Teil12


Alec war nun wirklich nervös. Den Jeep hatten sie geparkt und Freyja ging zu einer Touristeninformation am Kai, um dort die Bootstour zu buchen, während er im Wagen wartete. Er versuchte sich zu erinnern, ob er mal über solche Situationen einen Film oder so gesehen hatte, aber er war weder ein Kriegsheimkehrer noch ein Schiffbrüchiger. Er war...was eigentlich? Ein verlorener Sohn? Bruder? Lebten seine richtigen Eltern noch? Plötzlich war Freyja am Fenster.

„Komm raus, es geht gleich los."

„Hast du ihn schon gesehen?"

„Nein, da sitzt irgendeine Studentin, die die Buchungen macht. Aber es steht schon eine kleine Gruppe von Leuten am Boot."

Alec stieg aus und ging mit ihr dorthin. „Hi", sagte er nur, als sie die anderen Touristen erreichten. Sie übernahm das Reden, worüber er wirklich sehr froh war. Die anderen kamen aus Deutschland, USA und Holland, für alle war es der erste Ausflug von der Art und sie hofften alle, dass sie Wale sehen würden. „Die Chancen sind um diese Jahreszeit recht gut. Viele Wale kommen zum Beutefang hierher," kam plötzlich eine Stimme, die klang, wie die von Alec, der sofort herumfuhr, „Hallo zusammen, ich bin der Skipper, Brynjar Arnasson, wir fahren gleich zusammen los." Die anderen sagten jetzt auch hallo oder ihre Namen, nur Alec war sprachlos. Wie sollte es auch anders sein, er hatte natürlich gewusst, dass sie sich zum Verwechseln ähnlich sahen, aber er hatte nicht damit gerechnet, dass auch ihre Stimmen fast identisch wären. Brynjar hatte diesen seltsamen Akzent im Englischen und formte die Worte nicht wie ein Muttersprachler, das war auch schon der Unterschied. Er schien zu bemerken, dass einer seiner Waltouristen nichts gesagt hatte und schaute kurz auf Alec. Dann gab er ein Zeichen ihm zu folgen. So gingen alle an Bord und suchten sich erstmal irgendeinen Platz. Gleich darauf kam noch ein anderer Mann an Bord, den Brynjar als Olaf vorstellte. Olaf hatte einen großen Korb dabei, den er erstmal abstellte. Dann ergänzte er, dass er Student aus Reykjavik sei und sie jetzt erstmal Schwimmwesten bekommen würde. Freyja und Alec zogen ihre Westen an und setzten sich so, dass sie den Skipper beobachten konnten. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, das bist du", flüsterte sie. Brynjar kontrollierte irgendwelche Instrumente im Führerhaus des kleinen Bootes und nahm dann ein Mikrofon, um weitere Informationen zu geben. Welche Wale es in der Bucht gäbe, wie sie sich ihnen nähern würden, ohne sie zu beunruhigen, dass es noch nie zu einem Unfall gekommen sei, welche Route die Tiere normalerweise nehmen... Alec hörte mehr oder weniger konzentriert zu. Er hatte zwar noch nie einen Wal in freier Natur erlebt, aber er war sich auch noch nie selbst begegnet. Olafs Aufgabe war wohl das Ausschau halten und Brynjar erhielt über Funk von anderen Booten Informationen, sodass es nicht lange dauerte, bis sie einen Walbuckel sahen, der sich gemächlich aus den glitzernden Wassern des Atlantik emporhob. Der Wal spie eine kleine Fontäne aus und Brynjar stoppte den Motor, um alles andere dem Wal zu überlassen. „Das ist ein Minkwal", erklärte er, „und wie es aussieht, ist er neugierig." Das war tatsächlich so, denn der Wal näherte sich dem Boot und tauchte darunter hindurch. Alles sprang mit Kameras auf, um das Schauspiel zu fotografieren, nur Alec und Freyja als Letzte und eine Frau weiter vorn im Boot, die offensichtlich seekrank war, gar nicht. Alec schaute durch die Kamera, aber es war zu spät. Der Wal war abgetaucht. Das Boot fuhr langsam wieder an und nahm einen anderen Kurs. „Den lassen wir jetzt in Ruhe", erklärte Brynjar. Bald darauf hatten sie eine kleine Gruppe von Walen entdeckt, die allerdings nicht so ruhig waren wie der erste. Sie verfolgten sie mit einiger Entfernung, überholten und wieder stoppte der Skipper die Maschinen. So würde die Gruppe direkt auf sie zu schwimmen. Diesmal war Alec mit der Kamera schneller und er machte ein paar Bilder von den Minkies und auch von Olaf und Brynjar, der das zu bemerken schien. Als die Wale weiter gezogen waren, holte Olaf den großen Korb hervor und bot den Touristen eine Kleinigkeit an. Es gab Milch und Vanillecremekekse. „Das hat er eingekauft", flüsterte Freyja. Alec nickte nur und nahm sich welche. War das jetzt ein gutes Zeichen oder war das einfach nur unheimlich? „Du bist ein Profi-Fotograf, oder?", fragte Alecs fast-Alecs-Stimme plötzlich. Brynjar war aus dem Führerhaus gekommen, um sich auch ein paar Kekse zu holen. „Hmmm, ja", gab Alec nur zur Antwort.

„Kennst du dich aus?"

Sein Zwilling nickte. „Ein bisschen. Wenn du bessere Fotos von den Tieren willst, dann solltest du mit 'nem kleineren Boot raus. Das hier ist dafür zu groß und laut. Aber für Schnappschüsse reicht es."

„Und weißt du, wo es so ein Boot gibt und wer mich da fahren kann?"

Brynjar grinste. „Dreimal darfst du raten."

Dann ging er wieder in sein Führerhaus und ließ die Maschinen an. „Heißt das jetzt, dass er uns zu den Walen bringen würde?", fragte Alec. 

Freyja bestätigte. „Der ist genau wie du. Ja, sicher heißt es das."

Eine weitere Gruppe der Meeressäuger und einen einzelnen Wal später, kam das Boot wieder im Hafen an. Alle waren zufrieden und bedankten sich für das großartige Abenteuer, das sie gerade erleben durften. Dann begannen Brynjar und Olaf damit, die Schwimmwesten zu verstauen und das Boot klar zu machen. Freyja und Alec setzten sich auf eine kleine Bank und beobachteten die beiden dabei. Selbst Brynjars Bewegungen glichen denen von Alec. „Wenn er vom Boot kommt, sagst du, du willst mit ihm sprechen," plante sie, „er wird denken, dass es wegen der Wale ist."

„Und dann? Soll ich dann einfach die Katze aus dem Sack lassen?"

Sie nickte. „Es sei denn, dir fällt was Besseres ein."

Alec überlegte, doch ihm fiel tatsächlich nichts Besseres ein. Und wenn sein Bruder wirklich so war wie er selbst, dann würde auch alles gut werden. Brynjar und Olaf kamen nun von Bord und nachdem sie sich voneinander verabschiedet hatten, schlug Brynjar den direkten Weg zu Alec und Freyja ein. „Er kommt hierher", flüsterte Alec. Freyja nahm seine Hand. Brynjar stand jetzt vor ihnen und sah erst sie, dann ihn seltsam an. „Ich kann mich schon mal irren, aber du bist nicht wegen der Wale hier. Was willst du?"

Alec wusste nicht, was er sagen sollte, aber auf keinen Fall wollte er lügen oder sich weiter verstecken. „Nicht hier, gehen wir irgendwo hin", sagte er leise, weil es das Erste war, was ihm einfiel.

„Warum sollte ich mit dir irgendwo hingehen?", fragte der andere verunsichert, „wer bist du?" Freyja bemerkte ein leichtes Zittern sowohl in Alecs als auch in Brynjars Stimme und entschied, sich einzumischen.

„Wir sollten das hier nicht mitten am Hafen machen. Gehen wir wieder auf dein Boot?", schlug sie vor. Brynjar schaute ihr prüfend in die Augen, so als wollte er herausfinden, ob er ihr trauen konnte.

„Wer bist du?", wollte er wissen.

„Ich bin Freyja." Sie sagte das mit einer Selbstverständlichkeit, als würde sie sagen 'ich bin Björk', die jeder kennt.

Er verzog deswegen keine Miene. „Na, dann komm und er auch."

Damit ging er zum Boot und die beiden folgten ihm. Freyja nahm wieder Alecs Hand und hatte gleichzeitig das Gefühl, den anderen auch bei der Hand nehmen zu wollen. Ahnte er etwas? Oder war er nur misstrauisch Fremden gegenüber? An Bord des Bootes stand er nur da und wartete, bis die beiden auch an Bord waren. Dann fixierte er Alec. „Also, heraus mit der Sprache." Alec merkte, wie sein Blut in den Adern pulsierte. „Das ist nicht einfach, nicht für mich... und nicht für dich", begann er und wollte es dann endlich hinter sich bringen. Er nickte Freyja zu und nahm langsam die Sonnenbrille ab. Er blinzelte, weil ihn die Sonne blendete, dann schaute er Brynjar an. Der blinzelte auch, aber wohl eher, weil er nicht sicher war, ob er seinen Augen trauen konnte. Er machte zwei Schritte auf Alec zu und schaute ihm in die Augen. Dann nahm er den Arm hoch und legte die Hand an die Bandana. Als er sie wegzog, kam Alecs rotes Haar zum Vorschein. Brynjar hielt für einen Augenblick den Atem an, dann legte er die andere Hand an Alecs Wange, wie um zu prüfen, ob er wirklich da war. Alec stand einfach still. Freyja sah, wie sein Blick mit einem Mal weich wurde und er nach Worten suchte. Auch Brynjar wirkte wie gelähmt, doch dann sprach er als Erster. Seine Stimme klang gepresst, so als müsste er gegen Tränen ankämpfen. Er sprach sanft auf Isländisch und Alec, der nichts verstand, schüttelte jetzt den Kopf. „Ich verstehe dich nicht, du musst ...Englisch reden", sagte er mit gleichsam tränenerstickter Stimme.

„Du... wo bist du gewesen? Asgeir... wieso kommst du jetzt... wieso erst jetzt? Asgeir..."

„Ist das mein Name?"

„Kennst du deinen eigenen Namen nicht? Asgeir... du warst so lange fort?"

„Das tut mir leid, ich wusste nicht..."

Weiter kam er nicht, denn Brynjar zog ihn nun zu sich und nahm ihn ganz fest in den Arm. Alec drückte ihn auch ganz dicht an sich und weil ihm gerade nichts anderes einfiel, nannte er ihn einfach beim Namen. „Brynjar."

Der hob jetzt den Kopf und deutete auf Freyja. „Ist sie... ist sie eine von denen?"

„Was? Freyja? Eine von? ... Sie ist mit mir gekommen, um dich zu suchen. Sie ist... meine Freundin."

„Wieso habt ihr... mich gesucht? Ich war hier. Wo warst du?"

Brynjars Stimme war noch immer gebrochen und die Tränen liefen ihm nur so über das Gesicht. Alec hatte plötzlich das Gefühl, dass er ihn einfach weiter halten sollte. Was immer in den Jahren geschehen war, war offenbar genug, um ihn jetzt völlig aus der Bahn zu werfen. Alec versuchte, ihn mit Worten zu beruhigen. „Ich ... bin jetzt da, okay? Ich bin wieder da. Ich... freu mich sehr, dich kennenzulernen..." Brynjar schien sich etwas zu sammeln, zumindest wurde sein Atem ruhiger und er krampfte sich nicht mehr so fest an Alec.

„Du sprichst nicht mal Isländisch... wo warst du?"

Alec lächelte ein bisschen. „Ich war in England. Die ganze Zeit, nehme ich an."

„England?...Aber wieso?"

„Ich habe keine Ahnung. Vielleicht weißt du das."

„Ich weiß gerade nur, dass du wieder da bist, Asgeir, mein Bruder."

Das tat gut. Alec würde wohl eine Weile brauchen, um sich an seinen Namen zu gewöhnen, aber dass Brynjar ihn mein Bruder nannte, gefiel ihm sofort. Vielleicht, weil er sich immer einen Bruder gewünscht hatte, vielleicht, weil er irgendwie geahnt hatte, dass es ihn irgendwo gab?

„Hört mal, Jungs, wollt ihr da so stehen bleiben?", fragte Freyja in einem Ton, der verriet, wie gerührt sie war.

„Nein", antworteten beide fast gleichzeitig.

„Du, ihr, wir müssen nachhause", fand Brynjar, „es gibt viel zu erzählen und er kennt meine, seine Familie nicht."

„Dann bring mich hin", sagte Alec und lächelte.

Kurz darauf fuhren Alec und Brynjar in seinem Range Rover. Freyja fuhr mit dem Jeep hinterher. Sie musste über das nachdenken, was Alecs Bruder gefragt hatte: Ob sie eine von denen sei. Bei allem, was sie als Isländerin wusste, konnte das nur bedeuten, dass er glaubte, Asgeir sei vom unsichtbaren Volk geholt worden. In den alten Geschichten kam das immer wieder vor. Die Elfen oder Trolle holten sich Menschenkinder, wenn diese von der eigenen Familie nicht gewollt waren oder wenn die so schön waren, dass das Huldufolk sie für sich wollte. Wenn Brynjar das all die Jahre geglaubt hatte, würde es sein Verhalten erklären. Bestimmt waren beide Brüder hübsch genug, um die Elfen und Trolle mit Neid zu erfüllen...

Brynjar fuhr nicht besonders schnell und musste immer wieder zu Alec schauen, so als hätte er Angst, er würde wieder verschwinden. „Wie kommst du hierher, wenn du aus England kommst?", wollte er wissen. Alec erzählte ihm von dem Foto und von den Nachforschungen, die er daraufhin angestellt hatte. „Und diese Engländer, der Mann, die Frau, waren die gut zu dir?" Alec nickte. „Du meinst, abgesehen davon, dass sie mich meiner richtigen Familie gestohlen haben? Ja. Sehr gut. Ich meine, ich wäre nie darauf gekommen, dass da was nicht stimmt, wenn ich nicht nach Island gekommen wäre." Brynjar sagte nichts darauf, sodass Alec auf die Idee kam, ihn zu fragen. „Ihr müsst geglaubt haben, nach so vielen Jahren, dass ich tot bin, oder?"

Brynjar zögerte mit der Antwort. „Mutter und Vater haben das irgendwann geglaubt. Du warst nicht zu finden, also warst du wohl in einen Wasserfall gestürzt oder in eine Gletscherspalte oder das Meer hatte dich fortgespült. Ich ...habe das besser gewusst. Wir sind Zwillinge und ich hätte es gespürt, wenn du nicht mehr am Leben wärst."

Alec leuchtete das irgendwie ein. „Und du hast... weitergesucht?"

Brynjar zögerte wieder. „Nein, ich dachte, die Elfen haben dich. Also war ich wütend auf sie. Ich... habe ihnen sogar gedroht. Und jetzt bist du wieder da."

„Die...Elfen?"

„Wer denn sonst."

Inzwischen waren sie auf einer Schotterpiste bis zu Brynjars Farm gelangt. Da waren die Pferde, von denen der Tankwart gesprochen hatte und im Hof lief ein kleiner Junge und spielte mit einem Hund.

„Ist das deiner?", wollte Alec wissen.

„Ja, das ist Arnar. Gib mir etwas Vorsprung, damit wir meiner Frau und den Kleinen nicht einen Riesenschreck einjagen."

Alec nickte. Brynjar stieg aus und ging zum Haus. Der Junge hing gleich an seinem Vater und Brynjar nahm ihn auf den Arm. Was würde er im Haus erzählen, wen er mitgebracht hatte? Der Jeep mit Freyja hielt jetzt auch neben dem Rover. Sie stieg aus und kam herüber.

„Dein Bruder hat geglaubt, die Elfen hätten dich geholt."

„Ja, ganz schön traurig."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top