01. WIE ICH NACH DONCASTER KAM

S E R E N A

Mein Kopf dröhnte unwahrscheinlich schmerzvoll, als ich auf irgendeiner Parkbank mitten im Nirgendwo und komplett ohne irgendwelche Erinnerungen aufwachte.

Der Kater machte sich deutlich bemerkbar, ich hielt mir stöhnend den Kopf.

Währenddessen schlich sich eine halbwegs angenehme Kälte um meine Beine herum, eine Gänsehaut breitete sich auf meinem Körper aus.

Was war noch einmal passiert?

Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, musste ich mir eine Weile die Schläfen massieren und dann fiel es mir auch schon wieder ein. Wie hatte ich nur vergessen können, dass meine Eltern bei einem Autounfall gestorben waren und ich mich mit meinen 17 Jahren beinahe bis zum Koma getrunken hatte?

Und das alles nur um die Schmerzen und die Trauer zu verdrängen.

Seit ein paar Tagen war ich also komplett Waise. Ein echt beschissenes Gefühl, das musste ich zugeben. Doch irgendwie brachte ich es noch immer nicht zustande, auch nur eine einzige Träne zu vergießen, zu tief saß dafür der Schock in meinen Knochen.

Ich konnte oder besser gesagt wollte es nicht glauben. Das Ereignis kam mir so surreal vor.

Die obere Gewalt, auch Jugendamt genannt, hatte mich zwar sofort in ein Heim gesteckt, doch nicht einmal das hatte mir bewiesen, dass sie wirklich von uns gegangen waren.

Und es war meine Schuld gewesen... zumindest ließ mich mein Gewissen so fühlen.

Dort in diesem Heim hatte ich jedoch nicht bleiben wollen, deshalb war ich mit meinen wenigen Habseligkeiten ausgebrochen, in einen Club gegangen und hatte fast mein gesamtes Bargeld für Alkohol ausgegeben. Nun lebte ich nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch auf der Straße. Es war eisig kalt und irgendwie begann ich meine Entscheidung bereits jetzt zu bereuen; aber ich wollte auf gar keinen Fall zurück in diese Hölle.

Ich überlegte kurz, welcher Tag heute war. Samstag. Oder doch Sonntag? Nein, es musste ein Samstag sein. Die Kopfschmerzen verwirrten mein armes Hirn total; zu viel Anstrengung. Ich war gerade einfach nicht in der Lage richtig zu denken, dennoch versuchte ich mit aller Kraft mich zusammenzureißen.

Meine beste Freundin tauchte vor meinem geistigen Auge auf und ich begann darüber zu grübeln, wie lange ich von Glasgow nach Doncaster brauchen würde; der Bus fuhr bestimmt über drei Stunden.

Schluckend warf ich einen Blick in meinen Geldbeutel.

Der Wunsch, die Stadt zu verlassen und einfach zu verschwinden, wurde mit jeder vergehenden Sekunde immer größer und auf einmal war mir alles egal; sogar unser Haus. Nein, unser ehemaliges Haus. Unser einst so schönes und total belebtes Haus. Da ich nach wie vor eine Minderjährige war und nicht alleine für mich sorgen konnte, hätte ich es vermutlich niemals alleine übernehmen können. Also würde ich es wahrscheinlich so oder so verlieren; völlig egal, ob ich nun hier blieb oder nicht.

Also kratzte ich tatsächlich mein letztes Geld für den Bus zusammen. 15£ waren von der gestrigen, üppigen Party, übrig geblieben. Hoffentlich würde das Geld für die Busfahrt reichen.

Ich packte meine wenigen Sachen zusammen und machte mich auf den Weg.

Warum ich plötzlich unbedingt nach Doncaster wollte?

Meine beste Freundin Nesrin hatte seit ihrem ersten Tag von dieser Stadt geschwärmt. Sie wohnte dort schon mindestens sechs Monate und das komplett ohne Eltern. Ohne irgendjemanden, den sie kannte. Ohne irgendjemanden, der ihr vorschrieb, was sie zu tun und zu lassen hatte. 

Wir hatten seit ihrem Umzug fast jeden Tag per Videochat telefoniert. 

Und als das Schicksal meinte, mir meine Eltern nehmen zu müssen, bot sie mir auf der Stelle eine Unterkunft an. Erst hatte ich abgelehnt, da ich mir sicher war, dass ich alleine im Haus weiterleben durfte. Doch dies war ja nicht der Fall gewesen, da ich in ein Heim gesteckt worden war, weswegen ich mich gerade eben dafür entschieden hatte, es doch zu wagen. 

Also schrieb ich meiner volljährigen Freundin eine kurze SMS in der ich ihr meine mehr als spontane Anreise knapp mitteilte, während sich in meinem Körper langsam aber sicher die Aufregung auszubreiten begann. 

Doncaster sollte laut Nesrin angeblich idyllisch und traumhaft sein und ich war mehr als gespannt, was mich erwarten würde.

Unwillkürlich erschien auf einmal ein Bild von mir und meinen Eltern vor meinem geistigen Auge. Ich verdrängte es, ohne zu zögern. Nesrin hatte schon des öfteren versucht mich irgendwie zu trösten, aber was brachte das schon durch ein Telefon. 

Etwas nervös begann ich mit meinen Fingern zu spielen.

Ich war nicht einmal beim Grab gewesen. Diesen Schritt zu gehen, erschien für mich einfach so gut wie unmöglich, weil ich es noch immer nicht fassen konnte, dass ich meine Eltern tatsächlich für immer verloren hatte. 

Seufzend biss ich mir auf die Lippe und versuchte die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. 

Nach Ablenkung suchend, wanderten meine Augen schließlich zu dem Busplan, welcher mir zeigte, dass der Bus in weniger als zehn Minuten kommen würde. 

Es war eine Art Wunder gewesen, dass ich den Platz, an dem der Bus später abfahren würde, ohne große Probleme gefunden hatte, da ich in meiner momentanen Verfassung eigentlich zu nichts in der Lage war. 

Mit etwas wackligen Knien ließ ich mich auf den Boden fallen, weil die Sitze alle schon besetzt waren, kramte meine Kopfhörer heraus und hörte Musik. Mein Blick glitt über die anderen Menschen, die sich auf den wenigen Sitzen des Bushäuschens tummelten und ich konnte nicht anders, als die Augen zu verdrehen. Was machten diese Leute alle schon so früh hier? 

'Dasselbe wie du im Übrigen... Sie warten auf den Bus. Ist das so unnormal?', fragte meine innere Stimme mich und zog die Augenbrauen kraus, nur um danach auch noch eine ihrer besten Grimassen zu ziehen. 

Bevor ich gedanklich etwas darauf erwidern konnte, vibrierte mein Handy einmal und gab ein kurz anhaltendes Klingeln von sich; ich hatte eine SMS bekommen.

Wow, das ist ziemlich kurzfristig... Jetzt habe ich wohl doch einen triftigen Grund, um mal wieder aufzuräumen. Wann kommst du an? Wie lange habe ich Zeit? :D 

Sie war einfach zu süß. Ich wusste gar nicht, was ich ohne sie hätte machen sollen. Aber eine Frage gab es, die ich mir stellte. Was zur Hölle machte sie schon um diese Zeit auf? Ich hatte sie als absolute Langschläferin in Erinnerung gehabt, irgendwie sah ihr das gar nicht ähnlich. Darauf musste ich später unbedingt zurückkommen.

In ungefähr in drei bis vier Stunden! Ich hoffe, dass ich dir keine Umstände bereite... tut mir leid, dass meine Entscheidung so spontan ist. 

Durch die Stöpsel in meinen Ohren klang irgendeine Melodie, ich wusste nicht einmal, dass ich dieses Lied auf meinem Handy hatte. Es wurde auf jeden Fall von einer Girlband gesungen, so viel ließ sich erkennen. 

Mein äußerst intelligenter Gedankengang wurde von einem erneuten Vibrieren unterbrochen.

Quatsch! Ich freue mich dich endlich wieder live und in Farbe zu sehen. Und außerdem musst du unbedingt jemanden kennenlernen!

Ich hielt einen Moment inne und las ihre Nachricht ein zweites Mal, bevor ich die Antwort abtippte.

Wen denn?

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten und kam sofort nach dem Absenden meiner SMS. Ich ließ meine Augen über ihre geschriebene Zeile gleiten.

Meinen Freund. Das ist eine lange Geschichte, die ich dir mit Vergnügen erzählen werde, wenn du hier bist x

Nes hatte einen Freund? Was verdammt nochmal hatte ich denn jetzt schon wieder verpasst? Oder hatte sie es einfach geheim gehalten? Mit diesen Fragen würde ich sie später noch konfrontieren. 

Ein lautes Geräusch durchdrang selbst die laute Musik in meinen Kopfhörern, weswegen ich ein wenig erschrocken den Blick hob und den Bus zu Gesicht bekam, welcher mit quietschenden Reifen vor mir stehenblieb.

Okay. Der Bus ist da, bis später x

Ich rappelte mich auf, wartete, bis die Türen des großen Reisebusses aufgingen, stieg in ein und kaufte mir eine Fahrkarte, die zum Glück auf den Pfund genau so viel Geld kostete, wie ich es von der vorherigen Nacht noch übrig hatte. 

Nun war mein komplettes Bargeld weg. Irgendwie war dieses Gefühl, zumindest ohne eine Kreditkarte komplett pleite zu sein, richtig komisch. Wenigstens hatte ich auf meinem Konto noch ein wenig Erspartes. Dies war meine einzige Rettung, meine einzige Geldquelle. 

Ich schüttelte resigniert den Kopf; ich brauchte dringend einen Job. 

Ich suchte mir einen gemütlichen Platz, setzte mich hin. Die Vorfreude auf Doncaster stieg immer mehr, auch, wenn in meinem Hinterkopf noch immer die Geldsorgen und auch das endgültige Zurücklassen meiner gesamten Kindheit vorhanden waren. 

Wir standen noch zirka eine halbe Stunde auf dem Parkplatz und es stiegen immer mehr Menschen ein, die alle dasselbe Ziel wie ich hatten; doch jeder war mit Sicherheit aus einem anderen Grund in diesem Bus.

Auf der Fahrt musterte ich die Umgebung, denn ich war mit meinen läppischen 17 Jahren noch nie wirklich aus Glasgow herausgekommen. Der Anblick der vorbeiziehenden Natur brachte mich dazu, wenigstens etwas zu entspannen. In Gedanken versunken schlief ich letztendlich sogar irgendwann ein.

*

"Nächste Haltestelle: Doncaster", riss mich die Roboterstimme des Sprechers aus dem Schlaf. Für einen Moment hatte ich vergessen, wo ich war und blickte mich hektisch um. Als mir einfiel, dass ich mich noch immer im Bus befand, lockerte sich meine Stimmung etwas.

'Bist du wirklich so blöd? Wo sonst, als im Bus oder in einem Zug gibt es eine Roboterstimme?', zischte diese Stimme wieder. Also so langsam ging mir diese Stimme ein bisschen auf den Sack, den ich um genau zu sein ja gar nicht hatte.

Die meisten Leute im Bus hatten wie ich fast die ganze Fahrt über geschlafen. Im hinteren Teil des Busses saß eine Familie mit zwei kleinen Kindern, welche sich seit geschlagenen fünf Minuten in den Haaren hatten und lautstark stritten.

Genervt warf ich einen Blick auf den Sitz neben mir, um zu kontrollieren, ob sich meine Tasche noch an der gleichen Stelle befand, an der ich sie abgestellt hatte. Mein Handy lag zwischen beiden Beinen eingequetscht unter mir und ich brauchte eine Weile, bis ich es befreit hatte. 

Ich zog die Kopfhörer aus dem Gestell und beendete somit die laufende Musik.

Draußen war ein wunderbares, für England dennoch seltenes Wetter. Die Sonne strahlte mit dem blauen Himmel um die Wette und ich war bereit für den Neustart meines Lebens. 

Mit meiner Tasche auf der Schulter reihte ich mich im Gang bei den anderen Menschen ein und wartete darauf, die frische Luft Doncasters einzuatmen.

Wenigstens dieses Mal wollte ich, dass alles perfekt wurde und ohne Probleme über die Bühne lief.

Dann gingen die Türen auf und mein Herz fing an, ein paar Takte schneller zu klopfen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top