35. ERROR
Erschrocken drehte ich mich um und blickte geradewegs in Louis Augen.
Wie hatte er mich denn jetzt bitte schon wieder gefunden? Und woher zum Teufel wusste er, wo ich war? Hatte Nesrin etwa geplappert?
Ich wollte nicht, dass er mich so sah.
Nicht nur mein Herz, sondern auch mein Pulsschlag beschleunigte sich, denn ich war immer noch unendlich sauer auf ihn. Aber um diesen Mist wollte ich mich jetzt nicht kümmern. Immerhin war ich hierher gekommen, um mich von meinen Eltern gemäß zu verabschieden.
Die kalte Erde bohrte sich weiter in meine Beine. Meine Augen fanden das Grab meiner Eltern wieder.
Louis' Hand berührte mein Kinn und drehte meinen Kopf so, dass ich ihn wieder ansehen musste. "Ist schon okay... ich habe dich bereits öfters weinen sehen...", flüsterte er mit ruhiger Stimme.
Erneute Tränen tropften aus meinen Augen und befeuchteten die ohnehin schon nasse Erde. Es hatte wieder angefangen zu regnen. Das Wetter passte perfekt zu meiner jetzigen Stimmung.
"Deine Eltern... sind also wirklich...?", fing er vorsichtig an.
Wieso fragte er jetzt so dumm? Hatte er denn keine Augen im Kopf? Wie konnte er es nur wagen?! Wut staute sich in mir. Außerdem wusste er es doch eh schon, wegen der Sache in der Schule.
"Ja, sie sind tot", presste ich mühsam ruhig hervor.
"Das tut mir alles sehr leid, Serena."
"Was willst du hier, Louis? Mich noch mehr auf den Boden bringen? Das hast du geschafft. Herzlichen Glückwunsch. Jetzt kannst du zurück zu deiner Eleanor gehen!", schrie ich ihn an.
"Ich bin hergekommen, um dich zu unterstützen. Das mit Eleanor war alles nur ein riesen Missverständnis. Aber ist jetzt egal. Es ist im Moment wichtiger, dass du dich jetzt von deinen Eltern verabschiedest. Wir sollten uns irgendwo ein Hotel oder so etwas ähnliches besorgen. Wenn wir hier noch länger draußen sind, werden wir nämlich beide krank", redete er auf mich ein.
"Ist mir egal", meinte ich verbohrt.
"Serena... bitte. Wir können morgen, bevor wir wieder zurück nach Doncaster fahren, noch einmal herkommen."
Was hatte er da gerade gesagt?
"Louis, es gibt kein wir. Nicht mehr. Lass mich einfach in Ruhe", zischte ich, noch immer stocksauer.
"Nein, Serena, das werde ich nicht. Ein weiterer Grund, weshalb ich hier bin ist, dass ich um dich kämpfen will. Um uns." Der Typ ließ einfach nicht locker.
Aber aus irgendeinem Grund berührten mich seine Worte. Louis streckte mir seine Hand entgegen. Widerwillig, da ich wusste, dass er eh nicht nachgeben würde, ergriff ich sie.
Ich warf einen letzten Blick zum Grab meiner Eltern.
"Bis Morgen", flüsterte ich so leise wie möglich und drehte mich um.
Gespannt, wohin wir nun gehen würden, folgte ich Louis langsam. Er war doch tatsächlich mit seinem Auto hergefahren.
Die einzige, die wusste, dass ich hier war, war Nesrin. Mit ihr musste ich mal ganz klar ein ernstes Wörtchen reden.
Im Auto war es, ganz im Gegensatz zu draußen, wie in der Sauna. Ich konnte ein Frösteln nicht unterdrücken, als ich einstieg. Louis bemerkte es sofort und legte mir seine Jacke um die Schultern.
Dann fuhren wir los in Richtung Innenstadt. Es dauerte gar nicht lange, bis wir ein Hotel gefunden hatten das nicht zu teuer war und zudem noch sehr gemütlich aussah.
Louis regelte alles beim Empfang ab, während ich mich ein bisschen umschaute.
War das wirklich eine gute Idee mit ihm hier zu sein? Ich hatte gar keine Zeit mehr um darüber nachzudenken, da er schon meine Hand geschnappt hatte und mich hinter sich herzog. Mein Blick fiel auf seine andere Hand in der er meine Tasche hielt. Seufzend ließ ich mich in den Fahrstuhl ziehen.
Aus Filmen wusste ich genau, was hier drinnen immer passierte.
Ich versuchte die Luft anzuhalten und Louis nicht anzusehen. Mir wurde richtig heiß, anscheinend hatte ich den Kampf gegen meine Platzangst doch noch nicht gewonnen. Nebenbei fiel mir noch auf, dass er meine Hand immer noch hielt. Die Haut fing genau an der Stelle an zu kribbeln. Verdammt, und genau das wollte ich nicht.
Die Tür schwang auf und Lou grinste mich an.
"Serena, du kannst jetzt aussteigen. Und nein, ich hatte nicht vor dich zu küssen", lachte er amüsiert.
Verlegen guckte ich auf den weißen Marmorboden und merkte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss. "Schön, dass du dich so amüsierst."
Vor einer Zimmertür blieben wir stehen. Er drückte mir meine Tasche in die Hand und sah mich erwartend an. Dann kam er auf mich zu, gab mir einen Kuss auf die Stirn und murmelte ein 'Gute Nacht'.
Verwirrt blickte ich ihm hinterher, als er auf das Zimmer nebenan zuging und die Tür aufschloss.
Er hatte uns tatsächlich Einzelzimmer besorgt.
Schnell öffnete ich ebenfalls die Tür und trat über die Schwelle. Das Zimmer war schön eingerichtet, am meisten gefiel mir das große Bett, in das locker zwei Leute gepasst hätten. Mein Weg führte mich in das Bad. Der Spiegel in dem ich mich begutachtete war riesig.
Und ich musste sagen: ich sah gerade wirklich aus, wie der Tod höchstpersönlich.
Mit dem Waschlappen fuhr ich mir mehrere Male über das Gesicht. Jetzt sah das ganze schon besser aus. Die braunen Haare lagen mir schlaff über den Schultern, aber ich hatte im Moment nicht mehr die Kraft dazu, Duschen zu gehen. So verschob ich das auf morgen früh.
Mit geröteten Wangen und im Schlafanzug verließ ich schließlich das Badezimmer und schmiss mich aufs Bett. Die weiche Matratze sank unter meinem Gewicht leicht ein.
Ich presste meine Augen zusammen und versuchte einzuschlafen.
Nach ungefähr einer halben Stunde lag ich noch immer hellwach im Bett. Als ich auf dem Weg ins Zimmer nebenan war, konnte ich echt nicht glauben, dass ich dies tat.
Warum musste ich Louis verdammt nochmal immer praktisch in den Arsch kriechen?
Noch einmal atmete ich tief ein, bevor ich leise aber doch hörbar klopfte. Man hörte wie sich drinnen etwas regte, dann kamen schwere Schritte auf die Tür zu, und schon sah ich in Louis' verschlafenes Gesicht.
"Hey. Ich kann nicht schlafen und wollte fragen, ob..."
"Komm rein", murmelte er schlaftrunken. Seine raue Stimme war fast nicht zu überhören, zumindest für meine Ohren. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen, und stiefelte etwas schüchtern an ihm vorbei. Er deutete auf das Bett.
"Du kannst im Bett schlafen. Ich nehme die Couch", bestimmte er und taumelte in Richtung Sofa.
"Louis, du hast da etwas nicht verstanden. Ich kann nicht einschlafen und das Bett ist übrigens groß genug für zwei Leute."
Irgendwie war diese Situation schon ziemlich Klischeehaft.
"Was willst du dann jetzt machen?", fragte er.
"Keine Ahnung. Beschäftige mich irgendwie." Erst als ich es gesagt hatte, begriff ich wie zweideutig das geklungen hatte.
"Können wir nicht wie normale Leute um diese Uhrzeit einfach schlafen?", fragte er und sah mich ernst an.
Ein Kichern meinerseits konnte ich nicht unterdrücken, weil ich diesen Satz irgendwie äußerst lustig fand.
Lou warf mir einen seltsamen Blick zu und setzte sich neben mich auf das Bett. "Erzähl mir ein bisschen was aus deiner Vergangenheit."
Sofort verschwand mein Grinsen. Er wollte etwas aus meiner Vergangenheit wissen? War ich dazu imstande? Ich schluckte hart. Ein seltsames Gefühl breitete sich in meinem Körper aus, niemand hatte mich bisher so direkt gefragt, wie meine Vergangenheit gewesen war.
Kurz entschlossen begann ich zu erzählen, vielleicht brachte es etwas, mich endlich jemandem anzuvertrauen der nicht Nesrin hieß; und noch dazu ein "Außenstehender" war, was diese Situation betraf.
"Naja... ähm... meine Eltern sind bei einem Autounfall gestorben und wir haben uns vorher gestritten... und danach..."
F L A S H B A C K
Gerade war ich endlich aus dem Krankenhaus gelassen worden.
Die Ärzte hatten ja unbedingt darauf bestanden, mich nach dem Vorfall mit meinen Eltern untersuchen zu müssen. Angewidert von dem Gestank meiner Klamotten war ich auf dem Weg nach Hause. Das Haus war komplett dunkel und total leer. Das war nicht mehr mein Zuhause. Müde und wild entschlossen, von hier abzuhauen, packte ich das nötigste zusammen. Es lohnte sich nicht mehr, um irgendetwas zu kämpfen, ich hatte alles verloren was mich hier gehalten hatte.
Der Unfall erschien mir wie ein schlimmer Alptraum. Ich dachte wirklich, dass meine Eltern jeden Moment durch die Tür hereinspazierten und den nächstbesten Streit mit mir anfingen. Aber das passierte nicht. Traurig packte ich mir noch das letzte Geld, dass ich finden konnte in meine Hosentaschen.
Wohin ich jetzt gehen würde?
Zu meiner besten Freundin Nesrin, nach Doncaster. Sie hatte mich schon vor ein paar Wochen gefragt ob ich zu ihr kommen würde, sobald ich endlich 18 Jahre alt war, da sie immer mitbekommen hatte wie sehr es zwischen mir und meinen Eltern kriselte. An der Bushaltestelle guckte ich mir die ganzen Pläne für die Strecken an. Der nächste Bus nach Doncaster ging erst Morgen früh. Das hieß, ich hatte also noch Zeit. Da ich ja noch genügend Geld hatte, überlegte ich gerade ob ich in einen Club gehen sollte. Ein bisschen Alkohol würde bestimmt nicht schaden.
Der nächstbeste Club war das Pio. Entspannt lief ich darauf zu. Der Türsteher wollte meinen Ausweis sehen, und glücklicherweise war das Pio ab 16 Jahren freigegeben. Und schon war ich durch. Mit meinen Sachen im Schlepptau lief ich geradewegs auf die Bar zu, und bestellte mir gleich das erste Getränk.
Ungefähr sechs Gläser später hatte ich immer noch nicht genug, und das obwohl ich eigentlich schon richtig zu war. Aber es kümmerte mich nicht. Das einzige was ich wollte, war den Kummer und die Schmerzen loszuwerden.
Irgendwann machte der Club dann auch zu, was hieß, dass ich gehen musste. Wo sollte ich jetzt hin, bis der Bus morgen früh losfuhr? Total besoffen torkelte ich über die Straße.
Schließlich konnte ich nicht mehr vor lauter Müdigkeit und legte mich irgendwo schlafen.
F L A S H B A C K E N D E
Louis atmete aus. Seine Miene war erschrocken. Was er jetzt wohl von mir dachte?
"Hast du das dann noch öfters gemacht?", hakte er nach und zog seine Augenbrauen nach oben.
Mit meinem Finger pulte ich ein paar Fussel aus dem Sofa. "Nein, ich bin am nächsten Morgen dann direkt nach Doncaster gefahren und habe im Bus meinen Rausch ausgeschlafen."
Er nickte bedächtig und schien über etwas nachzudenken.
Verdammt, warum hatte ich ihm das bloß erzählt?
"Komm, wir sollten besser schlafen, der Tag wird morgen sehr lang und ja...", meinte Louis und legte sich hin und knipste die Lampe aus.
Ich tat es ihm gleich, jedoch kehrte ich ihm den Rücken zu. Ich hatte keine Lust ihn jetzt anzusehen. Trotzdem konnte ich seinen Blick genau auf meinem Rücken spüren. "Serena, bitte versprich mir, dass du sowas nie wieder machst okay?", murmelte er schon fast schlafend.
Ich nickte, aber dann fiel mir gleich ein, dass er es nicht sehen konnte, weil es ja schon dunkel war.
"Okay", flüsterte ich.
Dann spürte ich einen Arm an meiner Taille, der ja wohl eindeutig zu Lou gehörte. Er zog mich näher an sich heran, so nah, dass ich seinen gleichmäßigen Atem an meinem Hals spüren konnte. Das hauchte mir natürlich sofort wieder eine Gänsehaut über meinen Körper. Bevor ich noch weiter über irgendwas nachdenken konnte, war ich auch schon in einem Land, in dem alles für eine Weile vergessen war.
Im Land der Träume.
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