24. "BIG GIRLS DON'T CRY"
Schweißgebadet fuhr ich hoch.
Die Haare klebten an meinem Kopf, so war mir die Sicht versperrt und ich wusste als erstes nicht wo ich war.
Verwirrt tastete ich nach irgendeinem Lichtschalter, doch da fiel mir alles ein. Ich war schon wieder in einem Heim. Mir verblieben hier noch genau zwei Tage, ehe ich volljährig war und somit verschwinden musste. Eines stand fest; jetzt konnte ich sicher nicht mehr schlafen.
Schnell schnappte ich mir mein Handy, zog eine Stoffjacke drüber und stellte mich ans Fenster. Es war ziemlich kalt draußen und regnete noch immer. Vereinzelt sah man ein paar Sterne am Himmel, aber dann kam schon die nächste Wolke. Das Wetter stellte ungefähr meine Laune dar. Ich stöpselte mir die Kopfhörer ein und drückte auf mein Lieblingslied.
'The smell of your skin lingers on me now
You're probably on your flight back to your home town
I need some shelter of my own protection, baby
To be with myself and center
Clarity, peace, serenity', hallte es in meinen Ohren.
Das Lied hatte meine Mom mir immer vorgesungen, als ich geweint hatte. Ich erinnerte mich noch genau an das eine Mal...
Es kam mir vor, als wäre es gestern gewesen und sie würde mich noch immer fest in ihren Armen halten.
F L A S H B A C K
Gerade noch hatte ich in meinem Sandkasten gesessen und friedlich mit Leon gespielt. Bis er mir gesagt hatte, dass es bei Betty viel mehr Spaß machte als bei mir. Er war aufgestanden und nach Hause gelaufen.
Ich rannte weinend nach drinnen und suchte meine Mutter.
Sie saß auf dem Sofa und las gerade Zeitung, mein Dad war auf der Arbeit. Als meine Mom die Tränen sah, stand sie auf und kniete sich vor mich. Ich erzählte ihr die ganze Sache von gerade eben.
So wie immer begann sie Big Girl's Don't Cry von Fergie zu singen. Ich fiel ihr währenddessen um den Hals und drückte sie eng an mich, sehr glücklich so eine tolle Mummy zu haben.
F L A S H B A C K E N D E
'And Big Girl's Don't Cry...'
Gerade bei dieser Stelle, kullerte mir eine riesengroße und dicke Träne die Wange herunter. Eigentlich wollte ich auf den Text des Liedes hören; ein großes Mädchen sein und nicht weinen.
Aber es ging nicht, ich vermisste meine Eltern zu sehr.
Bei dieser Erinnerung war ich vielleicht einmal sechs oder sieben Jahre alt gewesen.
Ich hatte noch nicht so wirklich über meine Eltern nachgedacht, seit ich in Doncaster war. Kein Wunder, entweder hatte ich keine Zeit gehabt oder alles verdrängt. Aber nun... nun übermannten mich die Gefühle praktisch.
Ich guckte auf mein Handy, wir hatten zwei Uhr.
Plötzlich spürte ich eine Hand an meiner Schulter und wäre fast im Dreieck gesprungen.
"Was machst du denn schon so früh auf?", fragte Tatze neugierig und fuhr sich durch die blonden Haare.
"Spinnst du?! Deinetwegen hätte ich gerade eben fast einen Herzinfarkt bekommen! Ich kann dich Anzeigen wegen versuchtem Mord!", zischte ich und schlug ihre Hand weg.
"Das beantwortet meine Frage nicht. Hast du etwa geweint?"
Man, wieso war sie nur so hartnäckig? Ich konnte Menschen nicht ausstehen, die in alle Angelegenheiten ihre Nase hineinsteckten; aber sie war aus irgendeinem Grund die Ausnahme.
Irgendwie fühlte ich mich ertappt. Und ich wollte mich nicht ertappt fühlen, weil ich meine Gefühle lieber verbergen wollte, als sie mit anderen zu teilen.
"Nein, wie kommst du denn auf die Idee?", winkte ich ab, und fuhr mir einmal schnell über meine Augen, um die letzten Tränen auch noch wegzuwischen.
"Ich hatte nur etwas im Auge und..."
Sie ließ mich gar nicht aussprechen. "Deine Augen... außerdem merke ich es, wenn Leuten in meiner Umgebung etwas am Herzen liegt. Nennen wir es mal Begabung oder Gespür für solche Dinge. Also fangen wir mal so an... dein Kummer ist entweder wegen eines Jungens oder einem Streit entstanden."
Woher wusste sie das nur? Verwirrt hob ich die Brauen und ließ somit zu, dass sie sich in der Mitte meiner Stirn trafen. Zudem schaute ich sie fragend an.
Meine Mitbewohnerin verdrehte nur die Augen.
"Du hast im Schlaf laut geredet, weshalb ich erst nicht einschlafen konnte. Es kamen Worte wie 'Louis', 'Streit' und 'Nesrotin' dabei heraus. Und das laute denken solltest du dir auch unbedingt abgewöhnen. Leute wie dich kann man sehr leicht durchschauen, da braucht man kein Hellseher für zu sein. Glaub mir, ich habe Erfahrung", antwortete sie und strich sich eine verirrte Strähne aus dem Gesicht.
Ich musste etwas schmunzeln und wusste als erstes gar nicht was ich sagen sollte.
"Sie heißt Nesrin...", flüstere ich um sie zu verbessern.
Eigentlich hatte ich gedacht, dass sie vor mir eingeschlafen war. Und seit wann redete ich bitte im Schlaf? Das war mir vollkommen neu. Seit ich hier in Doncaster lebte, kamen allgemein ein paar Dinge an das Licht, die wohl lieber in ihrer dunklen Welt geblieben wären.
"Nein ich bin nur kurz eingenickt und musste auf die Toilette. Als ich wieder kam, hast du geredet. Und das mit dem Sprechen kommt öfters nach traumatischen Erlebnissen vor. Ich habe bereits Erfahrungen was diese Dinge betrifft."
"Hör auf dich in meine Gedanken einzumischen, verdammt nochmal!", zischte ich.
War sie etwa Psychologin von Beruf? Konnte sie damit auch Aggressionen gegen andere Menschen bändigen?
Okay, irgendwie war ich auf meinen Kopf gefallen, in meinen Gedanken spielte alles verrückt; sie waren kurz davor mit mir durchzugehen.
"Sagte die, die so laut denkt und im Schlaf redet, dass man es nicht ignorieren kann!", konterte sie.
Ich kletterte auf das Stockbett und versuchte sie für die Zukunft zu ignorieren. Klappte aber nicht, weil das blonde Mädchen ebenfalls nach oben geklettert kam und sich neben mich setzte.
Was fiel ihr eigentlich ein? Konnte man mich auf Körperverletzung verklagen, wenn ich sie ausversehen vom Bett schubste?
Angewidert legte ich mein nass geschwitztes Kissen auf die Seite und lehnte mich an das blanke kalte Holz; weit, weit weg von der Vogelscheuche.
Wir starrten uns an und eine unangenehme Stille machte sich breit.
"Was ist passiert? Warum bist du hier?", fragte sie schließlich. Schon wieder diese Neugierde. Mein Magen zog sich zusammen, als ich an den Grund dachte.
"Lange Geschichte", murmelte ich und hoffte innerlich darauf, dass sie nun lockerlassen würde. Aber wie es der Zufall wollte...
"Ich habe Zeit." Wieso war ich mir nur sicher gewesen, dass sie nicht lockerlassen würde?
Meine Mundwinkel zuckten und ich überlegte noch einen kurzen Moment, bevor ich ihr mein ganzes bescheuertes Leben vor die Füße kippte.
*
Etwas Schweres lag auf meinen Beinen.
Verschlafen streckte ich mich und hätte fast eine noch immer schlafende Tatze vom Bett geschmissen. Ich konnte sie gerade noch festhalten, verlor aber das Gleichgewicht und wir fielen beide vom Bett.
Unsanft landeten wir auf dem Holzboden.
Anzeige ahoi.
"Was geht denn mit dir ab? Geh runter von mir, du zerquetschst mich! Hast du grade versucht mich zu vergewaltigen?!", schrie Tatze mich an.
Ich bekam den heftigsten Lachanfall meines bisherigen Lebens. Ohne Witz, mir liefen die Lachtränen an den Wangen herunter. Verdammt, nie hätte ich damit gerechnet, dass es im Heim so witzig werden würde.
"Du bist fast vom Bett gefallen, ich wollte dich festhalten hab das Gleichgewicht verloren, und siehe da... Wir liegen auf dem Boden", presste ich hervor und prustete erneut los. Mit einem Finger wischte ich mir die Tränen aus dem Augenwinkel und betrachtete mein Gegenüber. Sie stimmte mit in das Gelächter ein. Dann war das ja auch endlich geklärt.
Im Bad nahm ich zuerst einmal eine heiße Dusche. Das Wasser prasselte auf meinen Rücken und hauchte mir eine Gänsehaut über den ganzen Körper.
"Und du hast mich sicher nicht vergewaltigen wollen?", vergewisserte sie sich zum tausendsten Mal, auf dem Weg zum Frühstück.
"Nein wollte ich sicher nicht, ich stehe nicht auf Frauen. Selbst wenn, wärst du nicht mein Typ."
"Willst du mich verarschen?", empörte Tatze sich.
Ich kicherte nur und wir setzten uns an einen freien Tisch. Das erste Frühstück, wieder in einem Heim.
Es gab Haferbrei. Als alles serviert war, ließ ich meinen Blick über die ganzen Leute schweifen. Die Kinder sahen ziemlich heruntergekommen aus. Mein Blick stoppte bei einem blondhaarigen Jungen, etwa mein Alter. Er drehte sich herum, mein Blick traf auf seinen.
Mir wäre fast der Löffel im Hals stecken geblieben.
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