Legilimens


Der Regen prasselte unaufhörlich gegen die Fenster in Spinners End. Ich lag mit offenen Augen da und wartete auf die Rückkehr von Snape. Ob er wohl noch sauer war?

Er kam um zwei Uhr morgens. Sein Umhang war durchnässt vom Regen und sein Haar hing ihm feucht in das blasse Gesicht. Er schien sich beruhigt zu haben. Seine Gesichtszüge wirkten wieder beherrscht und still, wie eh und je. Ich lag noch immer auf dem Sofa, den Blick zur Decke gerichtet.

Langsam richtete ich mich auf. Snape sah mich an. Sein Ausdruck verriet nichts. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich wusste, dass er keine Entschuldigung erwartete und doch... Er war kein solcher Mensch. Er war nicht wie mein Vater. Meine Gedanken kreisten wie Raben über kargen Herbstfeldern unruhig umher. Ihre Schwingen ausgebreitet. Kohlrabenschwarz.

Dann griff ich das Thema vom Abend wieder auf. „Ich weiß nicht, wie ich mich dagegen schützen könnte", murmelte ich verlegen. „Gegen ihn, meine ich." Ich wusste selbst nicht, ob ich nun von meinem Vater oder Voldemort sprach, in dessen Reihen mich Ersterer hatte sehen wollte.

Snape blicke auf. Er hatte den Blick zuvor aus dem Fenster gerichtet. Noch immer tropfte der Regen von seinem Umhang auf den Teppichboden. „Sie müssen lernen, Ihren Geist vor bestimmten Dingen zu verschließen", sagte er und musterte endlich mein Gesicht. Es tat so gut, ihn wiederzusehen, nach all den Stunden der Einsamkeit und des Grübelns.

Ich runzelte die Stirn. „Aber wie?"

„Sie müssen Okklumentik lernen", murmelte er, goss sich Tee ein, der ürbig geblieben war und ließ sich in den Sessel mir gegenüber fallen.

Fragend hob ich den Kopf etwas, sodass mir meine Haare von hinten über die Schulter rutschten und mir ins Gesicht fielen. Schnell schob ich die lästige Strähne beiseite und sah Snape mit unverhohlener Neugier an. „Was ist Okklumentik, Sir?"

Mein Zaubertrankprofessor lehnte sich in dem alten Sessel nach hinten und nippte an seiner Teetasse. „Okklumentik ist die magische Kunst, die eigenen Gedanken und Gefühle vor anderen abzuschirmen. Wer die Okklumentik beherrscht, kann seine wahren Empfindungen geheimalten und seinen Geist vor dem Eindringen anderer verschließen. Wie bei der Abwehr des Imperiusfluchs erfordert dies viel Willenskraft."

Er hielt inne. „Das haben Sie ja sicherlich schon mitbekommen." Er kam nicht darum herum, mich mit einem spöttischen Blick zu betiteln. Erst als ich wütend die Brauen zusammenzog fuhr er leise mit seiner Erklärung fort. „Nur der eigene Wille kann verhindern, dass der andere die eigenen Empfindungen, die unterschiedlichen Erfahrungen, zu sehen bekommt. Das Eindringen in den Geist einer anderen Person heißt Legilimentik. Und glauben Sie mir, Ihr Vater hat schon einige Male Legilimetik angewendet, auch wenn er auf diesem Gebiet nicht zu den Berufensten gehört. Vielmehr wandte er sich immer mehr der Okklumentik zu. Äußerst nützlich in solchen Zeiten wie diesen..."

Verblüfft sah ich Snape an. „Davon habe ich noch nie gehört. Ich will lernen, wie ich meinen Geist verschließen kann. Können Sie es mir beibringen? Jetzt gleich? Sir?"

Sein Blick wurde ernst. „Die Kunst der Okklumentik ist nicht leichtfertig zu betrachten, Miss Malfoy. Es fordert intensive Übung und Disziplin, den Geist zu verschließen."

„Mag sein", unterbrach ich ihn ziemlich abrupt. „Und ich will es trotzdem lernen."

Seine Augenbrauen wanderten Richtung Haaransatz. „Sie sind nicht in der Position, Forderungen zu stellen, Miss Malfoy..." Rasch senkte ich den Blick, damit er nicht sah, wie ich erneut errötete.

Nachdem ich meine Überredungskünste fast bis zum Hochpunkt getrieben hatte, willigte er schließlich ein. „Aber nicht mehr heute", brummte er schließlich nur, ließ den Reiseumhang von seinen Schultern gleiten und lehrte den verbliebenen Inhalt seiner Teetasse in einem Zug. Dann streckte er sich kurz. „Sie sollten zu Bett gehen. Morgen werden wir weitersehen."


Und dann war der nächste Morgen angebrochen. Hell und klar wie ein Bergkristall. Die Luft war erfüllt vom Gezwitscher der Vögel draußen auf der Straße und der alte Fabrikschornstein, den ich durch das winzige Fenster erkennen konnte und der in der Nacht zuvor noch so bedrohlich und düster gewirkt hatte, sah mit einem Mal viel harmloser und freundlicher aus. Ein Sonnenstrahl durchbrach das schummrige alte Zimmer und ich sah den feinen Staub darin aufwirbeln.

Ich richtete mich langsam auf. Die Welt war so fremd und fern hier an diesem Ort, so weit weg von zu Hause. Was meine Eltern wohl gerade trieben? Mein Blick wanderte durch den staubigen, vernachlässigten Raum. Ich schob die dünne Decke beiseite, von der ich mich nicht erinnern konnte, sie gestern Abend überhaupt angerührt zu haben und stand auf.

Plötzlich bemerkte ich Snape, der im Türrahmen gegenüber lehnte, eine dampfende Tasse Tee in der Hand haltend. Die Röte schoss mir innerhalb von Sekunden ins Gesicht. „Guten Morgen, Professor."

Er nickte mir zu, nahm einen Schluck von dem Gebräu und ließ sich in den Sessel gleiten. Er schlug die neueste Ausgabe des Tagespropheten auf und verschwand für die nächste halbe Stunde hinter der Zeitung.

Ungeduld war nie eine meiner leitenden Eigenschaften gewesen, doch heute spürte ich, wie sie zunehmend in mir wuchs. Nach einer gefühlten Ewigkeit faltete Snape den Propheten endlich zusammen und fuhr sich mit der Hand durch das strähnige dunkle Haar.

„Sie werden wohl nie Ruhe geben, nicht wahr, Miss Malfoy?"

Ich lächelte entschuldigend.

„Setzen Sie sich." Er wies auf einen soliden Stuhl nahe dem Fenster. „Beginnen wir also sogleich. Sind Sie bereit?"

Überrascht sah ich ihn an, doch nickte.

„Eine verbale Antwort bitte, Miss Malfoy!"

„Ja, Sir. Verzeihung."

Er zog den Zauberstab aus den Falten seines Umhangs und ließ ihn in beinahe spielerischer Eleganz durch seine schmalen Finger gleiten. Dann sah er mich an und nagelte mich mit seinem durchdringenden Blick auf dem Stuhlboden fest. „Leeren Sie Ihren Geist, kontrollieren Sie Ihre Emotionen, lösen Sie sich von allen Gefühlen und halten Sie sich bereit."

Er hob langsam seinen schwarzen Zauberstab und zielte mit dessen Spitze direkt auf mein Gesicht. Meine Finger schlossen sich um die Lehnen des alten, geschmeidigen Holzstuhles und ich schloss die Augen. Ich holte tief Luft. Wie leerte man seinen Geist?

„Auf drei", sagte Snape. „Eins..." Ich verkrampfte mich und versuchte verzweifelt, meinen Geist zu leeren und an nichts zu denken, doch immer wieder blitzten verschiedene Bilder vor meinem inneren Auge auf. „Zwei...", sagte Snape. Ich presste nun auch die Lippen aufeinander. Moment. Stopp. Ich war nicht bereit... Bloß an nichts denken, den Geist leeren... „Drei!" Mein Magen stülpte sich um. „Legilimens!"

Ich war nicht auf das vorbereitet, was jetzt geschah... Erinnerungen durchzuckten meine Gedanken wie Donnerschläge. Kurz und scharf tauchten sie vor meinem inneren Auge auf.

Die kleine blondgelockte Isabella, die wohl gerade erst laufen gelernt hatte, rannte durch einen Korridor mit hohen Wänden. Vorbei an den reichverzierten teuren Gemälden, vorbei an Staturen und Wandbehängen in den Farben Slytherins. Die pummeligen Kinderbeinchen stampften im unregelmäßigen Tackt über den mit dunkelgrünen Teppich ausgelegten Boden. Lucius Malfoys hochgewachsene Gestalt trat aus einem der Zimmer. Er hielt ein Leinenbündel in den Armen und wiegte es vorsichtig hin und her. „Es ist ein Junge, mein Mädchen", rief der Vater Isabella entgegen und seine Augen strahlten vor Glück. „Du hast ein Brüderchen bekommen, Bella. Schau her." Lucius beugte sich zu seiner Tochter hinab und kniete sich neben sie. Sein Blick war voller Wärme. Graue Augen schauten Isabella aus dem Bündel heraus still an, in die der kleine Junge gewickelt war. Seine winzigen Hände hatte er zu Fäustchen geballt. Ehrfürchtig trat sie einen Schritt nach vorn, sah unsicher zu dem Vater empor, auf der Suche nach seiner Einwilligung. Ihre kleinen Kinderfinger klammerten sich an den Umhangsaum des Vaters. Ihre sturmgrauen Augen erwiderten den Blick des Bruders ängstlich und doch voller Neugier. „Willkommen auf der Welt, Draco."

Die Szenerie veränderte sich, doch das Grau der Augen war gleich geblieben.

Isabella erröte leicht hinter der Porzellanhaut unter dem tadelnden Blick der Mutter. Die Scherben einer hellblauen Vase lagen auf dem Salonboden verteilt. „Sei froh, dass ich deinem Vater nichts davon erzähle, wenn er nach Hause kommt... Und jetzt marsch, auf dein Zimmer." Mit einem Schwung ihres Zauberstabs ließ Narzissa Malfoy die Scherben verschwinden. Ein Mann bog um die Ecke. Er breitete die Arme aus und Isabella warf sich hinein und schlang die eigenen Ärmchen um den Hals ihres Vaters. Er gab ihr einen zärtlichen Stups auf die Nase. „Bist du auch schön artig gewesen heute, mein Kind?" Isabella nickte eifrig. „Ja, Vati, ganz bestimmt." Die Eltern tauschten einen kurzen Blick. Isabellas Finger verkrampften sich kaum merklich, die Farbe entwich ihren Wangen einen Hauch zu schnell.

Das Studierzimmer wirkte riesig für die achtjährige Isabella. „Bitte nicht böse sein, Vater", hauchte Isabella und betrachtete mit mäßigem Interesse die Spitzen ihrer Schuhe. „Es war bestimmt keine Absicht." Lucius Malfoy beugte sich zu seiner Tochter hinab und nahm sie in den Arm. „Beim nächsten Mal musst du einfach besser Acht geben, Bella. Und du weißt doch, dass Herumrennen im Haus verboten ist." Als Isabella die Augen niederschlug, musste Lucius Malfoy ein Lächeln unterdrücken. „Schon gut. Nun lauf und erzähl deiner Mutter nichts davon." Sie lächelte und fiel ihrem Vater um den Hals. „Ich hab dich lieb." Leichtfüßig und glücklich sprang sie zur Tür, dann begegnete sie dem milde strengen Blick ihres Vaters und verlangsamte ihre Schritte. Bedacht und leise schloss sie die Tür des Studierzimmers hinter sich und sah noch kurz durch den Spalt der zugehenden Tür, wie sich der Vater schmunzelnd über seine Unterlagen beugte.

Die kurzen Erinnerungen aus meiner Kindheit rasten in atemberaubender Geschwindigkeit durch meine Gedanken. Ich versuchte verzweifelt, mich von allen Emotionen zu lösen und an nichts zu denken, doch es wollte mir einfach nicht gelingen, Snape aus meinem Geist zu vertreiben.

„Sag das noch einmal!", schrie Lucius Malfoy erzürnt. Sein Gesicht war weiß vor Zorn. Betreten sah Isabella zu Boden. Sie wand sich unter dem Blick ihres Vaters. „Es war doch nicht meine Schuld", sagte sie schließlich zögerlich. „Das liegt an diesem Halblut, er weiß nicht, was er spricht." Hochnäsig und trotzig zugleich reckte sie das Kinn in die Höhe und stemmte die Hände in die Seiten. „Von einem zwölfjährigen Mädchen hätte ich schon mehr erwartet, als dass sie die Schuld auf einen Lehrer schiebt. Nun gut, ich werde veranlassen, dass das Halbblut entlassen wird, aber das erklärt noch immer nicht deine erheblich schlechte Leistung in diesem Fach. Ich bin äußerst enttäuscht von dir, Isabella." Sie schämte sich so furchtbar. Sie wollte einfach nur, dass ihr Vater aufhörte, sie anzuschreien und sie in die Arme schloss. „Es war ein Ausrutscher", versuchte sie sich aus der Sache herauszureden. „Es wird nicht wieder vorkommen, Vater. Versprochen." Lucius wandte sich seiner Tochter zu und umfasste ihre Schultern mit seinen Händen. „Das will ich dir aus geraten haben, Isabella Malfoy. Und nun geh mir aus den Augen, ich will dich für den Rest des Tages nicht mehr sehen." Bedrückt schlich die blonde anmutige Gestalt aus dem Zimmer und stahl sich die Treppe in den zweiten Stock hinauf.

Kühler Märzmorgenwind umwehte Isabellas blasses Gesicht, als Narzissa Malfoy das Zimmer betrat. Als diese ihre Tochter sah, zog sie sie schnell zurück in das warme freundlich eingerichtete Zimmer. „Um Himmels Willen, Isabella. Willst du dich denn erkälten? Hast du vergessen, was heute Abend ist?" Natürlich hatte sie das Bankett nicht vergessen, doch es bereitete ihr keine Freunde, Gedanken an den bevorstehenden Abend zu verschwenden. Im Grunde kümmerte sie überhaupt nichts mehr, seit der Brief eingetroffen war. Nur gähnende Leere vor dem sicheren Sturz in den Abgrund.

Keine Emotion zeigte sich in dem hübschen Gesicht. Nicht ein einziges Mal regte sich etwas in den eisgrauen Augen. Keine Bewegung glitt über die hohen Wangenknochen. Keine Röte zeichnete sich auf den blassen Wangen ab. Kein Wort entfloss den geschwungenen zartrosafarbenen Lippen. Stille Schönheit trug einen Namen. Sie war eine Sünderin. Hatte die Worte des Vaters in den Wind gesetzt, die Befehle der Mutter ignoriert, sich abgekapselt, den Bruder von sich gestoßen. „Mach die Tür auf, Bella", tönte die Stimme von Draco an ihre Ohren. Sie drehte sich auf dem Bett in die andere Richtung und starrte die blanke Wand an. Die alten Tränen auf ihren zarten Wangen waren kaum getrocknet, da fanden die neuen auch schon ihren salzigen Weg. „Bella?" Draco klang besorgt. „Mach doch auf. Vater wird sich schon wieder beruhigen." Draco klopfte erneut an ihre Zimmertür. „Wird er nicht", schluchzte sie. „Ich habe alles kaputtgemacht. Diesmal wird er mir nicht vergeben." Draco antwortete nicht, vielleicht weil er wusste, dass sie Recht hatte, dachte Isabella.

Die Bilder wechselten immer schneller ihre Perspektive. Nun flammten keine Gefühle oder Emotionen mehr in mir auf, sondern nur noch einzelne Ausschnitte rauschten durch meinen Gehirnstrom. Bild auf Bild folgte - rasend schnell.

Der blutige Erguss auf ihrem Oberschenkel würde erst in Wochen verheilt sein. Quidditch war kein einfacher Sport. Sie schwitzte. Jonathan Yaxley klopfte ihr auf den Rücken. „Gut gemacht."

Hermine Granger kletterte hinter ihr in eine der pferdelosen Kutschen und das Schloss rückte immer näher. Die Fenster von Hogwarts hoben sich funkelnd vom sternenübersäten Himmel ab. Hermines braune Locken hüpften auf und ab.

Sie sah Harry Potter am Bahnsteig von King's Cross stehen. Sein rabenschwarzes Haar stand ihm wild im Nacken ab und er legte einen Arm um Ginny Weasley, deren herbstbraune Augen sie für den Bruchteil einer Sekunde misstrauisch ansahen.

Zwei Champagnergläser standen vor ihr auf dem Tisch - eines leer, das andere halb gefüllt. Der Saal war erfüllt vom fröhlichen Gemurmel der Gäste. Lucius Malfoy prostete dem Zaubereiminister zu. Es war März. Obsidianschwarze Augen bohrten sich in die ihren.

Eisblaue, kalte Augen. Blaise Zabini drückte sie gegen die Abteiltür und drückte seine Lippen hart auf ihren Mund. Sie schob ihn von sich und starrte ihn wütend an. Sie zog ihren Zauberstab, richtete ihn auf Zabini. „Petrificus Totalus."

Die dunklen Umrisse von Durmstrang hoben sich unheilvoll vom indigoblauen Nachthimmel ab. Es war still um sie herum. Der Mond schien nicht heute Nacht. Nur ihr Haar schimmerte silberhell im Licht des einsamen Lumos-Zaubers. Der Junge kam auf sie zugeschritten, drückte ihr eine Hand auf den Mund, zog sie an den Haaren nach hinten, presste seine eisigen, grausamen Lippen schließlich auf ihren Mund. Vergrub seine Nase in ihrem duftenden Haar...

„Genug", schrie ich. „Es reicht. Hören Sie auf. Hören Sie sofort auf." Alles war dunkel. „Finite", rief ich. „Protego. Cave inimicum. Finite incantatem." Nichts wirkte. Mein Zauberstab lag einige Meter entfernt auf dem Sofa.

„Genug", donnerte Snape. „Seinen Sie still. Es ist vorbei."

Das Bild klarte sich auf. Das schäbige Zimmer in Spinners End nahm wieder Form und Struktur an. Rasch atmend ließ ich mich auf den Stuhl zurückfallen, ohne bemerkt zu haben, dass ich mich überhaupt erhoben hatte...

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