1b
Alec drehte sich um und wurde von warmen Sonnenstrahlen geweckt, die hell in sein Zimmer schienen. Er brauchte noch einen Moment, um zu realisieren wo er überhaupt war. Er streckte sich und stieß gegen das Kopfende des Bettes. Er hatte es wohl nicht mehr geschafft, sich auszuziehen. Eine kleine Kommode stand neben dem Bett, Spiegel, großes Fenster mit Gardinen und Tür zum Bad. Wenn Gwen nicht so viel Wert auf Luxus legen würde, hätten sie hier durchaus Urlaub machen können. Oh, Nein, Gwen! Die hatte er gar nicht mehr angerufen. Wie spät war es wohl? Die Ziffern auf seiner Uhr brauchten einen Moment, bevor sie klar genug zu erkennen waren. Kaum zu glauben, dass er bis vier geschlafen hatte. Andererseits war das auch mal dringend nötig gewesen. Gestern war ziemlich anstrengend gewesen. Bis zum Schluss hatte Gwen versucht, ihm ein schlechtes Gewissen einzureden. Er hatte sie gefragt, ob sie nicht doch mitwolle, doch sie hatte nur den Kopf geschüttelt und gesagt er solle bleiben.
Besser, er riefe sie jetzt an. Als sein Handy sich erbarmte wieder anzugehen, fing es sofort an, in seiner Hand zu vibrieren. Drei entgangene Anrufe. Okay, das war akzeptabel. Alle drei von Gwen. Natürlich. Keine hinterlassenen Nachrichten, auch das war gut. Er tippte auf ihr Bild und sofort wurde eine Verbindung aufgebaut. Ob er nicht vielleicht vorher seinen Handyvertrag überprüfen sollte? Das war jetzt wohl auch egal.
„Oh, der Herr Fotograf meldet sich auch mal?"
„Hallo Gwen, wie geht's, es tut mir leid, dass ..."
„Tut dir eid, tut dir leid, mir tut es auch leid. Gib doch zu, dass dir diese dumme Insel wichtiger ist als ich und da hast du mich einfach vergessen."
„Das stimmt nicht und das weißt du auch."
„Und warum bist du dann nicht hier, bei mir?"
„Ach komm, Gwen, das haben wir jetzt echt oft genug besprochen."
„Also habe ich jetzt doch recht?"
„Komm du doch her."
„Nein, ich arbeite hier in London. Ich kann nicht irgendwo hinfahren und die ach so schöne GEGEND FOTOGRAFIEREN."
„Das ist MEIN JOB. Verdammt, Gwen."
„Wie, verdammt? Hey, ich glaube, dir geht's nicht um den Job. Du hättest dich doch wirklich überall bewerben können. Wobei ich immer noch nicht kapiere, warum du nicht einfach beim Guardian bleiben konntest."
„Auch das habe ich dir schon tausendmal erklärt. Ich sterbe da vor Langeweile, fühle mich unterfordert und vollkommen nutzlos."
„Ach, Quatsch, der Guardian braucht dich. Kannst du dich nicht mehr an gestern Abend erinnern? Alle waren total traurig, dich als Kollegen zu verlieren und Sarah meinte, deine Bilder wären immer die Besten gewesen."
„Das sagt man halt so und das weißt du auch. Ich freue mich auf die Herausforderung hier und du weißt, dass du mich hier gern jederzeit besuchen kannst. Würde mich echt freuen."
„Nee, lass mal. Du, ich muss jetzt auch wirklich weiter. Gleich kommt Georgina, die lässt mich wenigstens nicht im Stich."
Damit war das Gespräch beendet. Eigentlich hatte er auf ein „Wie geht es dir? Du fehlst mir. Ich vermisse dich. Wie ist die Unterkunft?" gehofft, aber sie war immer noch sauer. Als ob die sechs Wochen so weltbewegend für ihre Beziehung wären! Wohl kaum. Er schaute auf ihr Bild in seinem Handy und fragte sich, wann sie das letzte Mal so gelächelt hatte wie auf dem Foto. Es wollte ihm nicht einfallen. Er ging zum Fenster und warf einen Blick auf das blau glitzernde Wasser der Bucht und die steilen grünen Hänge am anderen Ufer. „Schön hier", murmelte er und stellte sich vor, wie er das Land auf der Suche nach den besten und spektakulärsten Motiven durchstreifen würde.
Er wollte unbedingt zum Snaefellsnes, von dem hatte er Geschichten gehört, dass die Isländer glaubten, der mit einem Gletscher bedeckte Berg hätte eine magische Kraft. Und wenn er da nur Geröll und Lava fotografieren würde, wäre das auch ein Anfang. Die großen Weiten des Hochlandes wollte er sehen und freilebende Pferde. Es kam ihm so vor, als wollte er immer schon nach Island, solange er denken konnte, um all das zu sehen. Gwen hätte sich doch wenigstens ein bisschen begeistern können, oder? Gedankenverloren begab er sich ins Bad und unter die Dusche. Manchmal half das, um den Kopf frei zu bekommen. Er stellte das Wasser an. Es roch nach Schwefel. Als er sich gerade fragte, ob er deswegen später an der Rezeption Bescheid sagen sollte, fiel ihm ein kleines Schild am Spiegel auf. Dort stand, dass der Schwefelgeruch vielerorts normal sei. Er war jetzt neugierig und probierte das Wasser. Es schmeckte nicht nach Schwefel. Gut.
Schließlich schnappte er sich ein Handtuch und zog sich Jeans und T-Shirt an. Er überlegte kurz, ob er sich noch rasieren sollte und musste grinsen. Das wäre nicht nötig, er war ja allein. Er wollte jetzt Reykjavik sehen, und dank der Mitternachtssonne würde er noch reichlich Zeit haben, bis es auch nur annähernd dunkel wurde. Mit dem leichten Fotoequipment in der Tasche und Jacke über dem Arm machte er sich auf in Richtung Innenstadt mit dem Ziel, die Halgrimskirkja zu finden.
Kaum draußen, bemerkte Alec, dass er eigentlich gar keine genaue Vorstellung davon hatte, in welche Richtung er eigentlich gehen müsste. So beschloss er, erstmal zum Wasser zu gehen, dass er von seinem Fenster aus gesehen hatte. Dafür musste er eigentlich nur die kleinere Straße überqueren, die vor seinem Hostel verlief und dann kurz über eine Tankstelle laufen. So kam er an eine mehrspurige Straße, die offenbar den Verkehr um die Innenstadt herumführte. Da war eine Ampel, die jedoch nicht so recht funktionierte. Zumindest war er es irgendwann leid, auf grün zu warten. Ich bin Engländer, dachte er sich, ich kann da herüberlaufen, wann es mir passt.
So kam er denn mit einem kleinen Trab gerade vor ein paar eiligen Autos an der Uferpromenade an. Dort liefen Jogger und in der Sonne sah er irgendetwas am Ufer blitzen. Er ging neugierig in die Richtung. Als er näher kam sah er, dass es sich um die Skulptur eines Wikingerschiffes handelte, die da in der Sonne funkelte. Es sah aus, als führe das Boot hinaus auf See und die stilisierten Figuren darin hatten die Arme emporgereckt, so als jubelten sie oder winkten jemandem zu. Als er ankam, waren ein paar Touristen da, die ihn baten, sie zu fotografieren. Das tat er gern und ließ sich dann auch von ihnen mit seinem Handy fotografieren, nur für den Fall, dass es Gwen doch noch interessieren sollte, wo er angekommen war.
Er schaute sich das Bild kurz an. Er im Vordergrund, das Licht ließ sein Haar noch rötlicher wirken als sonst, dahinter das Wikingerschiff und die Bucht. Er lächelte in die Kamera. Kurz entschlossen, schickte er es gleich ab. „From Iceland, with love", schrieb er dazu. Dann blieb er noch ein wenig sitzen, um nicht zu verpassen, falls eine Antwort käme. Schließlich fröstelte er im Seewind, zog seine Jacke über und entschied, bergauf zu gehen. Die Kirche war oben auf dem Hügel, das wusste er und das war nicht London, also würde er schon irgendwie ankommen. Ihm gefiel der Weg durch die Straßen Reykjaviks mit den typischen, farbigen Häusern. Von weitem sahen sie aus, als wären sie aus Holz, doch von Nahem sah man, dass es Wellblech war. Es gab einfach zu wenig Bäume auf der Insel. Er kam an kleinen Läden vorbei, an Cafes, aus denen es nach Waffeln roch und an Souvenirshops, offenbar voll T-Shirts, Kaffeebechern und Kühlschrankmagneten.
Vor einem Laden hielt er an. Vor der Tür stand auf einer Seite die lebensgroße Figur eines Wikingers mit Helm und Schwert, über dem Kettenhemd aber trug er einen dieser Wollpullover mit dem typischen Islandmuster. Auf der anderen Seite saß eine ältere Frau auf einer Bank und strickte.
„Hier gibt es die besten Pullover in der Stadt, wenn du einen willst", sagte sie. Alec musste lächeln.
„Wieso sind das die besten?", fragte er.
„Na das sieht man doch. Es gibt welche in allen Größen und die Wolle kommt von der Farm meines Schwagers in den Ostfjorden. Weißt du nicht mal, wie man einen guten Pullover aussucht?"
Alec lächelte noch breiter. Er war nicht sicher, was ihn mehr überraschte. Das wirklich gute Englisch der Frau, mal abgesehen von diesem seltsamen Akzent oder die Tatsache, dass sie ihn so freimütig ansprach. Und ob er wirklich nicht wusste, wie man einen Pullover aussuchte, würde sich gleich zeigen.
„Würdest du mir helfen, einen auszusuchen?", gab er zurück.
Die Frau musterte ihn jetzt von oben bis unten. Sie lächelte dann zum ersten Mal, so als gefiel ihr, was sie sah.
„Ich stricke hier nur. Das musst du allein machen und sonst fragst du im Laden nach Odny, meiner Nichte. Die verkauft dir einen. Und sag ihr, schwarz steht dir nicht."
„Okay, danke."
„Ekkert að þakka."
Alec zögerte kurz. Das musste wohl sowas wie „gern geschehen" heißen, denn wie es aussah, war sie fertig mit ihm.
„Bye", sagte er noch und ging in den Laden.
Drinnen gab es wirklich viele von diesen Pullovern und auch Mützen und Schals. Irgendwie hatte er nicht mit dem kalten Wind gerechnet, aber schließlich hieß die Insel Eisland. Also beschloss er, sich auszurüsten. Er ging zu einem der Regale und zog an einem braunen Pulli. Der war viel zu groß. Er stopfte ihn zurück ins Fach und kramte unter dem Stapel weiter. Der nächste Pulli war nicht kleiner. Offenbar gab es kein eindeutiges System bei den Stapeln. Er griff in das nächste Regal. Der Pulli sah von der Größe her gut aus.
„Schwarz sieht nicht aus bei dir", kam eine Stimme von hinten.
Er schaute sich um. Da stand eine Frau, die ihm jetzt einen grauen Pulli hinhielt.
„Du hast nicht zugehört, was meine Tante dir gesagt hat", fand sie.
Alec kam das langsam schon etwas seltsam vor, wie die Leute hier offenbar zu Fremden waren. Zumindest schienen sie nicht aus Höflichkeit um irgendeinen Brei herumzureden, wie er es von zuhause kannte. Eigentlich war das richtig cool.
„Findest du, ich sollte den nehmen?", fragte er.
„Sonst würde ich ihn dir nicht hinhalten", sagte Odny. Er nahm den Pulli und schaute fragend.
„Was ist, suchst du was?"
„Habt ihr 'ne Kabine?"
„Das hier ist kein Schiff. Zieh den einfach mal über."
Er zog seine Jacke aus und den Pulli an. Der passte wie angegossen. Odny zeigte ihm einen Spiegel. Sie und ihre Tante hatten auch die Farbe gut ausgesucht. Grau stand ihm wirklich gut und der leicht bläuliche Schimmer der Wolle passte gut zu seinen hellblauen Augen und dem dunkelroten Haar. Die Verkäuferin grinste auch zufrieden.
„Ist gut so. Komm mit zur Kasse."
Alec nickte und folgte ihr. Sie bestand darauf, dass er den Pulli anließ und steckte stattdessen seine Jacke in einen Jutebag. Dann zeigte sie ihm noch den Weg zur Kirche. Alec bedankte sich bei ihr und der strickenden Tante, dann ging er weiter den Hügel hinauf.
Hinter einer Kurve wurde die riesige moderne Kirche sichtbar. Hoffentlich käme er noch früh genug, sodass man ihn auf den Turm lassen würde. Er wollte unbedingt die Aussicht von oben auf die Stadt sehen. Oben am Hügel angekommen, sah er sich erst das Denkmal von Leif Eriksson, dem Entdecker Amerikas an. Leif schaute mutig und entschlossen über Stadt und Meer hinaus und Alec fragte sich, was wohl in ihm vorgegangen war, diesem Wikinger, der sich aufgemacht hatte, um neues Land zu entdecken. Sicherlich war er wesentlich mutiger gewesen, als Alec sich selbst fand, auch wenn er jetzt gerade hier war, um dieses Land zu entdecken.
An der Kirchentür hatte er Glück und die Dame am Eingang ließ ihn noch für die Turmbesteigung hinein, obwohl er spät dran war. Wie es aussah, hatte er hier einen Schlag bei den Frauen. Oder es war der neue Pullover. Er stieg die Treppen empor und gelangte erst hinter die Turmuhr und schließlich bis zur Aussichtsebene. Da war niemand, außer ihm. Er zog die kalte, frische Luft ein und bemerkte, dass sein Isländer ihn tatsächlich warm hielt. Die Aussicht war einfach phänomenal. Die Luft war klar und keine Wolke am Himmel. Das umliegende Land schimmerte braungrün und wenn er die Augen zusammenkniff, konnte er sogar ein paar Boote erkennen, die wohl vom Fischfang oder von irgendwelchen Touristenfahrten wie Whalewatching oder Hochseeangeln zurückkehrten. Und auch der magische Berg war an der Horizontlinie von Himmel und Meer zu sehen. Der schneebedeckte Gipfel schimmerte von Ferne. Alec kramte seine Kamera hervor und machte ein paar Fotos. Von der Stadt mit den bunten Häusern, von den Touristen vor der Kirche, dem Meer und dem Snaefelsness. Er konnte es kaum erwarten, sich endlich auf den Weg zu machen. Gleich morgen würde er sich einen Mietwagen besorgen. Was ihn wohl alles erwarten würde?
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