Teil2
Als Alec wieder unten auf dem Vorplatz ankam, waren nahezu zwei Stunden vergangen, seit er das Keks verlassen hatte und er bedauerte, nicht wenigstens einen von den Keksen an der Rezeption mitgenommen zu haben. Aber zurück wollte er auch noch nicht. Also steuerte er eine kleine rote Würstchenbude an, die direkt an der Straße lag. Der Grillmeister sprach ihn direkt auf Isländisch an, bemerkte aber seinen Irrtum sofort und redete in Englisch weiter. Natürlich gab es hier die besten Hot Dogs de Stadt. Die Brötchen waren aus der Bäckerei des Bruders und die Würstchen aus der Metzgerei eines Cousins. Den Senf machte seine Frau selbst. Alec ließ sich alles erklären und kam wohl so langsam dahinter, wie die Menschen hier funktionierten. Als er mit einem Hot Dog fertig war, nahm er noch ein zweites. Diesmal bekam er ein extra großes und so machte er sich auf den Weg den Hügel herunter. In der Fußgängerzone, die sich bis hinunter in die Hafengegend erstreckte, waren inzwischen die Läden geschlossen und ein paar Jungs spielten Fußball. Alec fragte, ob er sie fotografieren dürfte und sie waren einverstanden. Aus der ein oder anderen Bar tönte laute Musik die Straße entlang, als er weiterging und nicht verhindern konnte, dass er sich im Takt bewegte und vor sich hin summte. Er streichelte eine Katze und fotografierte sie, ohne zu fragen. Als er eine Straßenkreuzung wiedererkannte, schlug er den Weg zum Hostel ein. Er hätte morgen noch Gelegenheit, sich weiter in der Hauptstadt treiben zu lassen, jetzt dachte er an einen ruhigen Abend. Vielleicht würde er nochmal telefonieren. Doch als er das Keks erreichte, stellte er fest, dass die lauteste Musik des Abends ausgerechnet von dort kam. In der Lounge war es zum Bersten voll und allerhand buntes Volk trieb sich darin herum. Einige tanzten, andere saßen in der Couchecke und machten bei dem Lärm Brettspiele. Eine Band spielt Coverversionen von den Rolling Stones und der Typ mit dem Bärtchen stand mit auf der Bühne und spielte Gitarre. In einer anderen Ecke saßen ein paar Typen zusammen, die über einer Landkarte hingen und ständig diskutierten. Alec beschloss, an der Bar einen Absacker zu trinken, dann würde er schon schlafen, egal was um ihn herum geschah. Er schob sich an den Tanzenden vorbei bis zum Tresen und bestellte sich einen Baileys. Er trank ihn langsam, denn er merkte die Wirkung sofort. Jetzt musste er nur noch zurück durch die Menge. Irgendwie kam man da besser vorwärts, wenn man hindurchtanzte. Also tat er genau das. Vorn an der Couchecke waren inzwischen die Brettspiele verschwunden und eine andere Gruppe von Leuten saß da und schien dem zu lauschen, was eine junge Frau in ihrer Mitte beschrieb. Sie hatte langes dunkles Haar, das ihr ins Gesicht fiel und irgendwie war Alec neugierig, was sie wohl zu erzählen hatte. „...aber ich sage es euch doch. Da werden die nie weitermachen können. Die können nur drum herum, ich sag's doch." Sie schien das sehr ernst zu nehmen, was immer es auch war. Ein Typ aus der Gruppe schüttelte den Kopf. „Die werden doch nicht die ganze Brückenführung ändern, nur weil ein paar Leuten ständig der Kopf schwirrt. Die sollten lieber mal nüchtern zu Arbeit erscheinen." Die Frau sah den Typen mit ernstem Blick an. „Du kapierst es nicht, oder? Es hat damit nichts zu tun. Die wollen ihren Brückenpfeiler mitten zwischen den Wohnstätten bauen. Deshalb wehrt sich das unsichtbare Volk." Eine andere Frau nickte. „Bestimmt hat Freyja Recht. Ihre Familie kennt sich da aus." Alec wurde jetzt wirklich neugierig. Das unsichtbare Volk. Er hatte darüber gelesen. Er wollte eigentlich nur noch etwas länger stehen bleiben und wie zufällig lauschen, doch der Frau, die Freyja hieß, war die Laune vergangen. Sie stand auf, ließ die anderen sitzen und ging zur Bar. Genauer: Sie ging hinter die Bar und löste dort den Barkeeper von vorhin ab. Alec überlegte kurz, ob er nicht doch einfach in sein Zimmer gehen sollte, doch dann entschied er anders. Er ging zurück zur Bar und setzte sich auf einen Hocker. Freyja war gerade mit den Bestellungen von ein paar anderen Leuten beschäftigt und mixte irgendwas zusammen. Alec lauschte also der Musik, als sie ihn plötzlich fragte, was er denn wolle. „Einen Baileys", sagte er. „Das stimmt nicht", gab sie direkt zurück. Alec war überrascht. "Wieso stimmt das nicht?" „Es gibt zwei Typen von Männern", fuhr sie fort, „die einen lieben goldenen, die anderen silbernen Tequila." „Ach echt, ist das so?" „Ich arbeite an 'ner Bar, ich weiß sowas." Sie schien so allerhand zu wissen, dachte er sich und war schon wieder mit antworten dran. „Was bin ich also für ein Typ? Silbern oder golden?" Sie schaute ihn kurz aus den Augenwinkeln an und lächelte. „Silbern." Ausgerechnet. Bei einer fünfzig-fünfzig Chance lag sie voll daneben. „Wow, gut geraten!", hörte er sich sagen, warum bloß? Sie stellte das Zeug vor ihn auf den Tresen und holte Salz und Zitrone hervor. Er streute sich das Salz auf die Faust, leckte es ab und stürzte den Tequila herunter. Dann biss er in die Zitrone. Brrrr. Sie lächelte ihn an. „Und was treibst du so auf Island?", fragte sie nun. „Ich bin beruflich hier. Ich will Fotos machen." Ihm fiel erst auf, wie langweilig das klang, als er es sagte. Sie blickte ihn weiter an. „Fotos wollen alle", sagte sie. „Ja, ich weiß, aber ich will mehr. Ich will nicht nur Fotos für das Fotoalbum oder so, ich will fotografieren, was es hier alles zu entdecken gibt. Alles was man sonst nicht sieht oder auch überhaupt nicht sehen kann." Bei den letzten Worten zog sie eine Augenbraue hoch. „Dann viel Erfolg", wünschte sie und kümmerte sich wieder um andere Gäste an der Bar. Er blieb noch einen Moment, nur um sicher zu gehen, dass ihn der Tequila nicht umwerfen würde, wenn er aufstand. Er hatte wirklich zu wenig geschlafen. Als er sich sicher fühlte, stand er auf. Alles gut. Dann bewegte er sich tanzend wieder durch die Menge zurück. Was er nicht bemerkte, war der lange Blick, den Freyja ihm hinterher warf, bis er am anderen Ende der Lounge angekommen war. Oben angekommen fiel ihm sein Handy aus der Tasche und unters Bett. "Ach, Scheiß drauf", murmelte er und ließ es liegen, warum bloß?
Verdammt, er hätte nicht gedacht, dass ihn die Mitternachtssonne so störte, trotz zugezogener Gardinen konnte er einfach nicht schlafen und warf sich ein paarmal erfolglos hin und her. Von unten drang noch immer die Rolling Stones Coverband nach oben und anscheinend fing die Party da jetzt auch erst richtig an. Oder bildete er sich das ein? Wahrscheinlich hätte ihn nichts davon abgehalten zu schlafen, so müde wie er eigentlich war, aber er musste immer wieder an die Frau hinter der Bar denken. Ob er wohl noch mal runtergehen sollte? Schlafen konnte er sowieso vergessen. Eine halbe Stunde später hatte er endlich etwas an, von dem er glaubte, dass es ihr gefallen könnte. Der Isländer war zum Tanzen einfach zu warm, aber ein T-Shirt, das würde wohl gehen. Lächelnd dachte er an die Worte des Taxifahrers. Na und wenn schon, wahrscheinlich konnte sie sich schon gar nicht mehr an ihn erinnern. Er tanzte wieder zurück zur Bar, wo Freyja immer noch ausschenkte. Während des ganzen Weges zu ihr schaute sie nicht einmal zu ihm rüber, aber sobald er den Tresen erreichte, stellte sie ihm augenzwinkernd einen Tequila hin. „Geht aufs Haus." „Ehm, danke." Es folgten Salz und Zitrone. Sie lächelte, als er seinen Mund beinahe unmerklich verzog und ihre blauen Augen blitzten, als sie weiter ausschenkte. Im Augenwinkel sah sie zu, wie er das Salz ableckte und dann den Tequila kippte. „In dreißig Minuten habe ich Schluss", sagte sie dann. Okay, was auch immer es war, es lief. Ganz offensichtlich erinnerte sie sich noch sehr gut an ihn und diesmal hatte sie ihm ohne zu fragen einen Drink hingestellt. Andererseits war das wohl ihr Job hier, oder? „Willst du noch einen?", sie deutete auf sein leeres Glas. Er wusste nicht warum, aber obwohl er eindeutig schon genug hatte, nickte er. Vielleicht hätte er den Tequila doch besser Tequila sein lassen. Jetzt kam er hier jedenfalls nicht mehr so schnell weg. Die Band spielte Honky Tonk Woman und I Can Get No Satisfaction schon zum zweiten Mal. Dreißig Minuten später war die Stimmung noch lauter und ausgelassener. Die Fensterscheiben waren beschlagen und draußen war das Licht jetzt immerhin etwas trübe, sodass es wohl mitten in der Nacht sein musste. Freyja hatte ihm jetzt wortlos ein Glas Wasser hingestellt und setzte sich neben ihn. „Du bist also beruflich hier. Wo kommst du her?" Er nickte und trank, das tat gut. „Ja, ich komme aus London." „Große Stadt. Hast du nen Namen?" „Ich heiße Alec und du heißt Freya." Sie lächelte. Offenbar gefiel es ihr, dass er ihren Namen schon wusste. „Du kennst dich nicht aus hier", stellte sie fest und legte ihre Hand auf seine. „Du brauchst jemanden, der dich herumführt. Komm lass uns hinten weiter reden." Der neue Barkeeper warf Freyja einen Blick zu, den Alec nicht klar deuten konnte. Aber bestimmt waren sie miteinander verwandt. Sie nahm ihn bei der Hand und er ließ sie gewähren. „Komm, lass uns tanzen." Gemeinsam tanzten sie durch die Menge, auf der Suche nach einem freien Platz. Alec war bestimmt kein schlechter Tänzer, das wusste er, und sie bemerkte das auch. „Du bist gut", sagte sie, „die schauen alle her." „Die schauen wegen dir", gab er das Kompliment zurück. Schließlich fanden sie eine Lücke am Fenster, wo sie mehr oder weniger ungestört und aus dem Sichtfeld der Bar verschwunden waren. „Komm." Sie deutete auf den Platz direkt neben sich auf dem Sofa. „Warst du schon am Hafen?" „Nein." „Schade, der ist sehenswert." Beim letzten Wort war sich Alec plötzlich nicht mehr sicher, ob Freyja wirklich vom Hafen sprach. „Was gibt's denn da so Besonderes?", wollte er wissen und schaute ihr in die Augen. Sie erwiderte seinen Blick. „Das wirst du schon herausfinden", war ihre Antwort, „wenn du willst." „Würdest du mitkommen?", fragte er. „Zum Hafen? Weiß ich noch nicht", sagte sie und musterte ihn mit einem seltsamen Blick von oben bis unten, so als versuchte sie, irgendwelche Informationen auf seinem T-Shirt oder auf seiner Stirn zu finden. Und doch sah sie wohl etwas völlig anders. „Warum sagst du, dein Name sei Alec?", sagte sie plötzlich. Er war mehr als überrascht. „Weil das mein Name ist. Alec- Alexander", sagte er dann der Vollständigkeit halber. Sie runzelte die Stirn. „Du glaubst das tatsächlich...", bemerkte sie und „du solltest besser gehen." „Wahrscheinlich sollte ich das", stimmte er ihr mit Bedauern zu, setzte aber noch ein „bis morgen", nach. Dann ging er. Irgendwas war gerade schiefgelaufen. Trotzdem spürte er ihre Blicke ganz deutlich auf seinem Rücken. Er hatte ganz vergessen, wie gut so ein Flirt tat. Sie stand auf ihn, ganz klar, aber warum war sie auf einmal so seltsam?
Am nächsten Morgen wurde er von dem Summen seines Handys geweckt. Wo war das? Es klang, als sei es ganz in der Nähe – unter ihm. Klar, es lag noch unterm Bett. Ob er da wohl auch mit seinem langen Arm drankam, ohne das gemütliche Bett zu verlass... Nein. Mit einem Rums lag er neben dem Bett und konnte wohl von Glück reden, sich nicht den Kopf am Nachttisch angeschlagen zu haben. Sein Schädel brummte und das Handy war verstummt. Shit, er hatte sich gestern nicht mehr bei Gwen gemeldet, oder? Na, war vielleicht auch besser. Jetzt musste er sie wohl anrufen, aber vielleicht ließ er sich auch erstmal Zeit. Er schnappte sich das Handy und die Uhr verriet, dass er gut neun Stunden geschlafen haben musste. Gut. Auch die Sonne berichtete von dem wundervollen neuen Tag, der dazu einludt, die Stadt ohne Wolkenkratzer weiter zu erkunden. Der Blick von der Kirche gestern war unglaublich gewesen. In London hätte er von der Höhe nicht mal zwei Straßen weiter gucken können, aber hier lagen ihm die Stadt und die Welt dahinter quasi zu Füßen. Ob er wohl noch mal raufgehen sollte? Er ging ins Bad und warf sich eine Ladung Wasser ins Gesicht in der Hoffnung, die Augen danach besser auf zu bekommen. Das funktionierte. Geduscht und den Isländer über den Kopf gestülpt, wählte er Gwens Nummer. Sie schien erleichtert, seine Stimme zu hören, sagte es aber nicht. Auch das Foto, dass er ihr gesendet hatte, erwähnte sie nicht. Nachdem er ihr vom gestrigen Tag erzählt hatte, kam nur ein „Du scheinst dich ja prächtig zu amüsieren." „Reykjavik ist toll,... nur schade das du nicht hier bist." Letzteres fügte er nach einer kurzen Pause beinahe hastig hinzu. Reykjavik war in der Tat großartig, aber irgendwie spürte er nicht mehr das Bedürfnis Gwen hier zu haben. Es wäre einfach nicht dasselbe. Zu seinem Glück überhörte sie das Zögern und begann wieder aufzuzählen, was sie noch alles in der großen Stadt zu erledigen hätte. Es waren Hochzeitseinladungen von Freunden eingetroffen und jetzt müsste sie sich ja wohl allein um die Geschenke kümmern, sie könnten ja schlecht Strickpullover zur Hochzeit verschenken. Er fand, das sei ein ziemlich gutes Geschenk. Seinen würde er so schnell nicht mehr hergeben.
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