinnerten uns gemeinsam an ihn, bevor sie mich mit ihrer liebevollen Art schließlich aufmunterte. Doch das war nicht möglich, denn ich saß allein an einem Strand in Italien und versank in Selbstmitleid. Ich nahm mein Handy, überlegte eine Weile, ob ich sie anrufen sollte, doch ich entschied mich dagegen. Sie würde mich nur fragen, was mit Louis war, und darüber wollte ich ganz sicher nicht sprechen.
„Hey, alles okay?"

Erschrocken sah ich nach oben und in das Gesicht des braunhaarigen Iren, der mich skeptisch musterte, während er die Hände in die Taschen seiner Badehose steckte.
„Ja, klar", sagte ich und räusperte mich eilig, als meine Stimme brach. Er sah mich weiter an, ehe er sich neben mich setzte.
Ich zog die Augenbrauen zusammen und beobachtete ihn verwirrt, was er mit einem Lachen kommentierte.
„Du guckst, als würde ich dich gleich umbringen wollen. Keine Sorge, ich warte auf Louis und Tommi, die sind sich gerade umziehen", erklärte er mir.
„Aha", antwortete ich und ärgerte mich über die patzige Reaktion.
„Du denkst, sie vögeln, oder?"

Ich zuckte mit den Schultern und sah auf das Wasser vor uns. „Das geht mich ja nun wirklich nichts an", stellte ich schlicht fest.
Niall lachte leise. „Schon klar. Aber du hättest am Tisch bleiben sollen. Louis hat Tommi nämlich gesagt, dass er die Schnauze halten soll."
Ich hob eine Augenbraue und versuchte, so wenig wie möglich Reaktion zu zeigen. Dennoch sah ich zu Niall, der mich aufmerksam musterte.
„Geht es dir gut?" fragte er. Niall war offensichtlich höflich genug, um abzulenken, wenn er merkte, dass seinem Gegenüber etwas unangenehm war.
Ich nickte bestätigend. „Es geht mir gut."
„Das sagen die, die größten Sorgen haben, irgendwie immer", bemerkte er und sah ebenfalls auf das Wasser, kniff die Augen leicht zusammen. Ich beschloss, nicht zu antworten und Niall schien das zu akzeptieren. Stattdessen plapperte er etwas von wunderschönen, italienischen Frauen und dass er jetzt endlich schwimmen gehen wollte.

Seine Gedanken wurden erhört, als schon von weitem Louis zu hören war, der ganz begeistert vor sich hinsprach und irgendeine Geschichte erzählte, doch ich verstand seine Worte nicht.
Ich drehte mich zu ihm in seine Richtung und stockte leicht, als er nur in Badehose bekleidet auf den Strand gelaufen kam, dicht gefolgt von Tommi.
Er sah Niall und mich, weshalb er direkt zu grinsen anfing. „Euer Entertainmentprogramm ist da!" rief er in unsere Richtung, weshalb ich schmunzeln musste und den Kopf schüttelte. Er war der sorgloseste Mensch, den ich jemals getroffen hatte.

„Na endlich! Wir sterben hier vor Langeweile!" rief Niall, ehe er aufsprang und sich das Shirt vom Körper zog und es neben sich fallen ließ.
Louis ging direkt bis zu den Knien in das kalte Wasser, er stand etwa zehn Meter von mir entfernt. Ich konnte nicht anders, als ihn zu mustern. Seine Rückenpartie war definiert, er trug eine schwarze Badehose, die bis zur Mitte seiner Oberschenkel reichte und seinen Hintern so unverschämt gut betonte, dass ich mir unbewusst über die Lippen leckte.
Seine Kehrseite war, um es schlicht auszudrücken, absolut perfekt.
Als er sich zu mir umdrehte, zuckte ich fast zusammen und setzte mich aufrechter hin, räusperte mich leicht.

Ich sah erst wieder hoch, als Niall und Tommi um die Wette schrien und gemeinsam in die Fluten rannten und sich ins Wasser fallen ließen, ihnen folgte Louis nur wenige Sekunden später und das Ganze endete in einer Wasserschlacht, die Louis mit vollem Körpereinsatz dominierte. Sie alle drei schienen absolute Kindsköpfe zu sein und ich fing an Spaß daran zu entwickeln, ihnen zuzusehen, wie sie sich wie 12-Jährige verhielten.
Niall sprang auf Louis Rücken und zog ihn so mit sich unter Wasser, als die Beiden wieder hochkamen, lachten sie so herzlich, dass auch ich leise lachen musste. Irgendwie erwärmte dieser verrückte, blauäugige Mann mein Herz.
Zugleich breitete sich, wie ich erschrocken feststellte, in mir eine andere Wärme aus, als er sich in meine Richtung drehte und mit den Händen durch seine nassen Haare fuhr, während er mich breit angrinste und auf mich zukam. Eine gewisse Wärme, die ich so schon sehr, sehr lange nicht mehr gespürt hatte.

„Kommst du mit rein?" fragte er und stellte sich vor mich. Ich schirmte die Sonne mit meiner Hand ab und sah hoch zu ihm mit zusammengekniffenen Augen. Louis ging einen Schritt nach links, blockierte so die Sonne und ich ließ die Hand wieder sinken. Um ihn herum entstand durch die Sonne eine Art Schein und ich blickte fasziniert auf den Ansatz von Baumuskeln und die nasse Badehose, die nun eng an ihm klebte und alles Mögliche betonte. Eilig rief ich meine Gedanken zur Ordnung und konzentrierte mich stattdessen auf seine Augen. Dass diese funkelnden wie Edelsteine half mir bei der Konzentration nicht sonderlich weiter.
„Ich denke nicht", antwortete ich ihm leise.
„Wieso nicht?" fragte er. „Hast du Angst vor Wasser?"

Ich sah ihn kurz perplex an, ehe ich den Kopf leicht schüttelte. „Nein..." murmelte ich unsicher.
„Also, dann gibt es nun wirklich keine Ausrede. Hol dir eine Badehose und hab Spaß mit uns, Harry. Komm schon, es wird lustig."
Ich seufzte leise. „Wirst du aufgeben, wenn ich nochmal Nein sage?"
„Nein?" antwortete er und sah mich an, als wäre ich verrückt geworden. Wer von uns hier der Verrückte war, war eigentlich klar, aber ich sagte nichts, seufzte nur wieder. „Na gut", murmelte ich. Louis setzte ein zufriedenes Grinsen auf und nickte. „Bis gleich!" rief er, ehe er zurück ins Wasser ging und sich rittlings hineinfallen ließ. Ich hingegen stand auf und ging zu meinem Zimmer, um mich umzuziehen.

Als ich zurückkam, hatten sie sich von irgendwo her einen Ball besorgt und spielten Volleyball im Wasser. Auch diese körperliche Aktivität stand Louis und ich musste zugegeben, dass die Gefühle, die er in mir auslöste, mir anfingen Angst zu machen. Den Blick abwenden konnte ich jedoch trotzdem nicht.
Als ich mich unsicher näherte sah Louis zu mir und seine Augen wurden größer, er blieb wie versteinert stehen und sein Mund öffnete sich leicht.
„Heilige Scheiße, Harry. Wieso hast du den Körper denn versteckt bisher??!" rief er fassungslos und ich musste leicht lachen, ehe ich rot anlief und scheu den Blick senkte.
Ich wollte gerade etwas antworten, doch da warf Tommi den Ball in meine Richtung ich konnte ihn gerade noch so auffangen, bevor er sonst in meinem Gesicht gelandet wäre. Perplex sah ich Tommi an, der die Arme auffordernd hob.
"Wollen wir jetzt spielen oder nicht?!" rief er mit eindeutig passiv-aggressivem Unterton.

„Scheiße, Tommi! Was soll das?!" fuhr Louis ihn genervt an, ehe er zu mir kam.
Tommi zuckte mit den Schultern und entschuldigte sich halbherzig, bevor er mir einen genervten Blick zuwarf, den ich geflissentlich ignorierte. Der Mann mit den wasserstoffblonden Haaren schien ein riesiges Problem mit mir zu haben. 
"Ist alles okay?" fragte Louis und musterte mich, also nickte ich sofort. "Klar!" antwortete ich betont lässig und warf ihm den Ball zu, den er auffing und mich anlächelte.
"Gute Reflexe hast du ja", bemerkte er, ehe er mich mit einer einladenden Handbewegung dazu aufforderte, ihm ins Wasser zu folgen.
Seinen Blick, den er langsam über meinen Oberkörper gleiten ließ, weckte in mir einen Hauch von Stolz und meine Unsicherheit wurde weniger.  

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