Auf ein Neues
Juni 2018
Erbärmlich. Ja, genau das war das Wort, das mich momentan am besten beschrieb. Mich, und die vielen ungesunden, völlig überzuckerten Lebensmittel, die die Kassiererin mit einem furchtbaren Piepen über die Kasse zog, und mich mit jedem Mal noch näher an den Rande der Weißglut trieb. Ich war sauer, so unglaublich wütend, und ich hätte diese unhöfliche und miesepetrig dreinschauende Frau hinter der Kasse am liebsten mit der Sourcreme&Onion Pringles Packung zusammengehauen. Katharsis, Isa… reg dich ab. Sie kann nichts dafür. Aber das war mir egal. Nachdem sie alle Sachen über die Kasse gezogen hatte, nannte sie mir den Preis, fragte nach meiner Deutschland Karte, was ich mit einem grimmigen "Nein" beantwortete, und schmiss ihr unwillig mein ganzes Kleingeld hin, damit sie auch noch etwas zu tun hatte. Gott, konnte ich garstig sein. Nur interessierte mich das nicht einmal ansatzweise. Ich war es Leid, immer selbst die Dumme zu sein, mich von jedem ausnutzen zu lassen, und das alles mit einem Lächeln im Gesicht. Ich war es so Leid. Dieser Tag war furchtbar, er hatte furchtbar begonnen, war furchtbar verlaufen, und würde Dank der drei Weinflaschen in meinem Einkaufswagen genau so furchtbar aufhören.
Als die Einkäufe im Kofferraum verstaut waren, und ich mich angeschnallt hatte, fuhr ich in meinem Fiat Panda los, während ich mir mein Trommelfell durch die laute Musik von ACDC bearbeiten ließ. Es fiel mir unglaublich schwer, nicht einfach loszubrüllen, und mir meine ganze Wut von der Seele zu schreien.
Wie konnte es sein, dass immer mir solche Sachen passierten? Warum immer ausgerechnet mir?
Drei Stunden später saß ich, vom Wein angeheitert und von zwei Packungen Ben&Jerry's völlig überdreht, auf meinem blau weiß gestreiften Ikea Sofa, und schaute zum gefühlt tausendsten Mal Revenge an. Ich war gerade mit der vierten Folge fertig, als ich hörte, wie die Wohnungstür aufflog, und meine Schwester ihre Tasche in die nächste Ecke schmiss.
"Isa, Isa, Isa… du wirst nicht glauben, wer heute nem Dalmatiner das Leben gere…" Als sie das Wohnzimmer betrat, und mich erblickte, hielt sie augenblicklich inne, und starrte mich entsetzt an.
"Oh mein Gott, was ist los?" Ihre Stimme war kaum hörbar, mehr ein Flüstern, und ihre Augen wurden sofort Glasig.
"Meine Masterarbeit..." Ich bekam kein einziges Wort mehr heraus. Meine Abgeklärtheit, die ich mir versucht hatte mit Wein und Zucker selbst vorzugauckeln, war weg.
Als wäre sie Edward, der Bella vor dem auf sie zurasenden Auto beschützen wollte, saß sie auf einmal neben mir, störte sich nicht an den gebrauchten Rotzfahnen, auf denen sie nun saß, und umarmte mich.
"Was ist passiert?", fragte sie mich. Doch ich bekam kaum einen verständlichen Satz heraus.
"Die wuhuhurde nich angenommn… ich war schon …. Und dann der Professor so.. ", stammelte ich.
Aber Tilda wäre nicht meine Schwester, könnte sie meinen kläglichen Erklärungsversuch nicht verstehen.
"Deine Masterarbeit wurde nicht angenommen?!" Sie klang erzürnt. Immer wieder strich sie mir beruhigend über meine roten Haare, die mittlerweile eher an Chuckie aus Rugrats erinnern mussten.
Es verging eine Weile bevor ich erneut antwortete. Ich versuchte so gut es ging, einen erneuten Weinkrampf zu vermeiden, und so musste sich mein viel zu schleimiger Hals erst einmal wieder erholen, bevor ich ein anständiges Wort aussprechen konnte.
Vermutlich hatte Tilda schon nicht mehr mit einer Antwort von mir gerechnet, da sie kurz zusammenzuckte, als ich mich räusperte, um meine Erklärung für mein erbärmliches Erscheinungsbild herauszubringen.
"Offensichtlich war es meinem werten Herr Professor nicht gut genug, was ich bis jetzt geschrieben hab. Es sei 'geistiger Dünnschiss'... Das waren seine Worte!", erzählte ich, und unterstrich die Worte meines Professors in dem ich Anführungszeichen in die Luft machte.
"Was soll ich denn jetzt machen? Er meinte er übernimmt das so nicht… ich kann mir jetzt keinen neuen Professor mehr suchen, der das Thema übernimmt… ich brauche meinen Master! Ich brauche den für die Stelle in Dänemark, auf die ich mich beworben habe!"
Mir das noch einmal vor Augen zu führen deprimierte mich. Ab Oktober würde die Stelle frei. Ich hätte endlich mein Studium hinter mich gebracht, wäre jetzt nicht Professor Wolff, der mir nen Strich durch die Rechnung zog.
"Soll ihn doch der Blitz treffen, während er auf dem Scheißhaus sitzt!"
Tatsächlich wollte nun keine einzige Träne mehr aus meinen Augen fließen. Während ich das, was Professor Wolff wenige Stunden zuvor zu mir gesagt hatte meiner Schwester berichtete, wurde mir klar, was für ein mieses Arschloch der Typ war.
"Und was ist denn mit deinem anderen Thema, das zur Auswahl stand?", unterbrach Tilda meine Gedanken.
Mein anderes Thema… das war nicht mehr als ein Traum - ein Hirngespinst - gewesen. Eine Fantasie einer 24-Jährigen, die sich nichts mehr als ein Abenteuer wünschte.
"Du meinst die Erik der Rote Sache?"
Dass meine Schwester sich daran noch erinnerte, wunderte mich ehrlich gesagt. Ich hatte dieses Thema einmal ins Gespräch gebracht, als wir bei unseren Eltern zum Essen waren, und das war fast ein halbes Jahr her.
Aber Tilda nickte. Das konnte sie nicht ernst meinen.
"Brauchst gar nicht so gucken, Schwesterlein. Ich mein das ernst. Hat mich überhaupt gewundert, dass du das nicht gleich genommen hast…"
Tilda war doch verrückt. Verrückter als verrückt.
"Und wenn ich mich für das Thema entscheiden würde, würde es kein Professor übernehmen."
"Dann finden wir dir einen! Wird doch nicht so schwer sein…" Wenn sich meine kleine Schwester da mal nicht täuschte.
Es war kein leichtes einen Professor für ein einigermaßen "normales" Thema zu finden, wie sollte ich dann einen für dieses finden?
"Schau mal, du musst jetzt eh noch einmal ausharren bis nächstes Jahr, dann kannst du das Jahr auch sinnvoll nutzen und deinen Selbstversuch machen."
Während Tilda mit mir sprach, war sie in ihr Zimmer gerannt und hatte ihren Laptop geholt.
"Wir finden dir jemanden, der dir dabei hilft… seit Vikings gibt's bestimmt viele Verrückte, die auf eine solche Reise mitkommen würden… wir starten einen Aufruf."
Nach zwei Stunden saß meine Schwester noch immer dran, den Laptop auf dem Schoß, und ihr - in der Zwischenzeit - viertes Weinglas in der linken Hand. Mich hatte sie nicht helfen lassen, und so hatte ich versucht, mich mit Fernsehen abzulenken.
Es war immer noch seltsam zu wissen, dass dieses Semester nicht das letzte Semester meines Studiums war. Seit fünf Jahren studierte ich nun, zunächst Skandinavistik und Archäologie, hatte dann meinen Bachelor in Skandinavistik gemacht, und musste jetzt noch meinen Master in Archäologie bewältigen. Doch das schien für's erste nichts zu werden.
"Bin fertig…", erschreckte mich Tilda, als sie mir ihren Laptop auf meinen Schoß stellte.
Sie hatte mir eine Internetseite eingerichtet… Isa's Reise - auf den Spuren von Erik dem Roten. Natürlich hatte sie auch noch eine Instagram- und Facebook-Seite eingerichtet.
"Oh wow… und ich dachte, dass du mir damals nicht richtig zugehört hast…", sprach ich vor mich hin.
"Unterschätze niemals deine jüngere Schwester. Das müsstest du doch mittlerweile kapiert haben, Isalein." Wo sie Recht hatte…
Ich war wirklich beeindruckt. Sie hatte nicht nur mein Thema vorgestellt, sie hatte auch gleich einen Aufruf gestartet, an alle die das technische Know-how und die Fähigkeiten für eine solche Reise vorweisen können.
"Tillie, das ist ja alles schön und gut, aber denkst du tatsächlich, dass sich jemand auf diesen Aufruf melden wird?"
"Äh, natürlich! Was denkst du denn?"
Bis spät in die Nacht saßen Tilda und ich auf dem Sofa, schauten weitere fünf Folgen Revenge an, und regten uns zwischendurch immer wieder über meinen bescheuerten Professor auf.
Die dritte Flasche Wein hatten wir mittlerweile auch geleert, und meine Schwester hatte noch zu ihrer Notfallflasche gegriffen, die sie in ihrem Zimmer gebunkert hatte.
"Oh Isa, weißu was?"
Tilda vertrug den Alkohol definitiv nicht so gut wie ich.
"Nein, aber du sagst es mir bestimmt gleich…" antwortete ich, und beobachtete, wie sie in ihr Zimmer torkelte, und von dort erneut ihren Laptop her schleppte.
"Is hab was, mit dem duuu defintif jemand für deine Reise findest!"
Etwas besorgt um den Laptop, beobachtete ich Tilda dabei, wie sie mit dem schweren Teil zurück kam, zum Glück ging jedoch nichts in die Brüche.
Noch während sie etwas in die Google Suchleiste tippte, konnte ich schon den Namen lesen, der einige Sekunden später auf dem Bildschirm stand.
Markus Groth.
Meine Augen wurden größer und größer je mehr ich las. Das hatte sie nicht vor.
"Ich glaub's nicht… das ist… Himmel, Tilda, als ob sich Markus Groth für die Masterarbeit einer Studentin interessiert."
"Is glaub das schon Isa, das is deine Chos...chonz… du weiß' was is mein."
Natürlich wusste ich, was sie meinte. Markus Groth, DER Markus Groth, und Tilda dachte, dass sie ihm einfach so schreiben konnte.
Schon seitdem ich fünf Jahre alt war, hatte ich am liebsten die Dokumentarfilme von ihm angesehen. Sein Leben war so unglaublich spannend und aufregend und voller Abenteuer. Dank ihm hatte ich zehn Jahre lang in jedes Freundebuch, das ich in der Schule bekommen hatte, in die Spalte 'Traumberuf' Abenteurerin geschrieben.
Auf seiner Homepage stand etwas, was mich schlagartig wieder nüchtern machte, obwohl, wenn ich auf diesen Moment zurückblickte vermutlich doch nicht so ganz.
Er suchte unter anderem nach neuen Vorschlägen für seine nächste Reise.
Ich weiß nicht, was es war, aber irgendetwas veranlasste mich dazu, meinem Idol eine E-Mail zu senden, und in diese einen Link zu meiner neuen Internetseite zu kopieren. Zum Glück gab es die Rechtschreibkorrektur, sonst hätte ich vermutlich eine katastrophale E-Mail abgeschickt.
Der nächste Morgen begann bei mir mit einem Spurt zur Toilette. Nachdem ich meinen gesamten Mageninhalt vom Vortag herausgewürgt hatte, brachen die Erinnerungen von gestern über mich herein. Die Sache mit meiner vergeigten Masterarbeit trieb mir bereits Tränen in die Augen, bevor mir noch etwas anderes einfiel, das gestern passiert war. Die Sache mit meinem Aufrufen und die E-Mail an Markus Groth.
Ebenso eilig wie ich zuvor ins Bad gerannt war, rannte ich nun ins Wohnzimmer zu Tillie's Laptop. Und tatsächlich… ich hatte gestern Abend diese E-Mail abgeschickt.
Im ersten Moment fühlte ich mich wie gelähmt, doch konnte ich mir selbst gut zureden, dass ich sowieso niemals eine Antwort von ihm erhalten würde. Also musste ich mir auch keine Gedanken machen. Oder doch?
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