Melina - London
Schniefend wischte ich mir die Tränen weg und sah wehmütig aus dem Fenster.
Zu meinem Glück hatte ich noch einen Fensterplatz in dem Flugzeug, das mich nach London bringen würde, bekommen.
Die Tränen rannen mir in Bächen die Wangen hinab.
Ich hatte ja von Anfang an gewusst, dass der Abschied emotional werden würde.
Doch so schlimm hätte ich es nicht erwartet.
Immer wieder zog das Bild von dem verweinten Nick, der tröstend von Grace in die Arme genommen wurde, an meinem inneren Auge vorbei.
Immer wieder hörte ich Mums Worte.
"Wir lieben dich. Wir lieben dich über alles und das weißt du auch! Du bist so groß geworden, ich bin unglaublich stolz auf dich!"
Ein Schluchzen entwich meiner Kehle.
Mir war es egal, was die restlichen Passagiere jetzt wohl von mir denken würden.
Ungefähr zwei Stunden würde der Flug dauern. Endeutig genug Zeit, um noch ein wenig zu schlafen, wie ich fand.
Also wischte ich notdürftig die Tränen mit meinem Kapuzenpulli weg, setzte meine Kopfhörer auf und ließ mich in die Stuhllehne fallen.
Zu den sanften Tönen von 'Somewhere only we know' driftete ich langsam in den Schlaf.
Nur gefühlte fünf Minuten später wurde ich von der Durchsage aus dem Schlaf gerissen, die die Landung am Londoner Flughafen ankündigte.
Ich schnallte mich also wie geheißen an und rieb mir verschlafen die Augen.
Ich hatte einen ekelhaft trockenen Mund und hoffte einfach nur, dass ich, wenn ich wieder festen Boden unter den Füßen hätte, so schnell wie möglich etwas zu trinken bekommen konnte.
Und dann landeten wir.
In meiner neuen Heimat.
Ich war zwar schon ziemlich oft hier gewesen, wenn ich meinen Dad besucht hatte, doch die zahlreichen Besuche und die damit verbundenen Landungen konnte man nicht im geringsten mit dem Gefühl vergleichen, das jetzt in mir vorherrschte.
Es war eine Mischung aus Angst, Trauer, Vorfreude und Abenteuerlust.
Als ich das Flugzeug dann schließlich verließ und mir ein kühler Wind entgegen schlug, wusste ich, dass ich angekommen war.
Ab jetzt wurde fast nur noch Englisch gesprochen.
Das war so gesehen zwar kein Problem für mich, da ich so zu sagen zweisprachig aufgewachsen war, doch trotzdem würde Deutsch immer meine Muttersprache bleiben.
Und es war komisch nicht mehr in seiner Muttersprache zu kommunizieren.
Die Flughafenhalle war vollkommen überfüllt, doch ich wusste genau, wo ich hin musste.
Zielstrebig lief zu einem Kiosk relativ am Eingang der Halle.
Das war mein und Dads inoffizieller Treffpunkt, wenn Dad mich vom Flughafen abholte.
Schon von weitem konnte ich ihn vor dem Kiosk stehen sehen und beschleunigte meine Schritte.
"Dad!", rief ich und fiel ihm in die Arme. "Willkommen in London, Prinzessin.", nuschelte er in meine Haare.
Sofort musste ich grinsen. So langsan packte mich die Vorfreude auf das Neue.
"War dein Flug gut?", wollte er wissen, während wir uns in Bewegung zu den Gepäckbändern setzten.
"Naja... Ich habe nicht sonderlich viel davon mitbekommen, ich habe die meiste Zeit geschlafen."
Dad lachte und sah mich von der Seite an.
"Ich bin froh, dass du jetzt hier bist. War der Abschied sehr schwer."
"Ohja! Es war der Horror. Die haben es mir aber auch alle schwer gemacht! Gestern hatte ich eine Verabschiedungsparty. Ich hab jetzt einen ganzen Koffer voller Geschenke mit.", plapperte ich los.
Dad lächelte nur und fragte: "Ist das nicht dein Koffer?" Er deutete auf einen Koffer, der gerade an uns vorbei rollte.
Ich krallte mir diesen vom Band und meinte: "Einer fehlt noch."
"Was? Warum hast du so viel mit! Du hast doch schon Tonnen von Klamotten hierher geschickt!"
Ich zuckte nur entschuldigend mit den Schultern.
"Was meinst du, warum ich mir den XXL-Kleiderschrank für die WG ausgesucht habe? Das ist noch lange nicht alles. Ich will in London ganz viel shoppen.", erklärte ich und grinste.
"Na dann...", erwiderte Dad nur und verdrehte gespielt genervt die Augen.
Nachdem wir auch meinen zweiten Koffer vom Band geborgen hatten, folgte ich Dad hinaus zu seinem Auto.
"Wo ist eigentlich Annebeth?", wollte ich wissen.
"Die ist zu Hause. Wir wollten heute Abend essen gehen, da hast du doch Lust zu?"
Ich nickte bloß, bei Dad war es schon gar nichts besonderes mehr essen zu gehen.
Er konnte nicht kochen und Annebeth hatte es wahrscheinlich noch nie in ihrem Leben versucht.
Und das Geld hatten sie, um regelmäßig in den teuersten Restaurants zu essen.
Wehmütig dachte ich Mums und Bruces Essen in Deutschland zurück. Ich nahm mir vor, in der WG auf jeden Fall hauptsächlich selbst zu kochen.
"Steigen Sie ein, meine Dame!", forderte mich Dad auf, öffnete mir die Autotür und machte eine einladende Bewegung.
Dabei grinste er schelmisch. Ebenfalls grinsend schüttelte ich den Kopf und kletterte auf den Beifahrersitz.
Die etwa fünfzehn minütige Fahrt über schilderte ich ihm noch mal haargenau, wie meine Verabschiedungsparty verlaufen war und musste bei dem Gedanken daran wieder ein paar Tränen unterdrücken.
Dad sah mich von der Seite an und strich mir tröstend über die Wange.
"Und da ist Melina eben doch noch ein ganz kleines Mädchen.", sagte er lächelnd.
Ich lachte mit Tränen in den Augen auf und wies ihn zurecht: "Du musst schon auf die Straße achten!"
Als wir dann schließlich Dads Auto im Parkhaus untergebracht hatten, machten wir uns mit samt Koffern auf den Weg zu seiner Panthouse-Wohnung.
Mrs. Parson öffnete uns die Tür und strahlte mich wie immer an. Sie war Dads Haushälterin seit ich denken konnte und war soetwas wie meine Oma väterlicher Seits, die ich nie hatte. Sie kümmerte sich um alles, was im Haushalt erledigt werden musste, bis auf das Essen, denn auch sie war eine miserable Köchin, und war so jeden Tag da.
Früher hatte sie mir immer Geschichten vorgelesen, mich zu Verabredungen gefahren oder mit mir Filme angesehen, mit denen sie selbst meistens nichts anfangen konnte. Sie war einfach nur da.
Auch als Dad mir seine neue Freundin Anebeth vorgstellt hatte und ich Tage lang nicht mit ihm geredet hatte, weil ich sie nicht leiden konnte.
Inzwischen kam ich relativ gut mit Anebeth klar, ich hatte mich an die Situation gewöhnt.
"Mrs. Parson!", begrüßte ich sie freudig und wurde schon von der molligen Frau in eine feste Umarmung gezogen.
"Melina! Hattest du einen guten Flug?"
Ich nickte bestätigend und sah zu Dad, der mich lächelnd musterte.
"Mrs. Parson, sein sie doch so gut und bringen Sie Melinas Gepäck in ihr Zimmer.", meinte er dann an sie gewandt.
Diese nickte eifrig, ergriff meine Koffer und wollte gerade los gehen, als ich protestierte: "Ach Quatsch, du musst meine Koffer doch nicht alleine schleppen!"
Kurzerhand nahm ich ihr einen der Koffer ab und begleitete sie in mein Zimmer.
Von hier hatte ich einen atemberaubenden Ausblick über London und die Themse, ein riesiges, super gemütliches Bett und ein eigenes Bad mit Wirlpool.
Jetzt könnte man sich fragen, warum ich auf diesen Luxus verzichtete und in eine WG zog, doch ich wollte einfach selbstständiger sein.
Außerdem lag meine neue Wohnung ganz in der Nähe von der Universität, die ich besuchen würde und mein zukünftiger Mitbewohner war auch furchtbar nett.
Er hieß Ben und war einer der herzlichsten und gleichzeitig witzigsten Menschen, die ich seit langem kennen gelernt hatte. Nur zu schade, dass er nicht auf Frauen stand.
"Willst du erst noch Sachen auspacken oder kommst du direkt mit ins Wohnzimmer, um Anebeth zu begrüßen?", riss Mrs. Parson mich in diesem Moment aus den Gedanken.
"Nein, nein, ich komme direkt mit. Ich habe ja eh nicht viel aus zu packen, weil ich über Morgen schon in meine WG ziehe.", erklärte ich ihr.
"Achja, ich erinnere mich. Und ich muss es immer noch bedauern. Für wen soll ich denn dann meine Regenbogentorte backen?"
Ich musste lachen. "Ich komme ja immer mal wieder zu Besuch hierher, ich wohne ja nicht weit weg. Ich hätte übrigens nichts dagegen, wenn du mir Morgen einen backst!", sagte ich und brachte auch sie damit zum Lachen.
Auch wenn Mrs. Parson überhaubt nicht kochen konnte, sie war und blieb doch die beste Hobby-Konditorin, die es gab.
Aber da Dad generell kein süßes Zeug mochte und Anebeth 'auf ihre Figur achten' musste, war ich in diesem Haus die einzige, die ihren Kuchen mit offenen Armen empfing.
Also folgte ich Mrs. Parson ins Wohnzimmer.
Dad und Anebeth saßen mit einem Sektglas auf der Coutch. Verwundert runzelte ich die Stirn.
Gab es was zu feiern?
Als Dad mich entdeckte grinste er mir zu und klopfte neben sich.
"Melina! Schön, dass du jetzt auch in London bist!", begrüßte Anebeth mich lächelnd, stand auf und umarmte mich herzlich.
Was genau lief hier falsch?
Dad schenkte mir ebenfalls einen Sekt ein und reichte mir das gefüllte Glas.
"Wofür....?"
"Wir müssen deine Ankunft doch feiern!", unterbrach Dad mich.
Ich warf ihm bloß einen skeptischen Blick zu, weswegen er mir eine Hand aufs Knie legte und erklärte: "Melina, ich bin wirklich total froh, dass du jetzt hier lebst. Ich war die letzten Tage total aufgeregt, da kannst du Anebeth fragen!"
Ich warf Anebeth einen fragenden Blick zu und sie nickte lächelnd. "Er konnte kaum noch an etwas anderes denken.", sagte sie und zwinkerte mir zu.
Dad lachte auf und fuhr fort: "So bekomme ich doch viel mehr von meiner Tochter mit. Und das bist du ja schließlich: Meine Tochter. Und ich habe dich unendlich lieb."
Ich sah an Dads Blick, dass er es ernst meinte und diese Tatsache machte mich gerade unglaublich glücklich.
"Ich dich auch!", sagte ich deshalb und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
"Und jetzt, lasst uns anstoßen!", warf Anebeth ein, nachdem Dad auch Mrs. Parson ein Glas überreicht hatte.
Das taten wir dann auch und ich bekam plötzlich ein richtig schlechtes Gewissen, dass ich die ganze Zeit so negativ von Dad und vor allem Anebeth gedacht hatte.
Sie schienen sich ehrlich zu freuen, mich jetzt noch öfter bei sich zu haben.
In diesen Moment wurde mir klar: Jeder Abschied brachte auch einen Neuanfang.
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"Heute Morgen hat der Vermieter von deiner Wohnung angerufen.", begann Dad, während die Bedienung die Getränke an den Tisch brachte.
"Das zweite Mädchen, das noch einziehen sollte, hat gestern den Mietvertrag unterschrieben. Sie kommt aber erst zum Einzug hierher. Ich glaube, sie geht auf die selbe Universität wie du."
Das hörte sich doch gut an.
"Weißt du wie sie heißt?", hakte ich nach und nahm einen Schluck meines Cocktails.
"Felicia Barker, soweit ich weiß. Sie ist 19 Jahre alt und kommt aus Hamburg."
Ich begann zu grinsen.
"Also doch jemand, mit dem ich noch Deutsch reden kann!", stellte ich fest und Dad und Anebeth mussten lachen.
"Hast du eine Idee, was wir Morgen machen könnten? Ich habe mir auf der Arbeit frei genommen.", verkündete Dad abenteuerlustig.
Ich überlegt kurz.
"Sightseeing!", rief ich dann ironischer Weise aus. Dad stöhnte gespielt genervt auf.
"Melina, wie oft warst du denn bitte schon auf dem London Eye."
Ich grinste. Es stimmte, ich war schon mindestens zehn mal dort gewesen, vor allem als ich jünger war, doch jetzt hatte ich eine leichte Höhenangst entwickelt und behielt meine Füße lieber auf festem Boden.
"Ich finde, Sightseeing ist gar keine so schlechte Idee...", gab Anebeth zu bedenken.
"Wir müssen ja nicht unbedingt auf das London-Eye! Ich meine, wir können auch einfach in den Central Park, zum Buckingham-Palace oder zum Big Ben gehen.", fügte sie noch schnell auf meinen und Dads skeptischen Blick hin.
In diesem Moment brachte die Bedienung unser Essen an den Tisch und unterbrach somit unsere Überlegungen.
Dad bedankte mich mit einem Nicken in die Richtung des Kellners und wünschte uns dann einen guten Appettit.
Nach dem Essen konnte ich Dad noch dazu überreden mit mir auf einen der Festplätze zu gehen.
Anebeth hingegen machte sich in einem Taxi schon auf den Heimweg, da sie wohl ziemlich müde war.
Ich hatte nichts dagegen, meinen Dad mal für mich alleine zu haben, ganz im Gegenteil ich genoss die Zeit mit ihm und fiel am Abend total erschöpft in mein Bett.
Da öffnete sich leise die Tür und Dad streckte noch mal seinen Kopf ins Zimmer hinein.
"Gute Nacht!", flüsterte er und warf mir einen Luftkuss zu. Dann verschwand er in sein und Anebeth Zimmer.
Ich knipste das Licht aus und versuchte einzuschlafen.
Doch der für mich ungewohnte Verkehrslärm hinderte mich daran.
Kurzerhand kramte ich meine Kopfhörer heraus, schaltete die Musik ein und konnte nun endlich einschlafen.
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"Bitte bitte bitte! Komm schon!", flehte ich Dad an und durchbohrte ihn dabei mit meinem berühmten Hundeblick.
Standhaft schüttelte er den Kopf.
"Anebeth ist aber auch dafür! Fu bist überstimmt!"
Ich versuchte ihn gerade verzweifelt dazu zu überreden, dass wir eine Shopping-Tour machen würden, doch so wie es schien, standen meine Chancen ziemlich schlecht.
Den Vormittag hatten wir, wie Anebeth vorgeschlagen hatte mit Sightseeing verbracht und suchten jetzt nach dem Mittagessen eine Möglichkeit, was wir am Nachmittag unternehmen könnten.
"Ich hätte auch nichts dagegen ins Kino zu gehen.", warf Anebeth ein, weshalb sie von mir einen vernichtenden Blick kassierte, doch sie lachte bloß.
"Gut, dann wäre das ja jetzt geklärt. Kommt, die Vorstellung fängt in einer halben Stunde an.", beendete Dad schließlich die Diskussion.
"Pff..."
Beleidigt verschränkte ich meine Arme vor der Brust. Dann musste ich eben mit meinen baldigen Mitbewohnern schoppen gehen.
Morgen Mittag würde ich in die WG einziehen und so langsam wurde ich ziemlich aufgeregt.
Ich freute mich (?) wieder zu sehen und war unglaublich gespannt, wie das andere Mädchen Felicia so drauf war.
Nach der Kino-Vorstellung beschloss Dad kurzerhand, Essen zu holen und mit in die Wohnung zu nehmen.
So ging ein sehr schöner Tag mit ihm und Anebeth zu Ende.
Spät Abends entspannte ich mich mit einem Stück von Mrs. Parsons berühmter Regenbogentorte in meinem Wirlpool und sah über die Stadt, die in allen erdenklichen Farben aufstrahlte.
Ich seuftze auf.
In solchen Momenten verspürte ich den unsagbaren Wunsch, jemanden an meiner Seite zu haben, mit dem ich alles teilen konnte.
Der mich liebte und den ich liebte.
Doch vorerst musste ich mich auf meine Ausbildung konzentrieren. Und aufs Tennis.
Nächsten Montag würde ich schon die erste Trainingsstunde bei meinem neuen Verein haben.
Es würde noch so viel auf mich zu kommen.
Ich freute mich auf die bevorstehende Zeit in London.
Mit diesem Gedanken stieg ich aus dem Becken und kuschelte mich danach abgetrocknet und frisch in mein Bett.
Morgen war es soweit.
Ich würde in meine WG ziehen.
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"Kind, du musst doch noch was essen!", beschwerte Mrs. Parson sich, als ich dankend die Müsli-Schale ablehnte, die sie mir zubereitet hatte.
"Ich habe aber noch überhaubt keinen Hunger. Außerdem wollten Dad und ich gleich noch brunchen gehen, bevor er mich zur WG fährt.", erklärte ich ihr.
"Na wenn das so ist... dann will ich dich auch nicht weiter beim fertig Machen und Packen stören.", ließ sie verlauten, zwinkerte mir zu und verließ dann mein Zimmer.
Also trat ich wieder zurück vor den Spiegel und fuhr damit fort, mir die Haare zu glätten.
Nachdem ich mich komplett fertig gemacht hatte, verließ ich mein Zimmer, um Dad bescheid zu geben.
Kurz darauf saßen wir im Auto, meine Koffer im auf der Rückbank und auf dem Weg zu Dads Stamm-Cafè.
Wir unterhielten uns die ganze Zeit über dies und das und ich genoss die Zeit mit meinem Dad. Viel zu selten hatte ich ihn noch für mich alleine.
Nach einem sättigendem Frühstück stiegen wir ins Auto und fuhren zu meiner neuen Adresse.
Zu meinem neuen zu Hause.
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