03. ORIENTIERUNGSPROBLEME

"Drei bis vier Stunden! Ha, genau. Du hast ja ewig gebraucht! Und wieso war dein Handy aus?", redete sie auf mich ein.

Solche "Vorwürfe" durfte ich mir jetzt schon seit fast gut einer halben Stunde anhören. Und immer, wenn ich mich verteidigen oder etwas erklären wollte, unterbrach sie mich, und startete nochmal von vorne mit ihren Standpauken. Das hatte ich weniger vermisst, sie kam mir schon fast ein bisschen wie meine Mutter vor. Wenn ich an meine Mutter dachte, kamen mir sogar beinahe die Tränen dabei. Schnell wischte ich diese, für mich unerträglichen Gedanken, beiseite.

"Akku leer. Ich wusste nicht, wo die Straße ist, okay?", plapperte ich einfach dazwischen und kratzte an meinem einen Fingernagel herum.

"Oh", sagte sie leise und schielte auf den Boden unter unseren Füßen.

"Ja genau! Oh." Wir fingen an zu lachen. Dabei war ich ein klein wenig sauer, dass sie mir den Weg nicht genauer beschrieben hatte, und, dass so ein dahergelaufener psychischer Streifen hatte tun müssen. Warum hatte ich mir nur keine Karte eingepackt? Oder am besten noch einen Kompass. Wenn mein Handy Akku nicht tot gewesen wäre, dann hätte ich auch meinetwegen Google Maps genommen. Alles wäre mir recht gewesen, aber nicht diese Begegnung mit Louis. Ha, mir war der Name wieder eingefallen.

"Wie hast du sie dann hergefunden?", fragte sie neugierig.

Gute Frage, Sasar. Hast du noch eine bessere auf Lager?

"Ach, so ein Typ hat mir geholfen", druckste ich ein wenig herum.

"Aha, so ein Typ also. In Ordnung. Komm, ich muss dir jetzt jemanden vorstellen." Anhand ihrer Stimme erkannte ich, dass sie auf einmal ein wenig aufgeregt war. Ich musste mir das Lächeln verkneifen; was sie immer gleich für Sachen dachte. 

Nes liebte so ziemlich jeden Menschen; sie brachte automatisch die gute Seite in einem Menschen hervor. 

Meine beste Freundin zog mich ins Wohnzimmer. Ich guckte mich um und sah einen Jungen auf dem Sofa sitzen. War der Typ von Beruf etwa Model? Er war zumindest bildhübsch... und anscheinend die geheimnisvolle Person, die sie mir unbedingt hatte vorstellen wollen.

"Das ist mein Freund, Zayn. Zayn das ist meine beste Freundin Serena", stellte sie uns einander vor und ich begutachtete den gebräunten Typen mit den schwarzen Haaren und den dunklen schokobraunen Augen misstrauisch.

"Hi. Von dir habe ich schon viel gehört", sagte er, lächelte mich freundlich dabei an.

"Cool. Ich von dir fast gar nichts", meinte ich schnippisch.

Er schaute mich ein bisschen entgeistert an. War ich etwa ein besonders seltenes Tier oder wieso starrte er, als würden ihm die Augen bald aus den Höhlen fallen?

"Hey, guck doch nicht so. Das war ein Scherz", meinte ich völlig entspannt. Die beiden atmeten anscheinend sehr erleichtert aus, dann mussten sie loslachen. Das war echt ansteckend, weswegen auch ich mitmachen musste.

"Serena! Du bist so ein Arschkeks." Sie gab mir eine Kopfnuss. Das hatte mich jetzt wirklich zutiefst verletzt. Ein besserer Spitzname fiel ihr nicht ein? Okay, ich war ja zugegebenermaßen schon echt froh, dass sie mich nicht wieder Sel nannte. Der Name war nämlich der absolute Horror.

"Komm mit, ich zeige dir dein Zimmer", blökte sie begeistert in mein Ohr.

"Ich muss dann mal los, Schatz", wandte sich dieser Zayn an meine beste Freundin und drückte ihr einen Kuss auf den Mund. 

"Aw! Ihr beiden seid so süß zusammen", rutschte es aus mir heraus. Sowas wie die beiden waren, also ein Paar, konnte ich eigentlich nicht wirklich ausstehen. Diese ganzen Pärchen führten sich immer wie in solchen Schnulzen wie Twilight auf. Okay, vielleicht lag das daran, dass ich noch nie eine echte Beziehung gehabt hatte. Ein Gefühl wie Liebe zwischen Männlein und Weiblein kannte ich nicht. 

Sie lösten sich voneinander und beäugten mich spöttisch.

"Ciao, kleine", verabschiedete er sich nun auch von mir.

"Man sieht sich, Zayn", rief ich ihm hinterher und winkte kurz.

Der Typ war lustig. Die beiden passten perfekt zusammen, wie ich trotz meiner pessimistischen Einstellung fand. Nesrin schnappte sich ohne Vorwarnung meine Hand und zog mich die Treppen hoch. Mein Zimmer war klein, aber fein. Hier würde ich mich mit Sicherheit sehr wohlfühlen.

"Mach es dir gemütlich und fühl dich bitte wie zu Hause. Immerhin ist das ja dein neues Zuhause." 

"Danke, Süße." Ich strich ihr mit meiner rechten Hand über die Schulter, während sich in meinem Körper eine wohlige Wärme ausbreitete.

"Kein Ding. Du hast Morgen übrigens Schule." Seufzend setzte ich mich aufs Bett; dachte als erstes, dass ich mich verhört hatte. Als mir allerdings klar wurde, dass dies nicht der Fall war, hegte ich insgeheim einen minimalen Groll gegen meine beste Freundin. Die Schule hatte ich nicht vermisst.. und ich würde sie auch nie vermissen. Aber ich musste mein Abitur nachholen, wenn ich etwas aus meinem Leben machen wollte. 

"Was ist los?", wollte sie erfahren und setzte sich neben mich.

"Ich habe keine Lust auf Schule. Ich kenne da niemanden. Und man muss so viel lernen... und wie soll das mit der Anmeldung überhaupt funktionieren?", nörgelte ich und spielte an dem Reißverschluss meiner Tasche herum, die neben mir lag.

"Sieh es mal so: Du machst Abitur und bekommst eine tolle Arbeit. Und damit wiederum verdienst du Geld. Und keine Sorge, darum habe ich mich gekümmert", meinte sie und versuchte dabei sehr optimistisch zu klingen. 

In diesem Punkt hatte sie aber ausnahmsweise einmal Recht.

"Und Zayn ist übrigens ein Referendar an der Schule, die du besuchen wirst."

Als sie Zayn erwähnte, blitzte das Leben in ihren Augen auf und ich musste automatisch aufgrund dessen breit lächeln.

"Na, wenigsten etwas. Juhu, ich kenne eine Person!", freute ich mich gekünstelt und lehnte mich wieder gegen das Polster. 

Nesrin lachte los; wie sehr hatte ich das vermisst. Wenigstens hatte ich sie nun wieder und konnte sie in meine Arme schließen. Sie war wie eine Art Ersatz für meine Eltern, denn ich brauchte immer jemanden zum Kuscheln oder zum Reden.

"Ich muss jetzt gleich zur Arbeit. Wir haben heute eine Menge Vorstellungsgespräche und dadurch, dass du so kurzfristig hierher gefahren bist, konnte ich meine Schicht leider nicht mehr verschieben", seufzte meine Freundin und erhob sich aus ihrer gemütlichen Position.

"Mach dir keinen Kopf, ich komme in der Zeit schon alleine klar. Außerdem bin ich dir schon dankbar genug, dass du mich bei dir aufgenommen hast. Wo arbeitest du eigentlich?", fragte ich.

"Okay. Gerne, dafür sind Freunde da. Hauptberuflich schreibe ich Bücher und als Nebenjob bin ich bei Starbucks angestellt."

Wow! Sie hatte also wirklich ihren Traum verwirklicht. Innerlich wuchs der Stolz, den ich für meine beste Freundin empfand. Dies zeigte mir aber auch mal wieder, dass ich unbedingt mehr lesen musste. Aber Bücher und ich waren zwei komplett verschiedene Welten. Ich zählte mich zu der Sorte Leute, die lieber die Filme zu den Büchern anschauten.

"Also, ich bin dann mal weg."

"Wir sehen uns, Liebes."

Ich drückte sie fest an mich. 

Als sie das Haus letztendlich verlassen hatte, schaute ich mich nochmal genau im Zimmer um. Grün gestrichene Wände und Dielenboden; erinnerte mich ein bisschen an mein altes Zimmer. Ich war ein wenig fasziniert darüber, dass sie sich das alles hatte leisten können. Zu dem Stolz, den ich für sie empfand, mischte sich nun auch die Bewunderung.

Dann kam mir auf einmal ein Gedankenblitz: eigentlich hätte ich doch mit zu Starbucks gehen können. Hatte sie nicht gesagt, dass heute eine Menge Vorstellungsgespräche waren? 

Da ich das Geld brauchte, beschloss ich mich direkt auf den Weg zu machen. Mit pochendem Herzen stürmte ich aus dem Haus und hatte dabei hatte nur ein winziges Problem vergessen: ich kannte den Weg nicht und das Internet meines frisch aufgeladenen Handys war noch immer viel zu langsam.

Und schon stand ich wieder auf der Straße.

Völlig alleine; nur mein miserabler Orientierungssinn leistete mir Gesellschaft.

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