H - 122 Minuten und 34 Sekunden

Ich hatte Glück im Unglück. Als ich um kurz nach zwei Uhr nachts am Flughafen ankam, gab es einen Flug, der halb fünf gehen würde. Ich ließ mich nach dem Sicherheitscheck am Gate auf einem der Stühle im Wartebereich nieder und zog mein Handy aus der Hosentasche. Keine Nachrichten. Es war nicht verwunderlich, denn Gemma schlief vermutlich, genau wie Zayn. Und Louis' Nummer...nun ja. Wir hatten sie nie getauscht. Ein Kontakt war absolut ausgeschlossen. Seufzend schrieb ich Gemma eine schnelle Nachricht.  

H: Hey Gems, ich komme um kurz vor acht in Manchester an. Wenn du das hier liest und wach bist, wäre es schön, wenn du mich holen könntest. Aber mach dir wegen mir bitte keine Umstände. Ich komme schon heim. Bis dann. 

Ich nahm meine Kopfhörer und steckte sie ein, ehe ich Spotify öffnete. Mein Finger schwebte über Tristan's Trainingsplaylist, doch ich konnte sie nicht öffnen. Die letzten zwei Jahre hatte ich sie immer gehört, jeden Tag, rauf und runter. Jetzt kam es mir irgendwie seltsam vor. Jeden Song kannte ich auswendig, ich wusste dass die Playlist insgesamt 122 Minuten und 34 Sekunden lang war. Zu Anfang waren es zwei Stunden der Qual gewesen, nach einigen Monaten wurden sie zu einer Art Trost. Eine Welt, in die ich mich verkriechen konnte. 
Jetzt gerade wollte ich gerne zur Gute-Nacht-Playlist von Louis zurück und mir lieber diese anhören. Sie hatte mich müde gemacht, mich gut fühlen lassen. Ruhig und geborgen. Eine Sekunde überlegte ich, ihn auf Spotify zu suchen, doch ich wusste, wie aussichtslos so etwas war. Ich würde ihn niemals finden. 
Doch ich öffnete die Trainingsplaylist nicht, stattdessen baute ich mir eine eigene zusammen. Es kostete mich eine unglaublich lange Zeit, doch am Ende hatte ich dreißig Songs in "HS Playlist" gespeichert, die mich ansprachen. Einige davon aus Louis' Playlist. Ich startete die Playlist und schloss die Augen. 
Ich wollte einfach nur noch nach Hause zu Gemma. Sie würde mich wieder aufbauen, das wusste ich. 

Und nur wenige Stunden später landete ich endlich im regnerischen England. Es war kühl und grau. Dieses Wetter passte so viel besser zu meiner Stimmung, zu meinem Leben. Ich nahm meinen Koffer vom Gepäckband, nachdem ich so lange gewartet hatte, dass mir sicher graue Haare gewachsen waren. 
Die Kopfhörer fanden ihren Weg zurück in die Hosentasche und ein Blick auf mein Handy sagte mir, dass Gemma in der Vorhalle auf mich wartete. Schnurstracks ging ich genau dort hin und sah mich um. 
Meine Schwester stand an eine der Wände gelehnt. Sie trug einen dicken, braunen Mantel und Stiefel, ihre Haare fielen glatt über ihre Schultern. Als sie mich sah, drückte sie sich von der Wand ab und kam auf mich zu. 
Sofort eilte ich in ihre Richtung und schloss sie in meine Arme, während sie mich fest an sich drückte. "Hey, Bruderherz", sagte sie sanft und leise. 
"Hey, Gems", schluchzte ich auf und sie strich mir über den Rücken. 
"Es wird alles gut, okay? Komm, wir bringen dich heim." 

Auf der Autofahrt berichtete ich ihr unter Tränen was passiert war. Sie hörte mir zu, gab an den richtigen Stellen Kommentare ab, doch sie behielt ihre Meinung für sich. Es tat gut, mir alles von der Seele zu reden. Meine Gedanken kreisten zwischen Louis und Tristan hin und her und als wir das Haus betraten, mein Zuhause, kehrte langsam Ruhe in meinem Körper ein. Ich zog mir die Jacke aus und die Schuhe.
"Ist Mom da?" fragte ich Gems, die nickte. "Wohnzimmer." 
Ich nickte ihr zu und lief zum Wohnzimmer, wo meine Mutter saß. Als sie mich erkannte, machte sie große Augen und stand auf. 
"Mein Junge, wieso bist du denn schon zurück?!" rief sie aus und schloss mich fest in ihre Arme. "Ist nicht so gut gelaufen", murmelte ich und seufzte leise. 
Sie musterte mich und strich mir über die Wange. "Harry, du hast wieder abgenommen. Was ist denn passiert?" fragte sie mich besorgt. 
Ich zuckte mit den Schultern, lächelte sie an. "Schon gut. Ich wollte einfach nach Hause, Mom. Ich gehe mit Gemma in den Garten, okay?" 
Meine Mutter nickte leicht und musterte mich dennoch eindringlich, ehe sie die Schultern straffte. "Danach kochen wir gemeinsam, ja?" 
Dankbar für ihre unaufdringliche Art, nickte ich und küsste ihre Wange. "Ja, machen wir. Bis gleich, Mom." 

"Na los!" forderte Gemma mich auf und wir beide liefen in den Garten und ließen uns auf der alten Hollywoodschaukel nieder. Sie war in die Jahre gekommen, Mom besaß sie schon seitdem ich denken konnte. Ich setzte mich im Schneidersitz neben meine Schwester und seufzte. "Ich werde niemals glücklich werden", flüsterte ich. 
Sie sah mich an. "Aber nur, weil du dich selbst dazu entscheidest." 
Ich sah sie an und verzog gequält die Augenbrauen. "Was soll ich denn tun? Ich kann doch nicht einfach neu anfangen. Tristan und ich wollten heiraten. Wir wollten adoptieren, wir wollten zusammen alt werden. All das..." Ich stockte und schüttelte den Kopf. "Mir wurde all das genommen, noch bevor es losgehen konnte. Ich habe mein Leben verloren, Gemma." 
Sie legte den Arm um mich und schüttelte den Kopf. 
"Das hast du nicht! Du hast etwas sehr, sehr Schlimmes erlebt. Ich weiß. Aber, und das sage ich dir ständig, das ist nicht dein Ende gewesen. Du musst endlich merken, dass du das Recht hast, dich wieder zu verlieben!" 

Ich wischte mir über die Augen und starrte auf den Boden. "Es fühlt sich falsch an", flüsterte ich einfach nur und wieder bemerkte ich, dass ich einfach nicht aus meinen dunklen Gedanken herausfand. 
"Du musst abschließen, Harry." 
Ich sah zu ihr. "Wie soll ich das denn tun? Wie schließt man mit so etwas ab?" 
Sie seufzte und zuckte mit den Schultern. "Ein Anfang wäre es, Tristan's Grab zu besuchen und dich zu verabschieden." 

Sofort verkrampfte ich mich und schüttelte den Kopf. "Das kann ich nicht. Gems, du weißt, ich war nie dort nach der Beerdigung." 
Sie nickte. "Ich weiß. Aber ich denke, dass du das brauchst. Einen Abschluss, Haz. Du hast die Beerdigung geplant und dann bist du aus Doncaster geflohen. Ich denke, dass das ein Fehler war. Tristan war ein so toller Mensch, er würde niemals wollen, dass du dich so quälst. Er wollte all die Jahre immer nur eins. Dass du glücklich bist. Dafür hat er immer gesorgt. Wieso sollte das jetzt anders sein?" 
Ich schluchzte leise leise und legte den Kopf auf ihre Schulter. "Wir wollten uns ewige Liebe schwören und er ist gestorben. Was ist, wenn..." Ich stoppte mich selbst und presste die Lippen aufeinander. 
Sie strich mir durch die Haare. "Was, Haz? Was willst du sagen?" hakte sie sanft nach. 
"Was, wenn Louis auch etwas passiert?" flüsterte ich. 
"Bist du in ihn verliebt?" stellte sie mir die wohl unausweichliche Frage. 
"Ich weiß es nicht. Ich fühle mich eben einfach so gut mit ihm. So viel besser als je...so gut einfach", hauchte ich. 

Gemma umarmte mich und küsste meine Wange. "Denkst du nicht, dass das eine tolle Sache ist? Du hast dein Herz für einen neuen Menschen geöffnet, du hast diesem Louis etwas so Wichtiges gegeben, ein Stück von dir. Du hast ihm vertraut, du hast deine Deckung fallen lassen. Nach dem, was du mir erzählt hast, muss er ein ganz besonderer Junge sein. Warum lebst du diesen Albtraum weiter, anstatt an die Zukunft zu glauben?" 
"An die Zukunft glauben?" fragte ich sie leise. 
Gemma nickte. "Hab Vertrauen, Haz. Vertrauen in die Zukunft, an eine hellere Zeit. Du musst abschließen und dein Herz öffnen." 

Ich sah sie an und schluckte leicht. Oft hatten wir über all dies gesprochen, doch so direkt hatte sie mir nie ihre Gedanken mitgeteilt. Sie hatte recht, ich hatte es mir ausgesucht, in diesem Albtraum zu wandeln und nicht mehr davon aufzuwachen. Erst Louis hatte Licht in meine Welt gebracht. Ein kleines Licht, aber es war da und ich war direkt darauf zugeflogen, wie eine Motte, die das Licht zum Überleben braucht. Zwei Jahre lang hatte ich das Gefühl zu ertrinken, aber mit Louis an meiner Seite hatte ich plötzlich das Gefühl von frischer Luft in der Lunge, einen Moment des Vertrauens und der Fähigkeit, richtig zu atmen. Es fühlte sich so gut an, aber gleichzeitig jagte es mir eine Heidenangst ein, als ob ich dieses Licht nicht verdient hätte. Tristan hatte einen so schrecklichen Tod, er war allein gewesen und ich hatte mich entschieden, mit ihm wegen seines Trainings zu streiten, anstatt ihn bedingungslos zu unterstützen. Ich wählte einen Streit statt eines Abschieds. Das war es, von dem ich wusste, dass ich es mir niemals verzeihen könnte, nicht in einer Million Jahren. 

Könnte ich jetzt, wo ich einen Blick in die Zukunft geworfen habe, die ich haben könnte, anfangen, mir selbst zu vergeben und die Trauer hinter mir zu lassen? War ich etwas Neues wert? Ich war mir nicht sicher und die Tränen fielen wieder, ich wischte sie mir aus dem Gesicht. Mit dem Ende meines Kapuzenpullis wischte ich die Tränen weg, die nie zu enden schienen.
„Was ist, wenn ich nach Doncaster fahre und es mich noch mehr zerstören wird?" fragte ich leise und sah meine Schwester an, Angst durchströmte meinen Körper.
Sie lächelte mich sanft an.
"Wenn das der Fall ist, dann weißt du, dass du noch nicht bereit warst. Aber ich glaube wirklich, dass es dich heilen wird, mein liebster Bruder. Es wird dich und deine schöne Seele heilen. Versuche wenigstens, mir zu vertrauen, okay?" antwortete sie mir sanft.
Ich sah sie unsicher an. Ihr Lächeln war sanft und sie schien sich ihrer Sache so sicher zu sein. Und das war der Grund, warum ich nach einer Weile schließlich nickte und einen tiefen Atemzug nahm.
"Na gut. Ich werde nach Doncaster fahren." 

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