Kapitel 24
Ohne sich noch einmal umzudrehen, rauscht Ben die alten, knarzenden Treppen des Hausflurs hinunter. Mit angezogenen Schultern krallt er sich an seiner Tasche fest, als ob sie sein letzter Halt wäre, den er noch hat. Als die Tür unten ins Schloss fällt, renne ich an das Fenster meines Wohnzimmers und sehe ihn noch in das schwarze, viel zu luxuriöse Auto einsteigen. Als wolle Roger ihm zeigen, was er ihm alles zu bieten hat.
Das triste Grau des Morgens entzieht den bunten Häusern der Straße ihre Sättigung, die alten Laternen am Straßenrand flackern in Richtung Feierabend, und mit leisen Surren des Elektromotors entfernt sich Ben schon wieder aus meinem Leben; bis nur noch der Klang von Reifen auf nassem Kopfsteinpflaster zu hören ist.
Unfähig, mich zu bewegen, lege ich meine Finger an die kalte Scheibe und schaue auf die noch menschenleere Straße hinaus. Es wird noch eine Weile dauern bis für die Menschen der Tag beginnt und sich die Gehwege füllen.
Die Schwere in meiner Brust kann ich kaum beschreiben, sie ähnelt dem grauen Dunst außerhalb meiner Wohnung. Sie legt sich düster auf mein Herz und meine Lunge, hält sich krampfhaft an meinem Magen fest und überdeckt lähmend alle Schmerzen, die sich an die Oberfläche kämpfen wollen.
Nun bleibt mir nichts anderes übrig, als zu warten. Darauf, ob Ben sich tatsächlich bei mir melden wird und ob es eine Zukunft für uns geben kann.
Erst als sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Familie aus der Haustür schält und Koffer und Tüten in ihrem Auto verstauen, schaffe ich es, mich von meinem Fenster zu lösen.
Die Müdigkeit der letzten Tage zieht sich durch meine Knochen und Fasern, aber schlafen werde ich nicht können.
Also ziehe ich mir ein altes Nirvana-T-Shirt über, das voller Farbkleckse ist und dessen Kragen und Ärmel sich schon in einzelne Fasern lösen. Meine lockigen Haare binde ich zu einem lockeren Knoten im Nacken zusammen, starte eine Moody-Playlist, fülle mir noch einen Kaffee nach und setze mich vor die frisch aufgezogene Leinwand.
Meine Finger klammern sich an die heiße Tasse und dankbar nehmen sie das leichte Brennen in Empfang, um wenigstens etwas zu spüren. Ich atme tief ein und starre auf den weißen Leinenstoff vor mir, den ich erst vor wenigen Tagen eingespannt habe. Unter der Staffelei steht ein Eimer schwarzes Gesso und der breite Pinsel, den ich immer verwende, um die Grundierung auf dem Stoff aufzutragen.
Mein Kopf ist leer, keine Bilder, keine Gefühle, und genau das ist der perfekte Moment, die Leinwand zu bearbeiten. Denn wenn ich schon eine Bildidee habe, nehme ich mir oft nicht genug Zeit, die Farbe auf dem Stoff zu verteilen, bin ungeduldig beim Trocknen und muss am Ende mehr korrigieren, als nötig.
Träge tauche ich den Pinsel in die dickflüssige Masse, klatsche das Schwarz in die Mitte der Leinwand und beginne in gleichmäßigen Bewegungen, das Gesso darauf zu verteilen. Der leichte Geruch von Lösungsmitteln verteilt sich in meinem Raum, überdeckt den Geruch von Kaffee und Schlaf, von Intimität und Ben, leert meinen Kopf, entschleunigt meinen Herzschlag und sortiert, was vorher ein Chaos war.
Es beruhigt mich zu sehen, wie die weißen Fasern vom Schwarz verschluckt werden und sich der Untergrund darauf vorbereitet von mir zum Leben erweckt zu werden.
Geordnete Gedanken versuchen zu verstehen, was in den letzten Tagen passiert ist, versuchen das, was Ben von sich preisgegeben hat, in einen sinnvollen Kontext für mich zu bringen. Ich versuche zu begreifen, dass ich noch immer so verdammt verknallt in ihn bin wie damals.
Ist so etwas überhaupt möglich?
Ich halte in meiner Bewegung inne – er hat nicht mit einer Silbe erwähnt, ob es ihm genauso ergeht. Seufzend schüttel ich den Kopf, um keinen Gedankenkreisel zu verfallen, den ich alleine nicht gelöst bekomme, und als ich die Schicht Grundierung fertig aufgetragen habe, lacht mich das tiefe schwarze Loch vor mir fast aus.
Schon wieder lässt er mich zurück mit mehr Fragen als Antworten.
Die Müdigkeit überrollt mich, und ich lege mich schwer und erschöpft in mein Bett. Ich ziehe die Decke über mich, die noch nach ihm riecht. Ich schlinge sie wie ein Kokon um meinen Körper und falle in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
So vergeht der Tag: ich schlafe, trage eine weitere Schicht der Grundierung auf, schlafe weiter und hoffe, dass Ben schreibt oder es endlich morgen wird, damit ich zurück in die Bibliothek kann, um mich mit der Arbeit dort ablenken zu können.
Ben (16:32)
Ich kann nicht aufhören, an die zeit mit dir zu denken. Lieber würde ich zurück fliegen, statt auf meinen fahrer zu warten...
Urplötzlich blinkt die Nachricht von Ben auf. Mein Herz überschlägt sich, als ich mit schwitzigen Fingern mein Handy festhalte und zum wiederholten Mal die Nachricht von ihm lese – er hat sein Versprechen gehalten. Er meldet sich, und das Grinsen will nicht aus meinem Gesicht verschwinden, während ich hilflos nach einer Antwort grübel.
Vianne (16:38)
Vllt bekommst du den Fahrer ja überredet, dich nach NYC zu fahren, statt in deine traumhafte Villa. du bist hier jederzeit willkommen
Ben (16:40)
Ich würde die villa immer gegen dein fuchsbau tauschen.
Seufzend lasse ich mich in meine Decken und Kissen fallen und komme mir nun wirklich vor wie ein frisch verknallter Teenager. Hoffnung keimt in mir auf. Vielleicht ist es möglich, dass wir eine Lösung finden, vielleicht wird es ein „Wir" geben können.
Ich sende ihm ein Fuchs-Emoji zurück, die Häkchen werden blau aber eine Antwort folgt nicht.
Auch am nächsten morgen bleibt meine letzte Nachricht unbeantwortet.
***
♥️
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