Kapitel 42

Steve stößt sich, leise etwas brummend, vom Türrahmen ab und mustert mit seinen Blicken Bens Hände.
»Yo, wird der Wichser dich deswegen verklagen, Bro?« Er deutet mit einem Nicken auf die Verletzungen.
Ben schüttelt ruhig den Kopf. »Er hat genauso einen Ruf zu verlieren wie ich. Es gibt nicht mal Zeugen.«

Als Nächstes wechseln Steves Augen auf Ben und meine ineinander verflochtenen Finger.

»Hm... daran solltet ihr Turteltauben euch nich gewöhn. Is ja sweet und so – aber solange Ben noch verheiratet is...« Seufzend lässt Steve den Satz ausklingen und deutet Ben an, ihm ins Gästezimmer zu folgen.

Steves Worte wirken auf mich. Sie breiten sich wie ein dunkles Geflecht in meinem Brustkorb aus.
Schwer atme ich ein und schließe für einen Moment die Augen.

Ich verstehe selbst zwischen den Zeilen, dass es nicht förderlich ist, wenn Ben und ich in der Öffentlichkeit als Paar wahrgenommen werden. Ich drücke seine Hand noch einmal und löse aber dann meine Finger, ehe er sich langsam erhebt, mich entschuldigend anlächelt und mir einen sanften Kuss auf die Schläfe gibt und Steve folgt.

Die Stelle, die von seinen Lippen berührt wurde, durchflutet ein warmer Schauer.

Lauren beobachtet die Szene zwischen ihm und mir, und ihre Lippen umspielt ein sanftes Lächeln.

»Ihr habt euch endlich gefunden«, stellt sie sachlich fest und schaut Ben hinterher. »Aber anscheinend hattet ihr nicht vor, es euch leicht zu machen?«

Meine Wangen laufen rot an, und meine Mundwinkel verziehen sich zu einem kaum sichtbaren Schmunzeln.

»Leicht kann doch jeder?« murmele ich in meine Kaffeetasse und mustere Lauren.

»Und du hast das Reisen an den Nagel gehängt?«

Lauren fährt sich mit ihren Händen durchs Gesicht und seufzt schwer, ehe sie sich zu einer Antwort bereit fühlt.
»Ich wollte schon länger wieder her. Evan konnte nicht loslassen vom Reisen, dem Vloggen und damit einhergehenden Vorteilen durch Kooperationspartner und so...« Sie verdreht die Augen. »Da war keine Freiheit mehr, da waren Drehpläne und blöde Kalendersprüche in die Kamera säuseln. Am Ende wurde mir schlecht beim Gedanken, in Flugzeuge zu steigen.«

Ich kräusele die Stirn. »Aber ihr seid doch immer mit dem Van unterwegs gewesen?« Das Lachen von Lauren verrät mir, dass ich genau auf das vorgefertigte Konzept reingefallen bin.

»Ach Quatsch. Der Van wurde uns zwar gelegentlich hinterhergeschifft, aber wir mussten ja Termine einhalten...
Am Ende war die Ehe mit Evan auch nur noch ein Meeting.«

Ich nicke und mustere meine ehemalige Freundin, die inzwischen so viel erwachsener und reifer wirkt als damals noch. »Das tut mir leid«, wispere ich. Sie nickt, als sei das Thema für sie gegessen.

»Hör mal, Vianne...« Sie schaut mich unter ihren dichten Wimpern an.
»Mir tut es vor allem leid, dass ich damals nicht da war und gesehen habe, wie es dir wirklich ergangen ist...« Sie seufzt, aber ich kann es ihr nicht einmal übel nehmen.
Sie war in Thailand und hat ihre Träume verwirklicht. Bis auf gelegentliche Telefonate oder Nachrichten hatten wir kaum noch Kontakt zueinander, bis dieser nach meiner Flucht dann komplett verebbt war.

Sie greift mit ihren langen, schlanken Fingern nach meiner Hand. »Aber ich bin jetzt da. Und ich will dir nur sagen, dass nach all dem, was du erzählt hast – und ich wette, da war noch mehr, das du uns verschweigst, weil es dir unangenehm ist oder du es verdrängt hast – brauchst du einen Abschluss mit diesem Teil deiner Vergangenheit. Und solange dieser Hund noch frei ist, wird er nicht aufhören. Er behandelt seine Frau doch auch nicht besser.« Ihre Stimme bricht ab, und ihr Blick schweift aus dem Fenster.

»Er ist nicht mehr der Owen, mit dem wir in der Schule befreundet waren, und vielleicht war er nie dieser Typ«, wirft sie in den Raum und trinkt noch einen Schluck von ihrem Kaffee.

»Seine Frau ist die beste Freundin meiner Cousine gewesen. Bis sie mit ihm zusammengekommen ist.«
Lauren kramt einen Ordner aus ihrem Rucksack, der neben ihr auf dem Fußboden gestanden haben muss, und legt ihn auf den Tisch. »Deswegen kam ich erst darauf, mir das Ganze mal genauer anzuschauen, und im Archiv vom Verlag hat man dann doch die einen oder anderen Randnotizen zu ihm gefunden.«
Sie schiebt den Ordner voller Kopien, Notizen und Bildern zu mir rüber, und auch zu mir gibt es einen Abschnitt, der gefüllt ist mit Vermutungen. Nachbarn, die irgendetwas gehört haben wollen. Mein Umfeld, das davon berichtet hat, dass ich mich immer mehr zurückgezogen habe. Ein chaotisches Mosaik, das nur ich vervollständigen kann.

»Wenn wir mit dir damals anfangen, gefolgt von Paula und aktuell seiner Frau, sind es noch fünf mögliche Opfer, wobei vier davon ihn damals anzeigen wollten, aber sie haben ihre Anzeige zurückgezogen. Wahrscheinlich haben sie das Geld angenommen.

Und dann ist da noch die fünfte im Bunde, Lynn...«
Lauren legt das Bild einer jungen Frau auf den Tisch, die damals eine Nachbarin von Owen und mir gewesen ist.

»Sie hat nie ein Wort über Owen verloren, aber sie waren ungefähr vier Monate zusammen. Ob sie auch sein Opfer ist oder nicht, kann ich nicht beurteilen. Was ihr alle gemeinsam habt, ist, dass er sehr schnell eine Happy Family gründen wollte.
Haus, Hochzeit, Kinder und so. Und tada – so schnell klappt das nun mal nicht. Fand der Herr nicht so gut, und dann fiel die Fassade.« Lauren lässt den letzten Satz in der Stille des Raumes verhallen und fixiert mich mit einem sanften Blick.

Ich muss schlucken, blättere durch die Unterlagen, und die Last von damals setzt sich auf meine Schultern.
Erdrückt mich.
Hindert mich am Atmen.
Füllt meine Augen mit Tränen.

Ein Foto rutscht aus dem Ordner.

Owen steht breit grinsend vor dem Rathaus.
Auch wenn er älter geworden ist, sieht er noch immer tadellos aus. Seine Frau lehnt sich mit ihren blonden Locken und einem blauen Sommerkleid an ihn, und vor ihnen stehen brav ihre beiden blonden Söhne in schicken Anzügen. Die perfekte, amerikanische Vorstadtfamilie.

Meine Finger gleiten sacht über die kleinen pausbäckigen Gesichter der Jungs und über das maskenartige Gesicht seiner Frau.

»Aber vielleicht hat er sich ja geändert?« flüstere ich leise, denn die Angst, ihm gegenüberzustehen, frisst sich wie eine kalte, zähe Flüssigkeit in mein Herz und wispert mir zu, dass ich einer Frau ihren Mann und ihren Kindern den Vater nehmen würde.

Hinter mir ertönt ein schweres Seufzen von der Küchentheke. Meine Mutter steht am Herd, bereitet das Essen für den Abend vor und schüttelt den Kopf.

»Liebes. So ein Mann ändert sich nicht, und es ist ja nicht so, dass die Gerüchteküche nicht schon kocht. Natürlich züchtigt er seine Frau und Kinder, damit sie in sein Leben passen – aber solange es keine Beweise gibt und sich die wahren nicht Opfer melden, kann niemand etwas gegen ihn sagen.«

Sie schneidet fast mit Mordlust in den Augen Süßkartoffeln in Spalten, und ich lasse meinen Kopf hängen, fahre mit meinen Fingerspitzen nachdenklich durch mein rotes Haar, lasse einzelne Strähnen durch meine Finger gleiten und frage mich, ob ich bereit bin, mich meiner Vergangenheit zu stellen. Und natürlich haben sie alle recht – ich sollte es tun.

Aber dennoch ist es einfacher gesagt als getan.

Ich hatte mich doch erst vor wenigen Monaten das erste Mal zu dem Thema geäußert. Hatte Türen geöffnet, die geschlossen bleiben sollten, wie Gräber, in denen nichts weiter als Trauer zu finden ist.
Wie soll ich mich ihm stellen?
Ihm nach all den Jahren wieder gegenüberstehen und vor fremden Menschen erzählen, was mir widerfahren ist. Mich den Anschuldigungen stellen, warum ich ihn nicht damals schon angezeigt habe, und keine Antwort darauf finden...

Ich muss darüber nachdenken.

»Ich kann dir einen Termin mit Paula machen, wenn du willst«, wirft Lauren ein, als sie meine Anstalten aufzustehen realisiert, und lächelt mich leicht gequält an.

Ich nicke seufzend, stehe endgültig auf und entschuldige mich.

Mit trägen Schritten gehe ich die Treppen zu meinem alten Kinderzimmer hoch. Ich bin froh, dass niemand versucht, mich aufzuhalten. Ich bin erschöpft und brauche die Zeit für mich.

Mein Zimmer sieht noch genauso aus wie damals.

Das typische Zimmer eines Teenies, der mehr Zeit draußen als zu Hause verbrachte. Die Wände voller Naturfotografien, die ich selbst angefertigt hatte, eine Lichterkette, die sich als Netz an der Decke über meinem klobigen Holzbett spannt, und der kleine Schreibtisch, der eher als Ablage für alles Mögliche gedient hat, als zum Zweck des lernens.
Ich inhaliere den vertrauten Duft und lasse mich schwer auf das alte Bett fallen, das einen knarzenden Ton von sich gibt.

Die schlaflose Nacht, der Flug von New York hierher und die emotionalen Gespräche mit Ben, Lauren und meiner Mutter zahlen ihren Tribut. Schlagartig überrollt mich eine dunkle, fast schwarze Müdigkeit, die mich unaufhaltsam in einen tiefen Schlaf versinken lässt, während sich im noch arbeitenden Teil meines Gehirns ein Entschluss fasst.

***

» Und weiter gehts! Was glaubt ihr wie es weiter gehen wird?

» Seid ihr gut ins neue Jahr gerutscht?

♥️

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