Kapitel 23
Jeder Funke an Vernunft in mir schreit danach, ihn wegzuschicken.
Eine direkte Frage erlaubt eine direkte Antwort, und allein die Einblicke, die ich in sein aktuelles Leben erhalten habe, schreien laut, dass ich damit nichts zu tun haben sollte. Zu meiner eigenen Sicherheit.
Die Wärme seiner Hände, die mein Gesicht halten, und sein Blick, der auf eine Antwort wartet, schalten dennoch jegliche Vernunft in mir aus.
»Das Herz will, was das Herz will«, sagt Carl immer, wenn ich wieder einmal nicht verstehe, warum sich Charaktere in den Büchern, die ich lese, für den Weg mit den roten Flaggen entscheiden. Und wahrscheinlich ist es im echten Leben genauso.
Bens Worte treffen mitten in dieses Herz. Hat er all diese Jahre wirklich an mich gedacht? An unserer Geburtstagstradition festgehalten? Hat er mich gesucht? Ein Teil in mir will das glauben, vielleicht der Teil, der genau dasselbe durchlebt hat. Ihn zu vermissen und zu wissen, dass wir uns wahrscheinlich nie wiedersehen werden.
Das Herz will, was das Herz will.
»Bleib«, hauche ich zitternd und weiß nicht, was ich mir von dieser Antwort erwarte. Dass er nur bis morgen bleibt? Dass er für immer bleibt?
Bens Gesicht entspannt sich, und er lehnt seine Stirn an meine. Unsere Nasenspitzen berühren sich, und er seufzt erleichtert aus, während er mich in eine feste Umarmung zieht.
»Du weißt nicht, was mir das bedeutet, Füchschen.«
»Ich weiß nicht, was das überhaupt bedeutet«, nuschle ich fassungslos über meine Entscheidung in seine Halsbeuge, schließe die Augen, und seine Hände gleiten sacht durch meine Haare.
»Das bedeutet, dass ich einen Weg finden werde, damit ich dich nicht noch einmal verliere.« Er hält mich fest, wiegt mich in seinen Armen. Es wirkt, als wolle er den Moment einfangen.
»Ich werde morgen noch einmal mit Isabel reden. Ich werde zum Dreh müssen, ich werde meine Verträge erfüllen müssen, und ich möchte, dass du wieder Teil meines Lebens wirst. Bitte, Vianne...«
Ich höre ihm zu, will glauben, dass es sich nach einem sinnvollen Plan anhört. Ich will wissen, wohin diese Entscheidung führt, und die Aussicht, Ben wieder in meinem Leben zu haben, scheint über all die anderen Punkte hinweg zu trösten.
Rational ist seit gestern nichts mehr zu begründen.
»Ich muss trotzdem Fragen stellen...« Nie war ich meiner Neugier dankbarer als in diesem Moment. Ben nickt stumm – was bleibt ihm anderes übrig?
Die Fragen reihen sich in meinem Kopf auf, wollen heraus, am liebsten gleichzeitig. Ich atme ein, versuche, die Prioritäten zu sortieren. »Warum war es ein Drama, dass du das Hotel verlassen hast?« Fangen wir doch mit der einfachsten Frage an. Ben verzieht seinen Mund zu einem Strich und schnaubt leise.
»Mein Schwiegervater hat seine Beziehungen spielen lassen für das Zimmer direkt am Flughafen und den Flug morgen.«
Ich verstehe es trotzdem nicht so richtig und frage noch einmal nach, warum es so schlimm ist, dass er nicht im Hotel war.
»Roger ist... sehr strikt. Er ist großzügig, aber erwartet auch – äh – na ja, man sollte ihn nicht verärgern.« Ich kräusele die Stirn. Man kann doch nicht unaufgefordert anderen Menschen einen Gefallen tun und dafür Dankbarkeit verlangen, oder?
»Warum erwähnte dein Assistent eine Crackhöhle und dass du clean bleiben sollst?« Leise hoffe ich, dass das ein schmutziger Witz zwischen den beiden war, aber Bens Augen erzählen eine andere Geschichte. Er dreht seinen Kopf zur Seite und seufzt.
»Gehört das zu den Punkten, die du mir nicht erklären kannst?«
Er schüttelt den Kopf.»Nein, das gehört nur zu den unangenehmen Punkten, die schon lange nicht mehr Teil meines Lebens sind, aber immer noch die größte Sorge von Roger und Isabel sind.« Er atmet lang aus und reibt sich mit den Händen über sein Gesicht.
»Ich habe Roger viel zu verdanken...«, flüstert er genervt. »Und Isabel... Isabel sieht sich als verlängerter Arm ihres Vaters. Eigentlich bin ich mit ihm verheiratet. So fühlt es sich jedenfalls an.«
Aus der Absurdität der Situation heraus fängt Ben an zu lachen und schüttelt den Kopf. »Es ist so verrückt, Vianne. Seit ich clean bin, weiß ich, dass ich aus dieser Verbindung raus muss...«
»Bist... bist du schon lange... also –« Er unterbricht mich. »Clean? Was heißt lange? Ohne Rückfall jetzt seit fünf Jahren.« Er zuckt beiläufig mit den Schultern.
»Es gibt Dinge, die sind einfacher zu bewältigen als andere«, und spielt damit darauf an, dass er immer noch 'in dieser Verbindung' steckt.
»Isabel hatte letzte Woche der Scheidung noch zugestimmt... Sie ändert ihre Meinung passend zu ihrer Stimmung. Ich muss mit ihr reden, und wir werden eine Lösung finden.« Ben reibt sich mit den Fingern die Schläfen und lässt sich seufzend in den Haufen Kissen und Decken meines Bettes sinken. Ich schmiege mich seufzend an ihn.
Wir halten einander, verteilen träge Küsse auf unsere Lippen und gleiten in einen tiefen Schlaf, in dem wir uns nicht voneinander lösen – auch nicht, als am nächsten Morgen Bens Wecker klingelt und er mich fester an sich zieht, seine Hände über meinen schlafwarmen Körper gleiten.
Wir verschmelzen noch einmal miteinander, kosten die letzten Momente, ehe die Zeit sich dem Ende neigt. Geben uns dem langsamen Rhythmus des schmerzvollen Abschieds hin und klammern uns an den jeweils anderen, um uns noch einmal zu spüren. Noch einmal sicherzugehen, dass wir einander erhalten bleiben. Verteilen schwere Küsse, verschlingen unsere Arme und Beine miteinander und treiben wehmütig in die Wogen eines stillen Sturms, der uns verschlingt und für einen Atemzug die Welt stillstehen lässt.
Wir schaffen es gerade noch, einen Kaffee miteinander zu trinken, ehe Ben von seinem Fahrer abgeholt wird. Ich wollte ihn nach unten begleiten, wollte mich noch richtig verabschieden, aber Ben hält mich sanft auf, als ich meine Schuhe anziehen will.
»Es ist besser, wenn wir nicht zusammen gesehen werden, Füchschen.« Er lächelt entschuldigend. »Wenn Roger mitbekommt, dass mein Schulfreund eine attraktive Frau ist, werde ich wahrscheinlich die Cover von Bestattungsunternehmen zieren.«
Das Lachen kommt gequält über seine Lippen, und ich bin mir nicht sicher, ob er es wirklich als Witz meint.
***
» Was meint ihr? Wird Isabel einer Scheidung doch noch zustimmen?
♥️
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