Kapitel 36
Die Stimmen aus der Küche wehen gedämpft durch den langen, fensterlosen Flur.
Ein leises Lachen von Lauren, Steves ironischer Unterton und sanfte Worte meiner Mutter.
Unschlüssig stehe ich vor der geschlossenen Tür des Gästezimmers. Ich hadere mit mir und lasse resigniert den Kopf hängen. Vielleicht ist es doch keine gute Idee und Steve sollte mit Ben sprechen.
Denn mit einer Sache hat Lauren recht, ich habe vor langer Zeit diese Stadt und die Menschen hinter mir gelassen und hatte nicht vorgehabt, mich jemals wieder damit konfrontieren zu müssen. Allein die letzten Monate mit Ben haben mehr in mir aufgerissen, als ich vermutet hatte.
Ich starre auf die verschlossene, weiße Holztür – vielleicht nur ein oder zwei Sekunden – meine Finger schweben über der messingfarbenen Klinke, und gerade als ich mich entschließe, zurück in die Küche zu gehen, spüre ich ein warmes Kribbeln in meinem Nacken, das sich langsam in mir ausbreitet. Mein Herz setzt einen Schlag aus, und sein unvergleichlicher Duft schleicht sich in meine Nase. Er steht so nah hinter mir, dass ich seinen Atem spüren kann.
»Du bist hier«, stellt Ben mit rauer Stimme fest. Er greift an mir vorbei, öffnet mit einer fließenden Bewegung die Tür zum Gästezimmer und schiebt sich an mir vorbei.
Und auch wenn sein Anblick mir inzwischen mehr als vertraut sein sollte, schießt mir die Röte in die Wangen, als er sich nur mit einem Handtuch bekleidet in dem Zimmer bewegt und frische Kleidung aus seiner Tasche fischt.
»Äh... Darf ich reinkommen?« flüstere ich mit schwacher Stimme und starre auf meine Fußspitzen, die ungeduldig auf und ab wippen.
Als er nickt, folge ich ihm in das kleine Zimmer. Es ist hell und freundlich eingerichtet, weiße Möbel im Kolonialstil runden die Gemütlichkeit des Zimmers ab. An der beigefarbenen Wand hängen in weiße Bilderrahmen gefasste Fotos, die mein Papa und ich in New York gemacht haben, bevor wir hergezogen sind.
Die Tür fällt hinter mir ins Schloss und ich finde mich im nächsten Moment in einer alles umschlingenden Umarmung von Ben wieder. Er schmiegt seinen Kopf in meine Halsbeuge und atmet tief ein. Ich erwidere seine Umarmung, lege meine Hände auf seinen Rücken und schließe zitternd meine Augen. Genieße seine Nähe und versuche, den Fragensturm, der sich in mir aufbaut, zu unterdrücken.
Wir hätten einfach durchbrennen sollen, als wir die Möglichkeit gehabt haben.
»Wieso hast du mich blockiert?« murmelt er zitternd an meinen Hals, die Hitze seiner Stimme verbrennt meine Haut an dieser Stelle und das schlechte Gewissen hinterlässt einen schalen Geschmack in meinem Mund.
»Ich weiß, wir hätten reden müssen – schon viel früher. Aber... Vianne.« Er löst die Umarmung, um mir in mein Gesicht zu sehen, ein Kälteschauer streift durch die hinterlassene Lücke.
»Denkst du, ich weiß nicht, wie unmöglich diese Situation ist?« Ich kann die Spannung in seiner Stimme hören. Er legt seine Hand an meinen Hals, und sein warmer Daumen fährt sanft meinen Kiefer entlang.
Stockend atme ich ein und suche den Blick in die honigfarbenen Augen, die mich so viele Jahre schon verfolgen.
»Ich... war überfordert?« flüstere ich leise – mehr als Frage formuliert, lecke nervös über meine spröden Lippen und hoffe, dass mein Herz nicht gleich aus meinem Brustkorb springt, so heftig wie es seinen Takt verloren hat.
Ben schüttelt müde den Kopf und löst die Umarmung vollständig auf, um sich das schwarze Shirt und die Jogginghose überzuziehen, die er sich vorhin aufs Bett gelegt hat. Dabei fallen mir Schürfverletzungen an den Knöcheln seiner Hände auf, und ich atme scharf ein.
»Was hast du gemacht, Ben?« Ich laufe einen Schritt auf ihn zu und nehme sacht seine Hand in die meine, um die Verletzungen zu inspizieren, ehe er sie mir mit einem düsteren Blick wieder entzieht.
»Ich fange an, Dinge zu klären«, antwortet er kühl und setzt sich auf die Kante des Bettes. Hatte er einen Unfall? Ist er irgendwo gegen gestoßen?
Lauren und meine Mutter haben schon angekündigt, dass es ihm nicht gut geht, und erst jetzt suche ich ganz bewusst nach Anzeichen in seinen Augen, ob er aussieht, als hätte er Alkohol getrunken oder Drogen genommen. Aber es lassen sich keine Hinweise finden, es ist Ben. Entschlossen – aber Ben.
»Du brauchst nicht zu gucken, ich bin clean.« Wieder schnaubt er.
»Was für Dinge?« frage ich zaghaft und setze mich auf den Sessel gegenüber von ihm. Unsere Knie berühren sich, und allein dieser minimale körperliche Kontakt schafft eine innere Ruhe und Vertrautheit in mir, die mir klar macht, dass meine Nachricht und das anschließende Blockieren vor vier Tagen nicht die klügste Idee in unserem Fall gewesen ist.
Ben räuspert sich und fährt sich mit einer Hand über den Nacken. »Bevor ich dir antworte, Füchschen – du hättest mit mir über die ganzen Sorgen und Zweifel reden können.« Er greift meine Hände, und ich kann meinen Blick nicht von den roten Stellen an seinen Knöcheln nehmen.
»Vertraust du mir so wenig?« Die Wehmut in seiner Stimme ist kaum zu überhören und zwickt sich in mein Herz.
»Ich... ich war...« Dankbar für das Talent meines Gehirns, in wichtigen Situationen brauchbare Worte aus meinen Wortschatz zu streichen. Ich hole tief Luft, um Zeit zu schinden, etwas Sinnvolles antworten zu können.
»Ich wollte nicht aus unserer kleinen Welt raus...« bringe ich halbwegs flüssig hervor, und es folgt ein zustimmendes Nicken von seiner Seite.
»Ich auch nicht. Es war einfacher so. Aber nicht unbedingt richtig.«
Ben beugt seinen Kopf zu unseren verschlungenen Händen und lehnt seine Stirn daran. »Als ich deine Nachricht gelesen habe, wollte ich nach Hause fahren und Isabel mit Sack und Pack rauswerfen. Ihr ihre selbstgefällige Visage rausschlagen und ihrem Vater hinterher...« presst er wütend hervor.
Ich hole erschrocken Luft und mustere wieder seine Verletzungen – hat er Isabel etwas angetan?
Ich schüttle innerlich meinen Kopf – Wahrscheinlich nicht, das hätte man durch die Nachrichten mitbekommen.
»Ben?« frage ich vorsichtig. »Woher sind deine Verletzungen?«
Er verdreht vielsagend die Augen. »Alles nacheinander, okay?«
»Vom Flughafen aus ist es ein langer Weg zu mir – eine Menge Zeit zum nachdenken.« Ein sanfter Kuss landet auf dem Daumen meiner Hand, an der er sich festhält.
»Schon seit Monaten suche ich nach einem Weg, das mit Isabel zu beenden – nur ohne auf die Annehmlichkeiten dieses Deals zu verzichten.« Er seufzt, hebt den Kopf und schaut mich mit seinem schiefen Lächeln an.
»Als du wieder in meinem Leben warst, wollte ich es erst recht beenden, aber nicht ohne einen Plan zu haben, wie ich weitermachen kann...« und dann schweift sein Blick hilflos durch das Zimmer, als hätte er plötzlich den Halt verloren.
»Als deine Nachricht kam, habe ich nur noch rot gesehen. Mir egal, wie es weitergegangen wäre.«
»Es ist alles nur schiefgelaufen seit damals.« flüstert er und schüttelt den Kopf, als würde er sich selbst verurteilen.
»Wirst du mir davon erzählen?« frage ich leise in die aufkommende Stille und bereite mich auf jede Antwort vor.
Er nickt wieder, als sich meine Hände enger um seine schließen.
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