Kapitel 34
Kurz vor einem Nervenzusammenbruch starre ich in meinen viel zu teuren Cappuccino aus dem einzigen kleinen Café, das um die Uhrzeit schon geöffnet hat. Der Flughafen von Chicago ist um die Uhrzeit fast menschenleer und wirkt fast geisterhaft.
Ich war gestern Nacht nicht mehr in der Lage, mich gegen Steve durchzusetzen. Also habe ich Carl geschrieben, dass es einen familiären Notfall gibt, und nun sitze ich hier und warte auf unseren Anschlussflug Richtung Wisconsin.
Von da aus hat er einen Mietwagen organisiert, um weiter nach Stevens Point zu fahren.
Auf dem Flug von New York hierher habe ich protestweise so getan, als würde ich schlafen, nur um tatsächlich einzuschlafen und dann an seiner Schulter gelehnt aufzuwachen, an der sich ein Sabberfleck gebildet hat.
Steve beißt beherzt in ein voll belegtes Sandwich und schaut mich nachdenklich an.
»Yo, Rotschopf.«, nuschelt er kauend. »Was is' das mit dir und Ben?«, fragt er geradeheraus, ohne das Gefühl zu haben, dass diese Frage vielleicht privat oder unpassend sein könnte.
Ich löffle den Schaum von meinem Cappuccino und überlege erst gar nicht zu antworten, aber was hätte das für einen Sinn? Also hole ich tief Luft und fixiere die Krümel, die Steve auf dem Tisch aus dunklem Holz verteilt.
»Wir waren in der Highschool beste Freunde«, sage ich knapp, und ich sehe, dass Steve die Augen verdreht – ihm ist natürlich klar, dass Ben nicht nur zum Kaffeetrinken bei mir war.
»Ich war verknallt in ihn, habe aber nie was gesagt. Dann war die Schule vorbei, College, das Leben und so weiter, und auf unserem Klassentreffen vor zehn Jahren...na ja, dachte ich, es ging ihm genauso.« Ich brauche eine Pause, und Steve zieht nachdenklich die Augenbrauen zusammen, während er genüsslich sein Sandwich isst.
»Er war am nächsten Morgen verschwunden und nicht mehr erreichbar.« Ich seufze schwer. »Für mich ist eine Welt zusammengebrochen. Für ihn? Ich weiß nicht...Er sagt, er hat plötzlich Panik bekommen und musste weg.« Steve nickt kauend und deutet an, dass ich weiter erzählen soll.
»Als der Hurrikan vor ein paar Monaten über New York gerauscht ist, sind wir uns zufällig wieder begegnet und dann kam eins zum anderen.«
Steve entfährt ein langgezogener Seufzer.
»Yo, ich erinnere mich. Da war die Hölle los, als Isabel die Scheidungspapiere bekommen hat. Die Frau ist crazy.« Er lacht resigniert und trinkt einen Schluck aus seiner Pepsi Zero.
»Erst schmeißt die den raus, will die Scheidung und hat kein' Bock mehr, und dann bekommt die, was die will – macht die ein Drama. Seit Jahren das gleiche Spiel.«
»Alter, wenn du mich fragst, hätten die nie heiraten dürfen.« Er faltet das braune Papier, in das das Sandwich eingewickelt war, säuberlich zusammen, sodass nur noch das lachende Gesicht des aufgedruckten Strichmännchens zu sehen ist.
Ich habe so viele Fragen, und aus all den Informationen, die ich kleckerweise erhalte, ergibt sich kein vernünftiges Bild, mit dem ich mir selbst Antworten geben könnte. Aber ich fühle mich auch nicht wohl, Steve auszufragen. Also verfalle ich wieder in Schweigen und warte auf unseren nächsten Flug.
Am Flughafen von Wisconsin angekommen, folge ich Steve zum Schalter für die Mietwagen.
Auf dem Flug habe ich erfahren, dass er schon seit ungefähr sechs Jahren für Ben arbeitet. Sie hatten sich in einer Entzugsklinik kennengelernt und sich auf Anhieb verstanden. Ben hat ihm einen Job angeboten, wenn er es schaffen würde, clean zu werden, und das war die Motivation, die er gebraucht hat.
Eigentlich wollte er sich auch schon längst weiterbilden in Richtung Produktion oder selbst ins Management wechseln, Angebote gab es genug, aber er hat das Gefühl, Ben nicht alleine lassen zu können.
»Das ergibt doch alles keinen Sinn«, murmele ich auf der Autofahrt gegen das Fenster, während ich die neblige Landschaft Wisconsins an uns vorbeirauschen sehe. Nur die bunten Laubbäume schenken der Umgebung noch einen Farbtupfer und strahlen in gelben, orangenen und roten Farbtönen um die Wette.
»Das musst du echt mit Ben klären, Kleine.« Steve schaut konzentriert auf die leere Straße vor uns, aber er verzieht entschuldigend seine Mundwinkel und seufzt schwer.
»Ach Scheiß drauf...Er hatte es nich leicht in Hollywood. Er is' 'n Hübscher und kann auch gut schauspielern. Da is' er aber nich der Einzige, verstehst? Und Roger is' 'n fetter Hai im Becken, der scharrt die Verzweifelten um sich und kann gut verkaufen. Es interessiert ihn nich, was die wollen, nur die Jobs, die schnell Geld bringen. Bei Ben is' es halt das Modeln, und als der dann mit seiner Glitzerprinzessin was angefangen hat...« Steve verstummt und biegt in die Straße ein, in der mein Elternhaus steht.
Wir parken vor dem alten Haus und ich lasse meinen Blick über die Fassade gleiten. Es ist nun acht Jahre her, dass ich das letzte Mal hier war, aber es hat sich nichts verändert. Weder die weiße Holztäfelung noch die schwarzen Fensterläden – schlicht, aber immer noch einladend.
Es ist ein einfaches Haus, wie jedes Andere hier in der Straße, nichts Aufregendes, aber mit Charakter.
Ich steige aus dem Fahrzeug und bleibe einen Moment stehen, um tief Luft zu holen. Die kalte, morgendliche Herbstluft brennt sich in meine Lunge und riecht so vertraut – aber nicht nach zu Hause.
Steve stellt sich stumm neben mich und schaut auffordernd zu mir runter.
»Du weißt nicht, was du von mir verlangst...Ich war seit über acht Jahren nicht mehr hier«, brumme ich und stecke meine Hände tief in meine Jackentasche.
Der Herbstwind zieht an meinen offenen Haaren, und ich würde mich lieber wieder in das Auto verkrümeln.
Soll er doch die Arbeit machen.
Auch wenn ich mir Sorgen um Ben mache, ist die Vorstellung, was mich in diesem Haus erwartet, der reinste Albtraum für mich.
Ich hoffe wir können Ben einfach mitnehmen und wieder fahren, ich bin nicht bereit mich mit irgendjemanden hier auseinanderzusetzen – oder zufällig Owen über den Weg zu laufen.
»Äh. Das sind deine Eltern, nich meine«, entgegnet er mir grinsend und stupst mich mit seinem Ellenbogen an.
»Und es ist dein Boss«, knurre ich, gehe aber die Auffahrt zu den abgenutzten Stufen des Hauses hoch. Mein Blut rauscht aufewühlt durch meine Ohren, ehe ich von zehn runterzähle und die Türklingel betätige.
Es dauert ein paar Minuten, ehe sich die Tür öffnet und der verdutzte Blick meiner Mutter mich trifft. Unglaubliche Wärme breitet sich in meiner Brust aus, als ich der Frau ins Gesicht blicke, der ich seit Jahren aus dem Weg gehe. Sie ist dünn geworden, das rotblonde Haar trägt sie schulterlang, und ihre Locken sind genauso unzähmbar wie meine.
»Hey Mom«, flüstere ich und sehe noch, wie sich Tränen in ihren warmen, braunen Augen sammeln bevor sie mich in eine feste Umarmung zieht, aus der ich wahrscheinlich nie wieder herauskommen werde. Ihr unverkennbarer Geruch nach Lavendel und Orange umgibt mich und erzeugt in mir, wie schon zu meiner Kindheit, eine tiefe Ruhe.
»Vianne!« haucht sie überrascht, aber auch entkräftet. Als ich ihre Stimme so nah an meinem Ohr meinen Namen wispern höre, kann auch ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten.
Ich weiß nicht, wie lange wir so dastehen, irgendwann räuspert sich Steve hinter mir, und meine Mutter hebt irritiert den Kopf.
»Oh. Du hast jemanden mitgebracht?«, fragt sie unsicher und hält mich an meinen Händen fest, während sie zwischen Steve und mir hin und her schaut. Vielleicht hätte ich uns doch ankündigen sollen.
»Das ist Steve...er ist...äh«, versuche ich ihn gerade vorzustellen, als er einen beherzten Schritt nach vorne geht und meiner Mutter seine Hand reicht. »Yo, freut mich, Sie kennen zu lernen, Mrs. Ó Ceallaigh. Ich bin wegen Ben hier.« Skeptisch wechselt meine Mutter ihren Blick zwischen ihm und mir, aber nickt dann nur.
»Kommt erstmal rein. Ich hab gerade Kaffee aufgesetzt.« Sie dreht sich in den schmalen Flur des Hauses und läuft Richtung Küche, als gerade Lauren die Stufen von meinem alten Kinderzimmer herunterkommt.
***
» Willkommen in Stevens Point ☕️
» Na? Was wissen wir bisher über die gefühlt nicht lösbare Verbindung zwischen Ben, Roger und Isabel?
♥️
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