H - Castel Gandolfo
Mein aufgezwungenes "Abenteuer" startete etwa 40 Minuten außerhalb von Rom ganz offiziell, als wir das erste Hotel erreichten. Es lag in einem malerischen, kleinen Dorf namens Castel Gandolfo. An die italienischen Namen musste ich mich gewöhnen, aussprechen würde ich definitiv keinen davon. Auf keinen Fall wollte ich mich blamieren.
Castel Gandolfo lag oberhalb eines Sees und bot eine traumhafte Aussicht. Schon vom Hotelparkplatz aus konnte ich das Wasser sehen und musste leicht lächeln.
Wenn es nicht eine Singlereise mit fremden Menschen wäre, so dachte ich, könnte ich mich hier vermutlich sehr wohlfühlen.
Giovanni erklärte uns, dass dieser kleine Zwischenstopp für die erste Nacht perfekt geeignet war, da solche kleinen Dörfer einen sofort in die italienische Welt hineinzogen konnten. „È perfetto per voi!" rief er und klatschte in die Hände, strahlte uns glücklich an.
Ich hatte keinen Schimmer, was er sagte, aber es musste irgendetwas mit perfekt bedeuten.
„Was hat er gesagt?" fragte mich nun Niall, der sich zu mir beugte und mich neugierig ansah.
Ich blickte zu ihm und zuckte mit den Schultern. „Ich kann kein Italienisch", entgegnete ich und sofort störte mich dieser Fakt. Ich nahm mir vor, einen Sprachführer zu kaufen und diese Reise dazu zu nutzen, die Sprache ein wenig zu erlernen. Denn wo konnte man es besser lernen, als in dem Land, in dem eine Sprache gesprochen wurde.
In mir wuchs ein wenig Zuversicht, eine kleine Hoffnung, dass dieser Trip vielleicht doch zu etwas gut war.
„Er hat gesagt, dass es perfekt für uns ist."
Niall und ich blickten gleichermaßen zu unserer Linken und der junge Mann mit dem Basecap stand neben uns und zog an seiner Zigarette, beobachtete Giovanni dabei, wie er die Koffer aus dem Bus hievte. Die Geschwister mit den trainierten Körpern halfen ihm dabei, natürlich nicht ohne ihre Muskeln spielen zu lassen. Ich rümpfte leicht die Nase darüber.
„Du sprichst italienisch?" fragte Niall den Mann neben uns.
Er nickte und sah uns an. Zunächst mich, die blauen Augen bohrten sich förmlich in meine, dann sah er zu Niall. „Ja, das tue ich", antwortete er knapp.
„Krass!" Niall streckte die Hand aus und sah ihn mit offenem, herzlichem Lächeln an. „Ich bin Niall, hey!" stellte er sich vor.
„Louis", antwortete der Mann grinsend und schüttelte Niall's Hand.
„Wo kommst du her? Frankreich?" scherzte Niall
Louis lachte leise und schüttelte den Kopf. „Witzig, aber nein. Doncaster, England."
Ich stockte für einen Moment und sah ihn mit großen Augen an. Er bemerkte es, sein Blick glitt zu mir und er hob eine Augenbraue. Das konnte doch nicht wahr sein.
„Und du, hast du auch eine Stimme?" fragte er mich offensiv.
Ich schluckte und straffte die Schultern, nickte leicht. „Ja, habe ich."
Louis lachte und nickte, nahm einen tiefen Zug seiner Zigarette, ehe er sie auf den Boden warf und sie mit seinem Schuh ausdrückte.
„Ist doch schon mal was. Hast du auch einen Namen?" hakte er weiter nach, ließ mich innerlich seufzen. Tief verborgen in mir versuchte ich nicht daran zu denken, dass er ausgerechnet aus Doncaster kam. Mein Herz versetzte mir einen kleinen Stich.
Ich atmete tief durch und konzentrierte meinen Blick auf Giovanni, beruhigte so meinen schneller werdenden Puls. „Harry...ich, ich heiße Harry", antwortete ich leise.
Irgendwo läuteten Kirchenglocken und ich sah auf meine Armbanduhr. Es war sechs Uhr abends. Die Sonne stand schon etwas tiefer und ich nahm mir vor, einen Spaziergang zu unternehmen. So wie früher. Sicherlich war diese kleine Stadt bestens dafür geeignet.
Ich sah noch einmal zu den Beiden, die bereits in ein Gespräch vertieft waren, dann ging ich wortlos zu meinem Koffer und anschließend in das Hotel hinein.
Giovanni gab uns allen eine Art Handbuch, welches bei genauerem Betrachten alle Orte, Hotels und Aktivitäten beinhaltete, die für die nächste Zeit geplant waren. Morgen früh würde es nach Neapel gehen, wo wir zwei Tage verbringen würden.
Erschöpft von der Anreise ließ ich den Koffer ungeachtet stehen und warf das Prospekt auf das Bett, ehe ich mich an das Fenster stellte und den Blick über den See und die Landschaft schweifen ließ. Wir hatten immer davon geträumt, Italien zu bereisen. Zusammen. Nun würde ich das allein tun.
Ich fuhr mir über das Gesicht und atmete tief durch, öffnete den Koffer und zog ein weißes Leinenhemd hinaus, dass mir Gemma eingepackt haben musste. Es gefiel mir bei näherer Betrachtung, also tauschte ich das von der Fahrt verschwitzte Shirt mit dem Leinenhemd, ließ die oberen Knöpfe geöffnet und musterte mich im Spiegel.
Mit der Sonnenbrille im Haar und den Tattoos, die an den Armen und dem nun doch recht prominenten Brustbereich hervorblitzten, sah ich gar nicht mal so schlecht aus. Ich schickte Gemma ein Foto von mir.
H: Wie kommst du darauf, dass ich so etwas tragen würde?
Ihre Antwort kam prompt.
G: Weil du es gerade tust? Du siehst aus wie ein Popstar, wehe du ziehst dich um! Sie werden alle ganz wuschig werden, ich weiß es jetzt schon!
Ich musterte mich im Spiegel und schmunzelte leicht. Gemma hatte den Verstand verloren, eindeutig. Doch sie hatte recht, es stand mir und ich fühlte mich tatsächlich sogar wohl damit. Ob ich damit jemanden wuschig machen würde, war mir ehrlich gesagt egal, denn ich wollte meine Ruhe. Ich wollte weder daten noch wuschig werden. Für so etwas war der Zug abgefahren, dessen war ich mir nur zu bewusst. Das konnte ich einfach nicht mehr.
Mein Herz zog sich für einen Moment wieder schmerzhaft zusammen, also schüttelte ich schnell den Kopf und schob die trüben Gedanken zurück in die hinterste Stelle meines Herzens.
Ich schnappte mir Zimmerschlüssel, Geldbörse und mein Handy, dann verließ ich das Zimmer und startete meinen geplanten Spaziergang durch das kleine Städtchen.
Es war noch immer sehr warm und der beginnende Sonnuntergang tauchte alles in angenehme Orangetöne. Entlang der gepflasterten Straße an der Wasserseite der Stadt schlängelte sich eine gelbbemalte Mauer, welcher ich beschloss zu folgen. Überall darauf verteilt standen Blumentöpfe, über und über befüllt mit roten und weißen Blumen, die herrlich im Licht leuchteten. Alles hier sah aus als wäre es direkt einer Postkarte gesprungen und die kleinen Boote, die unten über den See fuhren, trugen ihr Übriges dazu bei. Ich schoss ein paar Fotos, die ich im Anschluss daran in den Familiengruppenchat schickte. Mom und Gemma würde das hier ebenfalls gefallen, da war ich mir sicher.
In einem kleinen Buchladen kaufte ich schließlich tatsächlich einen Sprachführer, wie ich es mir vorgenommen hatte.
Bewaffnet damit streifte ich weiter durch die kleinen Gassen, vorbei an üppig bepflanzten Balkonen und Menschentrauben, die vor kleinen Bars und Restaurants saßen und den Tag gemeinsam auf ausklingen ließen.
Als ich um eine weitere Ecke bog, war ich wieder an der gelben Mauer gelandet und neben mir drang italienische Musik an mein Ohr, also blickte ich nach rechts.
Es war eine kleine Bodega, die wenigen Plätze davor auf dem Pflaster waren alle voll, bis auf einen Tisch mit einem einzelnen Stuhl. Ich sah das als mein Zeichen und ließ mich darauf nieder.
„Buonasera, cosa desidera?"
Ich sah hoch zu der jungen Frau, augenscheinlich eine Kellnerin. Sie strahlte mich an und ihre wilden, dunklen Locken tanzten im aufkommenden Wind.
„Entschuldigung, ich...kein Italienisch"; antwortete ich entschuldigend und hob die Hände. Sie lachte und nickte.
„Wein?"
Ich nickte. „Sehr gern."
„Prego! Kommt sofort!"
Sie ließ mich allein und ich blickte ihr kurz nach, ehe ich wieder auf den See schaute und meinen Gedanken nachhing. Zum ersten Mal seit zwei Jahren breitete sich ein wenig Ruhe in mir aus und ich fühlte mich zumindest halbwegs wohl.
Die wärmende Sonne und die leichte Brise ließen mich ein wenig entspannter werden und kurz darauf brachte die Kellnerin mir eine kleine Kanne Wein zusammen mit einem Glas.
„Grazie?" sagte ich unsicher zu ihr, es war mehr eine Frage, denn ich wusste nicht, ob es das richtige Wort war.
Sie strahlte mich an und nickte, ehe sie wieder verschwand.
Zufrieden schenkte ich die helle, gelbliche Flüssigkeit in mein Glas und nahm einen Schluck. Ein leises Seufzen entfloh mir, der Wein war unglaublich gut.
Wir hatten früher immer italienischen Wein bevorzugt. Es fühlte sich nicht schlecht an, ihn jetzt hier trinken und dabei das Land genießen zu können.
Ich nahm mir den Sprachführer zur Hand und blätterte darin herum, schlug einige Sätze nach, die mich interessierten und die mir sicherlich bei dieser Reise helfen würden.
„Oh, bella Italia! Andiamo a festeggiare! Andiamo!"
Seine Stimme hallte schon bevor ich ihn sah durch die Straße, gefolgt von Gelächter und dann kam Louis zusammen mit Niall und einem anderen Mann um die Ecke, der wasserstoffblondes Haar hatte und ein Piercing trug. Auch er war bei unserer Reisegruppe dabei, doch ich wusste nicht, wie er hieß. Sein Lächeln war ansteckend, genau wie das von Louis.
Er strahlte richtig und sah sich um, die blauen Augen leuchteten und die drei Männer schienen viel Spaß zu haben und bereits alkoholisiert zu sein.
Sie hatten sich umgezogen. Niall trug eine rote Badehose und ein weißes Shirt, Louis' kurze Hose war hellblau und er trug ein weißes Shirt mit einem Muster darauf, dass farblich zur Hose angepasst war. Der andere Mann trug etwas, dass ich schlicht als völlig unangemessen beschreiben würde. Seinen Oberkörper zierte ein Hawaiihemd in den grellsten Farben, die ein Hemd wahrscheinlich haben konnte.
Ich musterte Louis unauffällig, während die drei auf den Handys irgendetwas angestrengt ansahen, vermutlich Google Maps, nahm ich an.
Er hatte das Basecap zuhause gelassen und gab so nun den Blick frei auf seine Frisur. Wuschelig traf es wohl am besten. Sie fielen ihm wild um den Kopf herum und in die Stirn, blieben an der goldgeränderten Sonnenbrille hängen, während er irgendeine Geschichte erzählte und dabei ausschweifend und wild gestikulierte.
Er schien ein selbstbewusster Mensch zu sein. Ich nahm schnell den Blick weg, als er in meine Richtung blickte und konzentrierte mich auf das Weinglas vor mir auf dem Tisch.
Wieso ich ihn überhaupt beobachtet hatte, wusste ich selbst nicht. Und ich schwor mir, damit ab sofort aufzuhören. Unter keinen Umständen wollte ich ihn am Ende noch auf blöde Ideen bringen.
„Sag mal, beobachtest du mich?"
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