Ein Blick in die Vergangenheit

Die Tage wurden zunehmend kürzer. Schon am Nachmittag brach die Dämmerung über Schloss Hogwarts herein und zwang die Schüler dazu, schon gegen siebzehn Uhr die schweren Messing-Öllampen hervorzuholen, damit sie in der Bibliothek überhaupt Licht zum Arbeiten hatten. Auch jetzt war die Dämmerung bereits lange hereingebrochen und der sternenklare Himmel hatte sich indigoblau gefärbt. Das Gras war starr vom Frost, der schwarze See bereits an manchen Stellen zugefroren und die Luft schneidend und kalt. Ich klappte den Kragen meines Mantels nach oben und lief mit eingezogenem Kopf und die Hände tief in den Taschen vergraben den sanft ansteigenden Hügel zum Schlossportal hinauf. Der frostige Boden knirschte leise unter meinen Stiefeln, als ich auf das Eichentor zueilte.

Die Wärme des Butterbiers, das ich vor einer Stunde zusammen mit Elizabeth und ein paar ihrer Freunde in den Drei Besen zu mir genommen hatte war bereits auf dem Weg von Hogsmeade zurück hierher verflogen. Ich grinste in mich hinein. Zum Glück hatte uns niemand entdeckt. Wir wussten nicht, ob es unbedingt erlaubt war, sich unter der Woche – und heimlich- nach Hogsmeade zu schleichen.

Ich schüttelte mir den feinen Schneeregen aus den Haaren und betrat die von Fackeln erleuchtete Eingangshalle. Jemand hatte den Eingang der Halle je zu einer Seite des Portals mit einem Strauß Stechpalmen und einer Art Beerengestrüpp verziert. Es sah hübsch aus, aber ich rümpfte missbilligend die Nase. In weniger als einem Monat war Weihnachten. Nicht gerade eine freudige Aussicht für mich. Ich weigerte mich schon partout allein bei dem Gedanken daran, nach Hause zurückzukehren. Vor allem, weil ich meinen Vater das letzte Mal gesehen hatte, als er gerade den Zauberstab gegen mich erhoben hatte und mir den Imperius-Fluch auf den Hals gehetzt hatte.

In der Eingangshalle war es wunderbar warm und ich rannte auf direktem Weg die Treppe in die Kerker hinab. Ein Blick auf meine Armbanduhr verriet mir, dass ich mich in einer viertel Stunde in Snapes Büro einzufinden hatte. Zur Nachhilfe. Wieder rümpfte ich die Nase. Schon seit fast einem Monat fand ich mich jeden Montagabend um zwanzig Uhr in seinem Büro ein, mischte komplizierte Tränke zusammen oder zerhackte irgendwelche Kräuter, während Snape mir knifflige Fragen über die verschiedenen Zutaten oder Zubereitung der Zaubertränke stellte.

Ich befreite mich von meinem Mantel und schlüpfte aus den dicken Winterstiefeln. Meine Wangen waren von der Kälte und der Aufregung zart gerötet und ein merkwürdiges und fremdartiges Glitzern erfüllte meinen Blick. Verblüfft trat ich näher an den Spiegel im Mädchenschlafsaal heran. Ich blinzelte ein paar Mal. Meine grauen Augen waren nicht wie sonst kalt und herablassend, sondern ein Schimmern und Glühen schien von ihnen auszugehen. Das Licht der lodernden Fackeln musste mir einen Streich gespielt haben. Doch es war nichts Ungewöhnliches an meinem Gesicht zu erkennen, außer der schlichten Tatsache, dass ich scheinbar einfach... glücklich war. Ich lächelte. Es war kein einstudiertes, kaltes Lächeln, kein falsches Lächeln. Es war ein ehrliches und aufrichtiges Lächeln, das auch meine Augen zu erreichen schien.

Ich drehte mich um, griff nach meiner Schultasche und lief mit leicht klopfendem Herzen aus dem Gemeinschaftsraum. Snapes Büro lag einige Korridore entfernt, aber ebenfalls in den Kerkern. Nach einigen Minuten kam die schlichte dunkle Holztür in Sicht und ich klopfte ohne zu Zögern an. Wie gewohnt verstrichen erst einige Sekunden, ehe ich eine ruhige und samtene Stimme von drinnen vernahm. „Herein." Ich drückte die Türklinke hinunter und schlüpfte in das, mir inzwischen wohlbekannte, Büro meines Zaubertrankprofessors.

Er blickte auf, als er die Tür aufgehen hörte. „Sie sind zur Ausnahme ja mal pünktlich", sagte er süffisant grinsend. „Sie können sogleich beginnen. Ich werde Ihre Fortschritte dann im Laufe der Stunde beobachten. Die Zutaten stehen schon für Sie bereit. Schlagen Sie im Buch bitte die Seite 130 auf und beginnen Sie mit der Zubereitung des Aufweck-Elixiers."

Das Lehrbuch zur Rate ziehend begann ich mit dem Brauen. Es war keine komplizierte Anleitung und ich kam gut voran. Nach einer guten Stunde erhob sich Snape von seinem Schreibtisch, legte die Feder beiseite mit der er gerade die Aufsätze der dritten Klasse korrigiert hatte, und lugte an seiner Hakennase vorbei in meinen Kessel.

Das ringelblumenfarbene Elixier blubberte gemächlich vor sich hin und zu meiner Überraschung nickte Snape zufrieden. „Sie machen Fortschritte, Miss Malfoy. Ich sagte doch, sobald sie sich ein wenig konzentrieren, fernab von den Blicken ihrer Mitschüler, weisen sie wenigstens ein wenig Talent auf. Nicht, dass sie sonderlich begabt wären, aber das Gebräu hier ist ganz passabel." Seine Mundwinkel zogen sich scheinheilig nach oben und er notierte sich etwas, das ganz nach einem „A" aussah und ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

Zu meiner Unzufriedenheit bemerkte er es. „Freuen Sie sich nicht zu früh, Miss Malfoy, Sie müssen noch eine Menge lernen, ehe ich mit Ihnen zufrieden bin." Ich zog eine Braue nach oben. Es klang beinahe so, als beschränke sich Snape hier nicht lediglich auf meine Braukünste. „Wenn Sie aufgeräumt haben, können wir mit dem Okklumentik-Unterricht beginnen."

Ich stockte mitten in der Bewegung und sah ihn perplex an. „H-Heute?"

„Haben Sie nicht vor ein paar Wochen darum gebettelt, dass ich Ihnen helfe, Ihren Geist zu verschließen? Wollten Sie nicht, dass wir den Unterricht wieder aufgreifen?"

„Doch, schon... Aber ich dachte nicht, dass es heute wäre."

„Passt es Ihnen nicht? Sollen wir vielleicht einen anderen Termin ausmachen?"

„Ich-"

Ein Blick in sein Gesicht zeigte mir, dass die letzten Worte pure Ironie gewesen waren.

„Nun machen Sie schon." Er schien wirklich amüsiert über meine Unsicherheit. Der Trotzkopf in mir erwachte wieder.

„In Ordnung", sagte ich entschlossen und zog den Zauberstab. Er bedachte mich mit einem seltsam funkelnden Blick und zog ebenfalls den Zauberstab unter dem Umhang hervor.

„Aber ich warne Sie, Miss Malfoy, wenn Sie wieder so einen Aufstand machen, wie beim letzten Mal, dann war es auch das letzte Mal, dass ich sie unterrichtet habe." Sein Bick war ernst und durchdringend.

„Ja, Sir." Ich nickte. „Dieses Mal bin ich bereit. Ich möchte es."

„Nehmen Sie Platz." Er deutete auf den Stuhl vor seinem Pult.
Ich setzte mich zögernd. „Leeren Sie Ihren Geist", sagte er mit eben jener seidenweichen Stimme, bei der sich mir stets die Nackenhaare aufrichteten. Unruhig, aber entschlossen schoss ich die Augen und konzentrierte mich darauf, meinen Geist zu leeren. Bloß an nichts denken. Ich stellte mir einfach eine weiße, blanke Wand vor. „Auf drei!", schnarrte Snape. Er zählte rückwärts herunter, dann-

„Legilimens."

Sie flog. Ihre Hände fest um die Kordeln der alten Schaukel geklammert schwang sie durch die Luft. Dann ließ sie los und sprang, schwebte fast durch die Frühlingsluft. Zwei starke Hände fingen sie auf. „Genug für heute." Trotzig schob das blonde Mädchen die Unterlippe vor. „Och, noch zwei Minuten, bitte." Lucius Malfoys Blick duldete keinen Nachdruck. „Sofort!" Murrend setzte sich das Kind in Bewegung. „Das ist total unfair. Immer muss ich rein, wenn es am schönsten ist." Isabella befreite sich aus den Armen ihres Vaters. „Du bist gemein, Vater." Sein Blick wurde ernst. „Treib es nicht zu weit mit mir, junges Fräulein. Du gehst sofort auf dein Zimmer. Das Abendessen bleibt für dich wohl heute aus." Isabella sträubte sich, als ihr Vater sie zurück ins Haus dirigieren wollte. Er hob warnend eine Hand.

Das Bild verzerrte sich merkwürdig, wurde wieder scharf und verschwamm eine Sekunde darauf wieder. Ich konnte die schemenhaften Umrisse von Snape erkennen, der vor mir stand, den Zauberstab auf mich gerichtet und er zuckte nicht mit der Wimper. Ich wollte meine Hand mit dem Zauberstab heben, um einen Schildzauber oder ähnliches zwischen mich und meinen Professor zu bringen, aber ich konnte meine Hand nicht richtig bewegen. Wieder verschwamm der Raum vor meinen Augen.

„Ah ja, sehr geschmeidig, gute zehn Zoll, elastisch, aus Mahagoni, perfekt geeignet für Verwandlungen." Mr Ollivander zog einen dunkelbraunen, glänzenden Zauberstab aus einen länglichen, schmalen Schachtel und reichte ihn Isabella. Narzissa Malfoy beugte sich interessiert nach vorn. „Das ist schon der fünfte Stab, den sie ausprobiert, Olivander. Vielleicht wären wir bei Gregorowitsch doch besser aufgehoben." Mr Ollivander lächelte zittrig. „Aber nein, nur zu, schwingen Sie ihn durch die Luft", sagte er zu dem blonden Mädchen vor sich. Sie tat, wie ihr geheißen. Ein Schauer goldener Funken stob aus der Spitze des Zauberstabes hervor und ergoss sich auf die alten, von Holzwürmern zerfressenen Dielen des Ladenbodens. Isabella lächelte. „Mutter, sieh doch!", rief sie begeistert. Narzissa Malfoy lächelte kühl und sah Mr Ollivander geringschätzig an. „Wie viel bekommen Sie dafür?"

Wieder klarte sich das Bild auf. Snapes Umrisse wurden schärfer. Kurz flackerte erneut der Laden von Ollivander von meinem inneren Auge auf, dann nahm ich die Konturen des Büros wieder richtig wahr. Ich musste mich zwar an den Stuhllehnen festhalten, um nicht ohnmächtig zu werden, aber ich hatte es geschafft. Snape ließ den Zauberstab sinken. „Seltsam", murmelte er leise. Dann sah er mich an. „Geht es Ihnen gut?" Ich nickte.

Nachdem mein Magen sich beruhigt hatte und das unangenehme Flattern verschwunden war blickte ich zu Snape empor. „Ich will es nochmal versuchen."
Dieser runzelte die Stirn. „Ich denke, es genügt für heute", sagte er dann ruhig.

„Bitte!"

Sein Augenmerk flackerte zu mir herüber. „Schön, wie Sie wünschen." Er zog den Zauberstab. Etwas an seinem Blick beunruhigte mich, aber ich dachte nicht weiter darüber nach.
Ich konzentrierte mich. Aber diesmal zählte Snape nicht von drei runter, er hob den Zauberstab und kaum, dass ich auch nur ein Wimpernschlag vergangen war fand er sich schon in meiner Erinnerung wieder.

Ausschnitte vom Quidditchspiel letzten Monats rauschten an mir vorbei, dann wie ich mich als neunjähriges Mädchen nachts in die Familienbibliothek stahl. Ich, wie ich das erste Mal nach Durmstrang kam. Viktor Krum, wie er mir beim Quidditchtraining zunickte, was bei meinen früheren Freundinnen einen Kicheranfall auslöste...

Ich konnte Snape nicht abschütteln. Er durchforstete meine Gedanken. Es schien beinahe so, als würde er nach etwas zu suchen.

Dann wie ich mit meinen Freundinnen in meinem vierten Jahr abends heimlich durch die Korridore der Burg schlich, auf dem Weg zum Schlafsaal von Viktor Krum. Schließlich mein fünfzehnjähriges Ich, das sich nach der Sperrstunde nach draußen stahl, im Kleid, sogar mit rotem Lippenstift auf den jungen Lippen...

Diese Erinnerung zog sich wie Sirup in die Länge. Snapes Legilimentikversuche waren langsamer geworden. Ich versuchte mich zu wehren. Vergebens. Er fand letztendlich doch, wonach er gesucht hatte...

Und wieder hoben sich die dunklen Umrisse Durmstrangs gegen den kohlrabenschwarzen Nachthimmel ab und ihre Augen suchten nach dem Mond, aber fanden ihn nicht. Alles war still. Still und schwarz. Und dann hörte sie es. Sein aufgeregtes Atmen, spürte seine eisigen Lippen auf den ihren, die sie so fest zusammenpresste, wie es nur ging. Er ließ von ihr ab und vergrub seine Nase in ihrem dichten, blonden Haar. Isabella wollte schreien, ihn wegschlagen, ihn daran hindern, sich zu nehmen, was er wollte. Was sie alle immer wollten. Ihr Körper war taub, sie konnte sich nicht bewegen, auch wenn ihr Inneres sich wand und quälte und schrie vor Angst. Ihre hellgrauen Augen waren von Panik erfüllt, ängstlich aufgerissen und vor Schock beinahe erstarrt. Er riss an ihrem Umhang, entblößte warme, weiche Haut. Fuhr mit seinen gierigen Fingern ihren Schenkel entlang, grub seine Nägel in die blasse, junge Haut. Riss dunkelgrünen Spitzenstoff beiseite, beugte sich vor. Plötzlich schien sie aufzuwachen, aus dem Alptraum, der doch die Wirklichkeit war. Sie bäumte sich auf, schrie nicht, sondern kämpfte nur, stumm und verbissen, wand sich gegen seinen Griff. Sie trat zu, sooft sie konnte. Wie in Trance. Alles war leer in ihrem Kopf, sie hatte kein Gewissen, hatte vergessen, dass sie eine Hexe war und einen Zauberstab besaß, mit dem sie sich hätte verteidigen können, hatte vergessen, dass dort ein lebendiger Mensch auf ihr lag, ein grausamer, ja, aber ein atmender, lebendiger Mensch. Doch sie wollte sich nicht beruhigen, trat immer wieder zu. Panisch und voller Angst. Mit einem Stöhnen sackte sein schwerer Oberkörper auf dem ihren zusammen, drückte ihren schmalen Körper fest in das feuchte, weiche Gras unter ihr. Sie schob ihn weg, richtete sich auf. Ihr Atem ging rasselnd, sie sah seine blutige Lippe, das gebrochene Handgelenk und schrie. Jetzt schrie sie so laut sie konnte. Sie schrie um Hilfe. Und die Hilfe kam. Eine dunkle Gestalt rannte den moosbewachsenen Abhang zu ihr hinab, ein Licht flammte an der Spitze des Zauberstabes auf und erleuchtete ihr bleiches, angsterfülltes Gesicht. Ein Blick auf den leblosen Körper des jungen Mannes reichte, um dem Lehrer klarzumachen, was geschehen war. „Rennervate", zischte ihr Verwandlungslehrer und richtete seinen Zauberstab auf den Körper des Siebtklässlers. Seine Augenlider flatterten, sein Blick war verschwommen, dann stellte er sich scharf und fasste ihre Züge ins Visier. Blanker Hass stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Dafür wirst du büßen, Malfoy", murmelte er, sodass nur sie es verstand. Tränen rannen ihr die Wangen hinab. Das hatte sie nicht gewollt.

Das Büro von Igor Karkaroff nahm langsam Kontur an und Isabella und der Siebtklässler standen vor dem gewaltigen Schreibtisch des Schulleiters. Man hatte ihr keinen Glauben geschenkt, dem Jungen schon. Mit wütender Miene dirigierte sie der Direktor aus seinem Büro. „Sie können gehen." Einem Mädchen maß man weniger Beachtung bei, das hatte man schon immer getan. Vor allem hier oben im Norden. Schnee trieb vor den Fenstern der Burg umher und alles um sie herum wurde weiß, vermischte sich mit dem Schnee, der die Welt draußen in eisige Kälte hüllte und sie mit seiner weißen Decke zudeckte... Der Zorn ihres Vaters würde unermesslich sein. Sie hatte alles zerstört.

Und diesmal konnte ich mich nicht festhalten, als Snapes Büro wieder Struktur annahm und ich zurück in die Wirklichkeit kehrte. Ich klammerte mich an den Stuhl unter mir, doch er schien mit einem Mal verschwunden zu sein. Ich schwankte. Alles um mich herum wurde schwarz. Zwei große, warme Hände fingen mich auf, kurz bevor ich zu Boden stürzte.


Puuh, hier also endlich die Erklärung für den Brief und den Schulverweis in Kapitel 1... Fandet ihr das Kapitel spannend? :) Snapes Reaktion folgt dann im nächsten Kapitel. Freue mich über Rückmeldungen!

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