Kapitel 22

Meine Hände entziehe ich ihm nur langsam. Ich bin irritiert – weiß nicht, was ich glauben soll oder was ich von dem Wissen hätte, was wahr ist und was nicht.

Ob ich mich nun mit einem verheirateten oder in Scheidung lebenden Promi auf ein emotionales Auf und Ab eingelassen habe, nur weil ich mich von meinen Erinnerungen und Gefühlen habe mitreißen lassen – es macht keinen Unterschied. Ich habe mich auf ihn eingelassen.
Und das, obwohl mir schmerzlich bewusst sein sollte, dass Ben und ich wahrscheinlich nie ein Wir werden.

Er wird morgen in seine Realität zurückkehren. Seine Serie drehen, Kooperationspartner glücklich machen und sich von Isabel scheiden lassen oder auch nicht – und das alles geht mich nichts an.

Wir sind erwachsen und treffen Entscheidungen – im besten Fall tun sie anderen Menschen nicht weh. Im Grunde müssen wir nicht mal ansatzweise die Verantwortung für die Entscheidungen unseres Gegenübers tragen.
Idealerweise sollte mein Herz sich trotzdem nicht so schwer anfühlen.
Denn im absoluten Optimalfall haben sich zwei erwachsene Menschen gestern Nacht im Rausch alter Geschichten und Gefühle dazu entschieden, miteinander zu schlafen, und wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, hätte ich es auch ohne das Wissen einer bevorstehenden Scheidung getan – denn die Verantwortung für seine Ehe trägt er allein, so wie ich die Verantwortung über mein eigenes Seelenheil trage.
Und vielleicht, nur ganz vielleicht, hat Bens Auftauchen in mir eine Tür zu einem Ort in meinem Herzen geöffnet, die ich schon längst vergessen hatte, nachdem ich den alten rostigen Schlüssel in die dunklen Tiefen des Sees unserer alten Heimat geschmissen habe.
Ich hatte vergessen, dass er damals den Zweitschlüssel mitgenommen hat – und als er ihn gestern einsetzte und alles, was dort verschlossen war, hervorgeholt hat, war ich so egoistisch und wollte diese Gefühle noch einmal spüren. Und genau das war meine Entscheidung.

»Vianne, sprich mit mir«, fleht er leise. Seine Stimme brüchig wie altes Papier, während ich auf meine Finger starre, die auf der weichen Bettdecke liegen und sanft über die kleinen Faserknötchen gleiten und sie hin und her schieben. Er fährt sich seufzend durch die Haare und bringt mein Fingerspiel zum Stoppen. »Ich will das mit dir klären!« sagt er nun etwas gefasster – ich suche den Mut, ihn zu fragen, wieso er etwas klären will, welchen Sinn es hat?Er könnte seinen Schritt von vor zehn Jahren wiederholen.
Er könnte verschwinden und sich nie wieder melden. Wir müssen nichts klären. Nicht, damit er ein beruhigtes Gewissen hat.

Sein Griff um meine Hand wird fester, mit der anderen Hand greift er mein Kinn und zwingt mich, ihm in die Augen zu schauen. In seine wunderschönen, warmen Augen, in die ich mich immer wieder verlieren werde, wenn ich sie sehe. Seine kastanienbraunen, unkontrollierbaren Locken hängen wild in seine Stirn, seine Sommersprossen wirken immer noch wie zufällig auf seinen Nasenrücken getropft, und die grauen Härchen, die durch seinen Bart schimmern, machen aus seinem Gesicht den Grund, warum er immer wieder für Plakatkampagnen gebucht wird.

»Was sollen wir klären, Ben?« Als ich anfange zu sprechen, zittert meine Stimme mehr als gewollt. Ich wollte abgeklärt klingen, und als er eine Augenbraue hochzieht, ist mir klar, dass ich es nicht bin.

»Ich...fuck...Vianne, ich kann dir nicht alles erklären, okay? Noch nicht. Es ist nicht alles so einfach, wie ich dachte.« Er verdreht genervt die Augen.
»Aber als ich dich gestern wiedergesehen habe... Scheiße, du...ich. Als ich heute im Hotel ankam, war mir einfach klar, dass ich dich nicht noch einmal verlieren darf.« Er legt mir einen Finger auf den Mund, als ich ansetze, etwas zu sagen. »Shhht... Ich weiß, dass ich schuld bin, okay? Und diesen Fehler habe ich mir nie verziehen. Und nachdem ich nun weiß, wie es dir erging...Fuck!« Er knurrt die letzten Worte mühevoll, während sich seine Mimik verdunkelt.

»Ich kann verstehen, wenn du mich nicht mehr wiedersehen willst, Füchschen. Aber ich will, dass du weißt, dass ich dich nie vergessen habe.« Er hält kurz inne, ehe er tief Luft holt und weiter spricht. »...Dass du weißt, dass dein Lachen immer noch in meinen Ohren klingt, wenn alle um mich herum ernst ihren Job erledigen. Dass ich jedes Jahr zu deinem Geburtstag einen Schokomuffin esse. Dass ich mich bei jeder neuen Galerieeröffnung in New York frage, wann ich einmal deinen Namen lese. Ich will, dass du weißt, dass ich dich oft gesucht, aber nie gefunden habe...« Er seufzt.
»Ich will, dass du weißt, dass ich geblieben wäre, wenn ich gekonnt hätte.«

Ben atmet schwer, und mir geht es auch nicht besser. Ich habe mich jahrelang damit getröstet, dass er nun schlussendlich von mir bekommen hat, was er bei allen Mädchen früher oder später bekommt. Dass er sich diesen Moment mit mir nahm und einfach gehen konnte. Der Jäger mit seiner Trophäe – meinem gebrochenen Herzen.

Es war einfacher für mich, mir vorzustellen, dass unsere Freundschaft für ihn nur ein Ziel hatte. Es war einfacher, ihn als das abzustempeln, was alle in ihm sahen: Ben Baker, der Playboy, der alles nahm, was bei drei nicht auf den Bäumen war – und ich habe es an dem Abend nicht auf einen Baum geschafft.

»Du hättest meine Eltern fragen können...?« stolpert es aus mir heraus, und er schüttelt resigniert den Kopf.
»Ich war seit damals nicht mehr zu Hause.« Ben dreht seinen Kopf zur Seite, um meinem Blick nicht zu begegnen. Vielleicht gehört das zu dem Teil: Ich kann dir nicht alles erklären.

Er rutscht näher zu mir, wir beide noch immer unter derselben Decke. Noch immer von der Wärme dieses Tages umgeben, auch wenn eine kalte Hand versucht, mein Herz zu ergreifen. Doch es sind seine warmen Hände, die sich um mein Gesicht legen und mich zwingen, ihm in die Augen zu blicken.

»Vianne, ich muss wissen, ob du willst, dass ich gehe oder bleibe.«

***

» Gehen oder Bleiben, das ist hier die Frage.

♥️

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top