Teil7
Als Alec seine kleine Wohnung in Hammersmith erreichte, hatte er das dringende Bedürfnis, noch ein heißes Bad zu nehmen. Er ließ die Wanne voll laufen und freute sich, dass das Wasser hier nicht nach Schwefel roch. In der Wanne realisierte er erst, was er gerade getan hatte. Er hatte mit Gwen Schluss gemacht. Zwei Tage war er fort gewesen und irgendwie hatte nichts mehr zusammengepasst. Er müsste darüber traurig sein, immerhin waren sie seit zwei Jahren zusammen gewesen. Aber irgendwie war da nur ein mieses Gefühl, weil es alles so schnell gegangen war und irgendwie auch ein Gefühl der Erleichterung. Er war nicht mal dazu gekommen, ihr von seinem Doppelgänger und dem Foto zu erzählen. Sie hatte mit keinem Wort danach gefragt, was ihn so dringend nach England zurückgebracht hatte. Hatte sie geglaubt, es sei wegen ihr? Was hatte er auf ihre Mailbox gesprochen? Es ist etwas passiert, das kann ich dir so nicht erklären. Ich glaube, ich bin nicht zufällig hier. Es wäre wichtig, dass du kommst, ich muss hier was klären. Bitte komm oder ruf bald an. Sie hatte nicht zurückgerufen, sie hatte sich nicht dafür interessiert, was passiert war. Sein Leben veränderte sich gerade grundlegend und was ihr dazu einfiel war ein Kind. Von jetzt auf gleich. Wie konnte sie glauben, dass das eine Lösung war? Wenn sie ihn nicht dazu aufgefordert hätte, wenn sie einfach mit ihm geschlafen hätte, um schwanger zu werden, wenn sie dann schwanger geworden wäre... Er tauchte mit dem Kopf unter, wie um die Gedanken abzuspülen. Dann wickelte er sich in seinen Bademantel, holte sich eine Kopfschmerztablette und ging endlich in sein Bett.
Am nächsten Morgen telefonierte er noch vor dem Frühstück mit Rory, seinem Arzt-Freund. Der bot an, dass sie sich zum Brunch in einem kleinen Cafe' treffen könnten. Das wäre allemal netter, als die Praxis, in der Rory arbeitete. „Bring mit, was du an Unterlagen hast. Über dich oder deine Eltern. Geburtsurkunde, Blutspendeausweise, Organspendeausweise, Krankenakten, Fotos. Bring mit, was du findest." Das war leichter gesagt als getan. Alec hatte nach dem Tod seiner Eltern vieles weggeworfen. Vor allem Dinge, die ihn an den Unfall erinnern würden. All die Fotos vom Boot, die Zeitungsberichte... Er wohnte nicht mal in dem großen Haus, das sie ihm vererbt hatten. Das war ausgeräumt und stand seitdem zum Verkauf. Der Grund, warum es ihm noch gehörte war der, dass es eben wirklich sehr groß, sehr alt und sehr teuer war. Und es lag auf dem Land, in einem Küstenort namens Lancing. Wer dort ein Haus kaufte, der tat das in Brighton und nicht in Lancing. Er kramte in einer Schublade, wo er alles aufbewahrte, was er noch behalten hatte. Zahlreiche Fotoalben seiner Mutter. Sie hatte sein Interesse für Fotografie geweckt, denn sie fotografierte immer und überall. Vor allem ihn oder seinen Vater. Seltsamerweise gab es keine Babyfotos. Die ältesten Bilder zeigten ihn, wie er gerade laufen lernte. Er fand die Heiratsurkunde seiner Eltern, aber keine Geburtsurkunde. Er packte ein paar Dinge ein, vor allem die Adresse und Telefonnummer des Arztes seiner Eltern in Sussex. Dann machte er sich auf, um Rory zu treffen.
Als er das Cafe' betrat, war Rory schon da und winkte ihn zu sich. Sie umarmten sich und Rory war anzusehen, dass er es kaum erwarten konnte, von Alecs Erlebnissen zu hören. Alec erzählte beim Kaffee alles, was er bisher herausgefunden hatte. Beim French Toast runzelte Rory bereits nachdenklich die Stirn. Beim zweiten Kaffee begannen sie ein paar Dinge auf dem Tisch auszubreiten. „Wenn du mich fragst", begann Rory, „ist die Wahrscheinlichkeit, dass du und dieser Isländer dieselbe Augenanomalie habt ein ganz klares Zeichen dafür, dass ihr Zwillinge seid."
„Und wie finden wir heraus, ob meine Eltern auch meine Eltern waren?"
„Wenn ich das alles hier so sehe, dann glaube ich nicht, dass dir das Ergebnis gefallen wird. Du hast keine Geburtsurkunde. Hier müssen Babys spätestens nach 42 Tagen registriert werden, sonst ist das strafbar. Deine Eltern waren beide blond, aber du bist rothaarig. Sowohl blondes als auch rotes Haar wird rezessiv vererbt. Wo soll das Gen für rotes Haar hergekommen sein? Du hast keine Verwandten, keine Geschwister, ihr habt auf dem Land gelebt."
„Du sagst mir also, dass die Wahrscheinlichkeit gegen Null geht, dass das meine Eltern waren."
„Sorry, ja, das tu ich. Du hast Blutgruppe B. Wir sollten den Arzt deiner Eltern anrufen. Wenn wir ihm erklären, worum es geht, dann hilft der uns vielleicht. Die Blutgruppe kann uns weiterhelfen."
Alec überlegte nicht lange und rief bei dem Arzt in Lancing an. Dr. Barrowman wollte allerdings keine Auskunft am Telefon geben, was irgendwie verständlich war. Alec ließ das Ganze nun keine Ruhe mehr und er verabredete sich mit dem Arzt.
„Du willst jetzt direkt nach Lancing?", fragte Rory.
„Ja sicher, glaubst du, ich will da noch länger im Ungewissen sein?"
„Dann tu mir einen Gefallen und fahr da jetzt nicht allein hin. Du bist völlig neben dir. Nimm Gwen mit."
„Das mit Gwen ist vorbei."
„Was? Seit wann, wieso?"
„Seit gestern Nacht. Ist jetzt nicht so wichtig."
„Nicht so wichtig?! Okay, gib mir eine Minute." Rory schnappte sich sein Handy und rief in der Praxis an. „Molly? Ja, ich bin's. Du musst meine Termine an Dr. Maxwell weitergeben. Ich muss dringend was erledigen und zwar in Sussex..." Alec flüsterte ein „Du spinnst", als ihm klar wurde, was Rory vorhatte. Sein Freund schüttelte nur den Kopf und redete weiter und bedankte sich schließlich bei Molly. „Die kommen auch mal ohne mich klar, aber du solltest nicht allein fahren. Also. Mein Wagen steht vor der Tür." Kaum war das gesagt, winkte er die Kellnerin herbei und sie bezahlten das Frühstück und fuhren los. „Danke, dass du das tust. Du bist schon der Zweite, der mich nicht allein fahren lässt", bemerkte Alec. Rory zog fragend eine Augenbraue hoch. „Der Zweite? Wer war der Erste?" Alec grinste. „Das war kein er, das war eine sie", korrigierte er Rorys Annahme. „Eine sie? Jetzt erzähl aber mal von vorne. Wir brauchen bei dem Verkehr fast zwei Stunden bis Lancing. Woher kennst du sie?" Alec überlegte kurz, wo er anfangen sollte und wie er Freyja beschreiben sollte, aber dann kamen die Worte wie von selbst. „Sie heißt Freyja und sie ist toll, sie kommt aus Reykjavik..."
Kaum zwei Stunden später fuhr der Wagen mit Alec und Rory in die Einfahrt von Dr. Barrowman. Die Sprechstundenhilfe ließ die beiden noch kurz im Wartezimmer Platz nehmen, dann führte sie sie zu dem Arzt herein. Dr. Barrowman war ein hagerer Mann mit weiß-grauem Haar und eben solchem Schnauzbart und Alec erinnerte sich, ihn ein paar mal gesehen zu haben, wenn er einen Hausbesuch bei seinen Eltern machte. Aber das war noch vor der Uni. Dr. Barrowman seinerseits schien sich nun jedoch auch an Alec zu erinnern. „Du musst verzeihen, wenn ich am Telefon nicht geredet habe, aber ich musste sicher sein, dass du auch wirklich der Sohn von Algernon und Elizabeth Sigerson bist." Alec und Rory setzten sich zu Barrowman an den Schreibtisch. „Das ist genau das Problem, das mich herführt", begann er, „ich habe Grund zu der Annahme, dass die beiden nicht meine leiblichen Eltern sind." Barrowman stutzte. „Wie kommst du denn darauf?" Alec erklärte ihm, was er wusste und Rory ließ Alec auch das Foto und seinen Blutspendeausweis zeigen. Der ältere Arzt machte nun einen äußerst ernsten Eindruck. „Das kann ich mir alles nicht vorstellen, mein Junge. Ich habe die beiden gut gekannt und ihr Unfall war höchst tragisch." Alec wurde langsam ungeduldig. „Bitte Doktor, ich kann mir auch nicht vorstellen, dass die beiden irgendwo ein Kind gestohlen haben, aber ich muss es wissen. Wenn sie die alten Patientenakten noch haben, dann schauen sie nach, ob es darin irgendwelche Hinweise gibt." Barrowman nickte und ließ die Akten hereinbringen. Er brauchte keine drei Minuten, dann hatten sie die Informationen, die sie brauchten. Die Blutgruppen von Algernon und Elizabeth passten nicht zu der von Alec. A und 0, da konnte ein leibliches Kind nicht die Gruppe B haben. Damit war die Sache klar.
„Es tut mir leid", sagte Barrowman.
„Schon gut." Alec klang sehr gefasst. Er hatte auch nicht mehr mit einem anderen Ausgang gerechnet.
„Das bedeutet dann wohl, dass irgendwo auf Island meine richtigen Eltern sind und dass meine englischen Eltern mich denen einfach weggenommen haben."
„Oh verdammt", kam es von Rory, „was machen wir denn jetzt? Musst du zur Polizei?"
„Was soll er da?", meinte Barrowman. „Die Entführer sind tot."
Alec zuckte bei dem Wort Entführer leicht zusammen. Was für ein schreckliches Wort für die Menschen, die ihn aufgezogen und geliebt hatten. Und doch musste es so gewesen sein. „Ich muss zurück nach Island", begann er, „ich muss zu meinem Bruder. Vielleicht habe ich noch richtige Eltern. Wer weiß, was die durchgemacht haben."
„Das stimmt", fand Rory, „die werden dich suchen." Dr. Barrowman wünschte ihm noch viel Glück gab Alec zum Abschied die Hand.
„Das ändert nichts daran, dass du für sie wie ein Sohn gewesen bist."
„Danke, ich weiß."
Draußen vor der Praxis holte Alec erstmal tief Luft. „Ist alles in Ordnung?", fragte Rory, aus Sorge, ohne sich dabei etwas zu denken.
„Ist das dein Ernst? Du hast ihn doch gehört. Nichts ist in Ordnung. Die haben mich einfach mitgenommen. Wer tut so etwas?"
„Was weiß denn ich. Jemand, der sich verzweifelt einen kleinen Jungen wünscht vielleicht. Jemand der denkt, die haben zwei davon und wir haben keinen. Hey, du fliegst da jetzt wieder hin und dann bringst du das in Ordnung."
„Wie soll ich das denn in Ordnung bringen?"
„Dir fällt schon was ein."
„Meinst du?"
„Ja sicher. Komm, fahren wir zurück."
Alec stieg ein und nahm sich fest vor, die ganze Sache vorsichtig anzugehen. Wer konnte wissen, wie seine Familie den Verlust erlebt hatte. Nach all den Jahren hielten sie ihn doch wahrscheinlich längst für tot. Er holte die Fotos von seinem Bruder hervor. Wie war es ihm wohl all die Jahre ergangen? Rory schien zu merken, was in Alec vorging. „Mach dir nicht zu viele Gedanken. Wenn du zurück bist, dann fährst mit dieser Freyja in diesen Ort, wo dein Bruder lebt und dann wird alles gut."
„Ja, so mache ich das."
Auf der Farm in Husavik:
„Was hattet ihr da oben am Felsen zu suchen?"
Arnar suchte nach Worten, denn der strenge Ton in der Stimme seines Vaters war ernst, sehr ernst.
„Wie oft, habe ich dir schon gesagt, ihr sollt da wegbleiben? Was wolltet ihr da?"
Arnar suchte noch immer nach Worten. Seine kleine Schwester hielt sich an seiner Hand und schien den Tränen nahe.
„Wenn ich oder eure Mama nicht da sind, müssen wir uns darauf verlassen können, dass ihr keine Dummheiten macht. Das kann gefährlich werden."
„Ich weiß, es tut mir leid." Als er das sagte, wurde der zornige Blick seines Vaters etwas sanfter.
„Wir tun das nie wieder", sagte seine kleine Schwester.
„Gut, dann geht jetzt auf euer Zimmer, ich will euch heute nicht mehr sehen."
Die beiden gingen ganz still. Sie hatten verstanden, dass sie etwas getan hatten, was ihren Vater völlig aus der Fassung brachte.
„Du hast sie fast zu Tode erschreckt. Sie sind zu klein, um das zu verstehen", flüsterte ihre Mutter. Sie schaute ihrem Mann in die Augen und bemerkte, wie er noch immer schwer atmete.
„Arnar geht schon zur Schule, wir können sie nicht ständig im Auge behalten. Er weiß, dass sie nicht oben zu den Felsen gehen sollen." Seine Frau legte ihm sanft eine Hand auf die Wange.
„Es ist doch nichts passiert, beruhige dich... Es ist nichts passiert."
Brynjar konnte sich noch nicht wieder beruhigen. Er war war nicht mal sicher, ob es Zorn oder Panik war, die ihn so zittern ließ.
„Ich gehe raus und laufe ein bisschen. Ich nehme den Hund mit."
„Ist gut. Bleib nicht so lange." Sie wusste genau, dass er noch nicht wieder ruhig war, aber draußen konnte er sich abreagieren.
Brynjar gab dem Hund ein Zeichen und lief hinaus. Jenseits des Gartens führte ein alter Trampelpfad immer bergan. Er folgte ihm bis er oben an den Felsen ankam.
Die Felsen hoben sich im Gegenlicht dunkel und schroff vom strahlend blauen Himmel ab. Als er nah genug heran war, flogen eine paar Möwen und Papageientaucher auf, die dort ihre Nester hatten.
„Ihr lasst die Finger von ihnen!" rief er, „Habt ihr gehört! Ihr lasst sie in Ruhe oder ich finde einen Weg, euch weh zu tun!" Als er das Echo seiner Stimmer vernahm, zuckte er zusammen. Auch der Hund schaute ihn erschrocken an. Sein eigener Zorn machte ihm Angst. Er wartete, bis er sich ein wenig beruhigt hatte. Dann kamen die Tränen.
„Asgeir! Wenn du da irgendwo bist, komm zurück... bitte. Du gehörst da nicht hin. Und ihr lasst eure verfluchten Finger weg!"
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