Kapitel 30

Blinzelnd öffne ich meine schweren Lider. Meine Wimpern sind von Tränen verklebt, und mein Schädel hämmert und brummt wie die Kakophonie einer Großbaustelle.
Als ich mich aufrichten will, rebelliert mein Körper und verfrachtet mich zurück auf einen Stapel von Kissen und Decken. Stöhnend presse ich meine Handballen auf die Augen, und schlagartig fällt mir das Desaster des gestrigen Abends ein.
»Nein!« keuche ich, richte mich auf und greife zitternd nach meinem Handy.

Das Display ist leer.
Keine Anrufe. Keine Nachrichten.

»Wir haben ihn blockiert, Mausi.« Brummt es vom Fußende meines Bettes, an dem anscheinend Sophie eingeschlafen ist und sich schwer seufzend aufrichtet.
Meine Enttäuschung muss fühlbar gewesen sein und hat sie aus dem Delirium gerissen. Das darauf folgende Schweigen ist leidend und laut.

»Ich mach uns einen Kaffee.« Murmele ich verschlafen, stolpere aus dem Bett, setze das lebensweckende Gebräu auf, schlurfe mit schmerzenden Knochen ins Badezimmer und schließe schwer seufzend die Tür hinter mir ab. Mein Spiegelbild erwidert tadelnd meinen fragenden Blick aus schwarzen, rotunterlaufenden Pandaaugen. Meine Nasenspitze ist rot und wund vom Schnauben, und meine Lippen brennen trocken und aufgeplatzt.
Ein bitteres Schluchzen bahnt sich tief aus meiner Brust an die Oberfläche, und meine Gedanken wollen keinen Anschluss aneinander finden. Eine Aneinanderreihung von Worten, die selbst mit besten Absichten keine zusammenhängende Logik verfolgen. Alles dreht sich darum, dass ich nicht weiß, wie er die Nachricht aufgefasst hat, wie er darauf reagiert und ob nun unser Ende eingeleitet wurde und ob ich ihn nie wiedersehen werde?

Mein Herz knarzt fürchterlich in der Brust, hatte es doch gerade erst angefangen, die Wunden von damals zu flicken und mit neuen Erinnerungen zu füllen.

Meine Finger umklammern haltsuchend die kalte Keramik des Waschbeckens. Scheiße.

Heiße Tränen wollen meine Augen verlassen, aber ich beiße auf meine zitternde Unterlippe. Jetzt nicht. Ich kann nicht schon wieder weinen. Ich bin erschöpft.
Verkrampft wimmernd schlucke ich den Schmerz hinunter, öffne den Wasserhahn und wasche mein Gesicht mit klirrend kaltem Wasser, bis es taub ist – wäre es mit meinem Herzen doch nur ähnlich einfach.

»Wie soll ich denn je erfahren, ob er sich für mich entschieden hat?« Habe ich Sophie gestern Nacht mehrfach gefragt, während sie mich in ihren Armen hielt. »Er weiß, wo du wohnst.« Waren ihre Worte. Und ja, vielleicht will ich auch nur auf diesem Weg von ihm erfahren, dass er bei mir sein möchte.

Ich straffe meinen Rücken, trete aus dem Badezimmer und fülle zwei Tassen mit heißem, dampfendem Kaffee, die ich auf den kleinen Beistelltisch abstelle und Sophie beobachte, die gerade an ihrem Handy sitzt und sich durch Storys auf Instagram swiped. »Er hat nichts gepostet. Eigentlich postet er doch immer etwas, wenn er am Flughafen ist, oder?« murmelt sie nachdenklich, und wieder zieht sich mein Magen zusammen.

»Vielleicht hatte er keine Zeit...?« ...oder meine Nachricht hat ihn getroffen? Ich werde es wohl erstmal nicht erfahren. Oder nie.

Sophie schafft es nach einiger Zeit, mich zu überreden, den Tag mit ihr im Central Park zu verbringen, das bunte Herbstwetter zu genießen, und wenn ich möchte, die nächsten Tage an meiner Seite zu bleiben, um mich davor zu beschützen, die Blockierung von Ben aufzuheben und mich bei ihm zu entschuldigen – und sie hat recht.
Würde sie mir den Rücken zudrehen, würde ich Ben sofort schreiben. Oder ihn anrufen. Einfach seine Stimme hören. Selbst wenn er wütend auf mich sein sollte. Selbst wenn er mir mitteilt, dass er bei Isabel bleibt... die allumfassende Unwissenheit ist schlimmer als die Zeit davor.

Das Wochenende nutzt Sophie, um mich abzulenken. Sie schafft es, mich zu überzeugen, mit ihr Kürbisse zu schnitzen als Deko für die Fenster in der Bibliothek, Pumpkin-Cookies zu backen und mit ihr und ihrem Freund einen Filmabend zu machen.
Passend zur Jahreszeit haben wir die Harry-Potter-Filme bis zum 4. Teil geschafft, ehe wir alle erschöpft auf ihrer Couch eingeschlafen sind.

Sie und Harry haben sich die größte Mühe gegeben, mir emotional den Halt zu geben, den ich gebraucht habe, um am Montag mit dem kleinsten Keim einer sprießenden Motivation in der Bibliothek zu erscheinen und halbwegs anständig meine Arbeit zu verrichten.
Und ja, funktionieren kann ich zum Glück immer, das hat mir Owen beigebracht. Niemals aufhören zu lächeln, immer brav antworten.

Mit diesem Mantra ging der Tag schneller um als erwartet, und nach einer Heimfahrt mit dem Fahrrad durch den kalten Herbstregen sitze ich nun endlich zu Hause.
Frisch geduscht, in einem von Bens schwarzen Hoodie gekuschelt und mit meinem Handy zwischen zitternden Fingern. Die Nachricht an ihn ist nun drei Tage her, und laut Sophie haben weder Ben noch Isabel irgendwelche Storys oder Beiträge veröffentlicht.
Das kann alles heißen. Oder nichts.

Mein Zeigefinger schwebt über dem roten Schriftzug 'Blockierung aufheben', und ehe meine Fingerspitze das Display berührt, schrillt die Klingel meiner Wohnungstür in einer alarmierenden Lautstärke los.
Es klingelt und klopft in einem hektischen Stakkato, und mein Herz schlägt einen doppelten Salto.

Ben!

Mein Magen dreht sich um, und heißkalter Schweiß schießt mir bis in die Fingerspitzen. Es kann nur Ben sein!

Ich springe von meinem Bett auf, mein Fuß verheddert sich in einem Laken und fast stolpere ich auf dem Weg zu meiner Tür. Nur durch Zufall kann ich mich aufrecht halten, streiche den Stoff des Hoodies glatt, richte den Zopf, in dem ich meine widerspenstigen roten Locken zur Ordnung zu zwingen versuche und bleibe mit nervösem Herzschlag vor meiner Wohnungstür stehen.
Ich atme ein. Atme aus.
Und öffne die Tür.

Mein Blick ist wahrscheinlich genauso irritiert wie der meines Gegenübers.

Ich muss meinen Kopf heben, um in die eisblauen Augen eines California-Surferboys zu starren, der einem Bilderbuch entsprungen zu sein scheint. Vor mir steht ein mindestens 1,90 Meter großer, trainierter Hüne, der ein markantes, aber jungenhaftes Gesicht hat, gebräunte Haut und lockige, von der Sonne und dem Salzwasser gebleichte Haare tanzen auf seinem Kopf – nur in dem dicken Pullover, der langen Baggy und den Boots sieht er etwas fehl am Platz aus in dem grauen New Yorker Hausflur. Den Santa Monica Pier wird er hier lange suchen.

»Yo, damit hab ich jetzt nicht gerechnet«, raunt der junge Mann mit einer genervten Stimme, schiebt sich an mir vorbei und steht plötzlich in meiner Wohnung. Ich schnappe nach Luft, ehe ich meine Stimme wiederfinde. »Entschuldigung? Ich hab dich nicht reingebeten! Wer bist du?!« Mehr quietschend als selbstsicher entfahren mir die Worte, und ich zucke unsicher zusammen, als der Surferboy sich zu mir dreht und andeutet, die Tür zu schließen.

Seine Augen blicken sich suchend um und verdunkeln sich, als er anscheinend nicht findet, wonach er sucht.

»Chill. Ich tu dir nichts – wo ist Ben?«

***

» Wie, wo ist Ben? Und wer ist der Typ?!

♥️

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top