Kapitel 33

Warme, kräftige Hände halten mich an meinen Schultern fest. »Yo, Rotschopf, kommst du klar?«
Ich habe diesen ekelhaften Geschmack nach Eisen und kaltem Kaffee in meinem Mund, und meine Zunge bewegt sich über das trockene Zahnfleisch.

Steves eisblaue Iriden fixieren sorgenvoll mein Gesicht. »Ey! Hast du 'ne Panikattacke?«, höre ich seine Stimme stumpf, wie aus weiter Ferne, fragen, und ich muss mich anstrengen mit einem Nicken zu antworten.

Seine Hände umfassen meine, und er beginnt, tief ein- und auszuatmen.
»Mach mir nach.« Wie befohlen, passe ich meinen Atem seinem Rhythmus an und komme nach und nach wieder im Hier und Jetzt an. Meine Finger kribbeln, als würde eine Ameisenkolonie ihren Weg durch meine Blutbahnen suchen.

»Geht's wieder?« Steve löst seine Hände von meinen, steht auf und holt mir aus meiner Küche ein Glas kaltes Wasser. »Trink das.«
Ich nehme das Getränk dankend entgegen und nippe ein paar Schlucke, um meinen Mund wieder zu befeuchten. Sein Blick liegt weiterhin fragend auf mir. »Ich werte deine Reaktion jetzt mal als 'Ja'«, brummt er und nimmt sein iPad zur Hand, scrollt wieder durch seine Notizen und fügt neue hinzu.

Ich werde diesem fremden Typen schlecht sagen können, dass es der Name des Mannes ist, der mir erst die Liebe versprach, um mir dann die Hölle zu schenken. Ich unterdrücke die Übelkeit, die sich in meinem Magen sammelt; mein Mund schmeckt nach Galle. Wieso zur Hölle will Ben seine Adresse haben?

»Schon...Aber warum solltest du die Adresse raussuchen?«, frage ich mit schwacher Stimme, in der Hoffnung, dass Steve sich weiterhin gerne reden hört.

»Kein Plan, Ben meint, das sei 'nen Kumpel von früher, und der wollte ihn mal wieder sehn. Der is' jetzt im Stadtrat, Vorzeigetyp – so mit Haus und Garten und Familie und so.«

Steve sitzt vor mir auf dem Boden im Schneidersitz und dreht seinen erloschenen Joint nachdenklich zwischen den Fingern. »Wenn du aber reagierst, als hätt' ich nach 'nem Geist gefragt, is' der wahrscheinlich kein Kumpel?«

»Sie waren mal beste Freunde.«, murmele ich, mehr fragend als als Antwort gedacht.
Steve nickt, fährt sich durch sein sonnengebleichtes Haar und schnalzt mit seiner Zunge. Mein Herz hat noch immer nicht in den richtigen Takt zurückgefunden und wird es auch nicht, denn mir läuft es eiskalt den Rücken runter, als mir einfällt, dass ich Ben in der Nacht unseres Wiedersehens vor ein paar Monaten von meiner Vergangenheit mit Owen erzählt habe.Er wird doch nicht etwa? Wieder fällt mir das Atmen schwer, und Steve legt seine Hand auf meinen Rücken.
»Ey, Rotschopf? Du machst mir 'n bisschen Angst. Hat der 'n Problem mit Ben?«

'Ich glaube schon', will ich krächzend antworten, aber nehme sicherheitshalber lieber einen Schluck von meinem Wasser.

Natürlich merke ich, dass Steve inzwischen ungeduldig wird. Dass er in New York auf eine Frau mit Liebeskummer und Panikattacken trifft, war sicher nicht Teil seines Plans.
Er knackt mit seinen Fingerknöcheln und tippt an seinem Handy herum.

Ben wird ihn doch nicht aufsuchen und zur Rede stellen? Hat er nicht eigentlich gerade eigene Probleme? Und wieso jetzt, als ich ihm ein Ultimatum gestellt habe und ihn damals darum gebeten habe, das mit Owen ruhen zu lassen? Meine Gedanken schwirren wie ein aufgeschreckter Schwarm Bienen summend durch meinen Kopf, lassen keine Antworten zu, und das Summen wird immer lauter, bis ich realisiere, dass es mein Handy ist und jemand versucht, mich zu erreichen.
Ich greife schnell danach ... vielleicht in der Hoffnung, dass es Ben ist, bis mir wieder einfällt, dass ich ihn blockiert habe.

Das Gesicht meiner Mutter strahlt mich vom Display aus an, und mir rutscht nun endgültig mein Herz in die Hose. Unser Kontakt beschränkt sich in der Regel auf Geburts- und Feiertage.

Als ich Stevens Point damals Hals über Kopf verlassen habe, war es leichter für alle zu glauben, ich hätte kalte Füße bekommen und Owen für meinen Wunsch, Künstlerin zu werden, sitzen gelassen.
Es gab Stimmen, denen war schon immer klar, dass eine Versagerin wie ich, die nicht studiert hat und keinen Job findet, nicht mit dem Glanz-und-Gloria-Sohn des Immobilienmoguls zusammengehört.

Ich habe die Gerüchte Gerüchte sein lassen, und meine Eltern haben sich teilweise davon blenden lassen. Wie hätte ich ihnen die Wahrheit sagen können? Ich glaube, sie haben geahnt, dass es nicht ganz so einfach war, wie alle behauptet haben, aber nie gefragt, und so steht der Elefant des unausgesprochenen Grauens seit Jahren zwischen uns – und natürlich hat Owens dramatisches Auftreten seinen Teil dazu beigetragen.
Der Verlassene, der sich immer eine Zukunft mit mir gewünscht hat.

Ich erinnere mich noch, als meine Mutter mir erzählt hat, wie sehr ich Owen wohl gebrochen hätte und ob ich nicht zurückkommen möchte und vielleicht könnten er und ich es noch einmal miteinander versuchen.
Allein der Gedanke daran greift wie eine kalte Hand in meinen Magen, um zuzudrücken.

Vielleicht, ich hätte es meinen Eltern erzählen sollen. Aber sie waren so von Owen überzeugt, wer weiß ob sie mir geglaubt hätten oder sie hätten mich gezwungen, zur Polizei zu gehen, und gegen Owens Familie wären wir rechtlich nicht angekommen.

»Äh ... Willst du nich' rangehen?«, reißt Steve mich aus meinen Gedanken und deutet mit seinem Kopf auf mein Handy. Widerwillig greife ich nickend nach dem Telefon.

»Hey Mo ...«, ich werde von einer fremden, aber mir dennoch bekannten, Stimme unterbrochen. »Vianne? Ich bin's, Lauren!« Sie klingt gehetzt, und ich bin verwirrt – wieso ruft sie mit dem Handy meiner Mutter an?

»Ist etwas passiert?«, mein Herz schlägt wieder unkontrolliert durch meinen Brustkorb. Was ist, wenn meiner Mutter etwas zugestoßen ist? »Lauren! Geht's meiner Mom gut?« Auf der anderen Leitung herrscht kurzes Schweigen und dann ein Räuspern. »Ja. Ja, deiner Mom geht's gut. Es geht um Ben ... Er ist hier bei deinen Eltern. Er ... spricht mit niemandem, aber er hat ...«, Lauren macht eine Pause, im Hintergrund höre ich meine Mutter etwas murmeln.
»Egal. Kannst du nach Hause kommen?«

Ich bekomme die ganze Situation nicht zu fassen. Wieso sind Ben und Lauren bei meinen Eltern? Acht Jahre hatte ich meine Ruhe, weder hat sich Lauren weiter für mich interessiert, noch wollten meine Eltern die Wahrheit wissen. Ich habe Stevens Point seitdem gemieden, und jetzt wollen sie, dass ich nach Hause komme?

Am liebsten würde ich das alles gerade in mein Telefon brüllen, aber was würde es ändern?

Ich atme tief ein und aus, verdränge jegliche aufkommende Emotion auf später, schlucke und antworte so monoton wie möglich: »Ich sehe keinen Grund.« Und lege auf.

»Ben ist bei meinen Eltern«, richte ich Steve aus. Schmeiße das Handy zurück aufs Bett und reibe mir resigniert mit meinen Händen über das Gesicht. Ich frage mich, in welcher Konstellation die Sterne stehen, um mir das anzutun. Soll Steve sich um Ben kümmern – ich hoffe, dass Sophie gleich noch wach ist und ich ihr die neuesten Entwicklungen mitteilen kann.

»Jupp, der nächste Flug geht um halb vier über Chicago. Hab gebucht. Du solltest packen.« Ich starre den breit grinsenden Surferboy vor mir an und unterdrücke das Bedürfnis, diesem Lächeln mit den perfekten weißen Zähnen einen davon auszuschlagen.

»Bitte was?!«, bringe ich mit gebrochener Stimme, mehr heiser als kräftig, hervor.
»Du kommst mit, Rotschopf. Is' dein Revier da oben – du kennst die Leute, kay.«

Ich kann nicht glauben, dass der Typ einfach ohne eine Wimper zu zucken zwei Flugtickets gebucht hat.

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