Rückblick 13

SAMSTAG

Am nächsten Morgen werde ich durch lautes Gelächter und den Duft von Kaffee geweckt. Ich schlüpfe wieder in meinen Bikini, ziehe mir eine knappe Stoffshorts drüber und ein lockeres, schulterfreies T-Shirt und verlasse unsere Hütte, in der Lauren noch versucht, ins Reich der Lebenden zurückzukehren. Ich beobachte sie lächelnd – das Auswandern hat ihr gut getan.

Ich trete aus der Hütte und werde von der aufgehenden Sonne zur Begrüßung geblendet. Der Geruch von Morgentau liegt in der Luft, in den Grashalmen glitzern kleine Wassertropfen, und ich begebe mich zombiegleich auf die Suche nach dem Buffet, an dem es frischen Kaffee geben soll. Verschlafen schaue ich mich um, und schlagartig erhellt sich meine Miene:
Da steht er.

Ich erkenne ihn schon von Weitem, obwohl er nur mit dem Rücken zu mir gedreht an der Kaffeekanne steht. Dennoch würde ich ihn immer und überall erkennen.
Er trägt ein lockeres Tanktop, eine kurze Jogginghose und Flipflops. Seine kastanienbraunen Locken stehen wie immer wild in alle Richtungen. Mein Herz macht einen Satz, und meine Müdigkeit ist vergessen – er ist gekommen!
Er ist hier.

»Ben!« quietsche ich aufgeregt und renne auf ihn zu. Er dreht sich um, als er seinen Namen hört, und auf seinem Gesicht breitet sich ein so ehrliches und erfreutes Lächeln aus, dass sich ein wohliges Kribbeln in meinem Bauch ausbreitet. Ich springe in seine Arme, und er greift mit seinen Händen unter meinen Hintern, sodass ich auf seinen Hüften lande und er uns einmal im Kreis herumwirbelt.

»Füchschen!« presst er lachend hervor, weil mein Sprung ihm alle Luft aus der Lunge gepresst hat, und seine wunderschön geschwungenen Lippen schenken mir sein Lächeln, das ich so vermisst habe.

Ich muss mich stark zusammenreißen, ihn nicht zu küssen. Himmel, Vianne. Fünf Jahre später, und mein Herz kommt immer noch nicht auf ihn klar.

Wir schauen uns grinsend in die Augen, und ich meine, ein Funkeln in seinen zu sehen, und vielleicht hat er auch eine Sekunde länger als normal meinen Mund fixiert. Mein Bauch zieht sich zusammen, und ich rutsche aus seinen Armen, aus denen er mich nur widerwillig entlässt.
»Ich hatte schon Angst, dass du nicht kommst!« jauchze ich erleichtert und springe von einem Bein aufs andere.
»Quatsch! Das lasse ich mir doch nicht entgehen. Ich hatte gestern nur noch ein Casting, das länger gedauert hat«, erwidert er und wuschelt grinsend durch meinen Haarknoten, der auf meinem Kopf sitzt.

»Ben! Wie geht's?« Lauren kommt hinter mir angestürmt und umarmt ihn fest. Er lächelt sie erfreut an und schaut sich dann suchend um. Als er Owen auf uns zukommen sieht, winkt er ihm grinsend und will zu ihm gehen. Owen schaut in Bens Richtung, seine Miene verfinstert sich, und er geht schweigend an uns vorbei.
Ich frage mich echt, wie nachtragend man sein kann, und verdrehe genervt die Augen. Ich hatte gehofft, sie hätten ihren Streit von damals beilegen können.

Wir sitzen alle an einer langen Tafel zum Frühstück. Ich unterhalte mich angeregt mit Lauren über ihren neuen Lifestyle und was sie in Thailand alles erlebt hat. Owen brütet über seinem Kaffee, und Ben sitzt wie gewohnt zwischen einer Traube von Mädchen, die ihn bezirzen. Seltsamerweise habe ich das Gefühl, dass ihm das inzwischen total egal geworden ist. Er geht nicht auf die Flirtversuche ein und sucht öfter Blickkontakt zu mir, als mir guttut. Denn immer, wenn ich zu ihm gucke, treffen sich unsere Blicke, und seine Mundwinkel heben sich leicht, während mein Herz loshämmert und die Röte in meine Wangen schießt.

Ich hatte Lauren auf dem College erzählt, dass ich eine Zeit lang in Ben verknallt war, und sie hat die Mutmaßung aufgestellt, dass er auch in mich verknallt war, weil ich das einzige Mädchen war, das er nicht flachgelegt hat – ich fand die Theorie sehr an den Haaren herbeigezogen.
Jetzt schaut sie zwischen uns hin und her und wackelt vielsagend mit den Augenbrauen, und ich antworte ihr, indem ich ihr auf den Fuß trete.

Später sitzen wir alle gemeinsam am See, nur Owen hat sich einer anderen Gruppe angeschlossen, als er sah, dass Ben sich auf unserer Decke breitgemacht hat. Mir tut es leid. Die beiden waren mal die besten Freunde, und wegen eines blöden Streits aus Hitzköpfigkeit haben sie seit dem Winterball damals keinen Kontakt mehr zueinander.
Ich seufze innerlich und trinke einen Schluck von meinem selbst gemixten Cuba Libre.

»Wie geht es eigentlich Gerry?« fragt Lauren aus dem Nichts und nippt an einem Bier. Ich merke, wie sich Ben plötzlich aufrichtet und hellhörig wird. Er guckt zwischen Lauren und mir hin und her und zieht seine Augenbrauen zusammen. »Wer ist Gerry?« fragt er betont uninteressiert.
Mir wird flau im Magen, und ich weiß nicht mal, warum.

Ich war das letzte Jahr auf dem College mit ihm zusammen. Er war ein netter Typ, aber nach dem College hat es sich auseinandergelebt. Wir haben uns noch ein paar Mal getroffen, aber der Zauber war verflogen.
»Wir sind schon seit 'nem halben Jahr nicht mehr zusammen«, antworte ich halbherzig und knabbere an der Zitronenscheibe, die ich in meinem Glas schwimmen hatte.
»Schade, er war nett«, flötet Lauren, um direkt nachzusetzen: »Und schon jemand anderes in Aussicht?« Ich verdrehe genervt die Augen. Macht sie das extra im Beisein von Ben?
Ich merke nämlich ganz genau, wie sie immer wieder provokant grinst und Ben sehr interessiert lauscht.
»Nein«, antworte ich knapp, nehme einen weiteren Schluck von meinem Cocktail und will mich dem Verhör nicht weiter stellen.

Ich springe auf und schiebe in Windeseile meine Shorts von den Hüften und das Shirt über meinen Kopf, um nur noch im Bikini auf der Decke zu stehen.
»Wer zuletzt im Wasser ist, ist ein feiges Huhn!« rufe ich so laut, dass alle es hören können, und plötzlich geht ein Gejohle durch die Menge, T-Shirts fliegen, und wir rennen alle zusammen in den See.
Ich mache einen Hechtsprung und tauche unter die klare, kühle Oberfläche des Sees. Die Abkühlung tut verdammt gut.

Um mich herum tobt ein euphorisches Geplansche, plötzlich schwimmen Luftmatratzen, Schwimmringe und Wasserbälle durchs Wasser, und wir alle sind noch einmal Kind. Ich lasse mich auf dem Rücken treiben und genieße den Trubel um mich herum.

Ich bin so vertieft in meine Gedanken, dass ich gar nicht bemerke, dass plötzlich jemand hinter mir auftaucht, und ramme mit meinem Kopf direkt gegen einen Bauch.
»Aufgepasst, Blindfisch!« lacht Ben los, und ich erschrecke mich so sehr, dass ich den Halt verliere und glucksend untergehe. Seine Hände umfassen meine Taille und holen mich wieder hoch.

»Du musst schon aufpassen wohin du schwimmst, Füchschen«, grinst er breit und zieht mich näher an sich. Seine warmen Hände halten mich weiter an der Taille, und eine Gänsehaut überzieht meine nasse Haut. Er ist mir so unfassbar nahe, und ich kann seinen schweren Atem auf meiner Haut fühlen.
Sein Körper ist aufgeheizt von der Sonne, glitzernd tropft Wasser von seinen Haarspitzen und rinnt seinen gebräunten, sportlichen Körper herunter, und er schmunzelt wieder mit diesem unfassbar einladenden Mund, dessen Geschmack ich so gerne kosten würde.
Um mich herum verschwimmt die Welt in eine nicht existente Masse von Hintergrundrauschen. Da sind nur noch er und ich. Seine Daumen, die sanft die Haut an meinem Bauch streicheln, und mein Unterleib der sich sehnsüchtig zusammen zieht.
Dieser Typ.
Ich dachte, die Schwärmerei hätte ich hinter mir.

Ich atme tief durch. »Ich wusste ja nicht, dass du plötzlich hinter mir auftauchst!« ranze ich ihn an und will mich aus seinem Griff befreien, aber er zieht mich noch enger an sich.
»Wo hätte ich denn sein sollen?« haucht er fragend.
»Bei deiner Girlie-Fantruppe vielleicht?« necke ich ihn, und dann liegt sein Mund plötzlich an meinem Ohr, und er raunt leise, sodass es mich wie ein elektrischer Schlag trifft: »Ich glaube, ich bin genau da, wo ich gerade sein will.« Und seine Hände wandern quälend langsam runter zu meinem Hintern.

Mir schießt die Röte ins Gesicht, und bevor ich überhaupt denken könnte, dass das hier eine verdammt gute Idee sei, spritze ich ihm Wasser ins Gesicht und fange an, etwas zu hysterisch und aufgesetzt zu lachen.
»Erzähl doch nicht so einen Quatsch.« Ich winde mich aus seiner Umarmung und stakse unsicher und mit wackeligen Beinen zurück Richtung Strand.

Ben bleibt noch im Wasser aber ich spüre seine Blicke in meinem Rücken, die sich an mir festzukleben scheinen. Meine Gedanken sind ein absolutes Chaos, finden keinen Anfang und kein Ende – meine Haut prickelt von seiner Berührung.
Am Ufer angekommen schlägt mein Herz weiter auf Hochtouren. Ich werfe einen verstohlenen Blick zurück und sehe gerade noch wie er abtaucht.

Ich lasse mich schwer auf die Decke fallen und trockne meinen zitternden Körper ab 'Das kann er unmöglich ernst gemeint haben' nuschel ich zu mir selbst und versuche mich zu beruhigen. Dieser verdammte Ben.

Den restlichen Tag versuche ich die Situation im See zu verdrängen und mich wieder darauf zu besinnen, dass Ben einfach so ist wie er ist und dass wir hauptsächlich Freunde sind. Wir spielen Beachvolleyball, grillen, und irgendwann wird eine große Anlage angeschleppt, und laute Musik aus unserem Abschlussjahr dröhnt aus den Boxen. Es wird getanzt und laut mitgesungen. Die Sonne geht unter, und ich genieße diesen flatterhaften Schwipps in mir, der sich anfühlt, als würde dieser Tag nie enden.
Wir schwören uns alle, uns ab jetzt alle fünf Jahre zu treffen und eine große Party aufzuziehen.

Lauren kommt tänzelnd auf mich zu und fragt, ob ich heute vorhabe, früher in unsere Hütte zu gehen. Sie hat da mit Jason, dem Bassisten unserer Schulband, noch ein paar wichtige Dinge zu klären.
Ich lache und meine, sie soll eine Socke an die Tür hängen und bitte wieder abnehmen, wenn ich wieder in mein Bett darf.

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