Kapitel 17
Ich bekomme keine Luft mehr. Dunkelheit und eine tonlose Tiefe ziehen mich hinab – ich ertrinke. Ein knallendes Geräusch holt mich ruckartig zurück an die Oberfläche. Ich schnappe nach Luft.
Blinzelnd öffne ich meine vom Weinen brennenden Augen. Ich muss auf dem Boden eingeschlafen sein, meine Knochen schmerzen, und ich fühle mich, als wäre ein Lastwagen über mich gefahren. Oder eine Planierraupe.
Ächzend richte ich mich auf und versuche, mich zu orientieren.
Es ist noch nicht dunkel, das Licht scheint fahl und trist durch das Fenster am Ende des Flurs.
Ein lautes Hämmern an der Tür schreckt mich auf, wahrscheinlich dasselbe Geräusch, das mich geweckt hat. Schlaftrunken stehe ich auf und will es am liebsten ignorieren. Mich auf mein Bett legen und mich weiter dem ziehenden Schmerz in meinem Herzen hingeben und in Selbstmitleid verkümmern, aber das Hämmern lässt nicht nach.
Also sammle ich mich, atme tief durch und schwanke auf wackeligen Knien zur Tür. Ich wische mir kurz über meine tränenden Augen, ehe ich den Griff betätige, um die Tür einen Spalt zu öffnen. »Ja...?«
Mit einem heftigen Ruck schiebt jemand die Tür auf und umschließt mein Gesicht mit starken, warmen Händen – Bens Duft umnebelt mich, und ehe ich realisieren kann, dass er mich wie ein Wirbelsturm in meine Wohnung drängt und seinen Mund auf meinen presst, finde ich mich in einem sehnsüchtigen Kuss wieder, der mich komplett aus der Fassung bringt.
Mit seinem Fuß schiebt er die Tür hinter sich zu, bis sie sich mit einem Klick verschließt, und drückt mich schwer atmend gegen die Wand. Sein Kuss ist unnachgiebig, sehnsüchtig und voller Leidenschaft. Seine weichen Lippen fordern Einlass, während sein Oberkörper sich an mich drängt. Sein Herz schlägt kräftig gegen seinen Brustkorb, ich kann es deutlich spüren. Der Geschmack nach Gin und salzigen Tränen – unsicher, ob es seine oder meine sind – verteilt sich in meinem Mund.
Ich gebe mich ihm seufzend hin, versuche zu realisieren, dass er hier ist. Bei mir.
Ein Schauer durchfährt meinen Körper, und ich dränge mich an ihn. Will sicher gehen, dass er wirklich hier ist. Dass dieser Moment kein Traum ist, aus dem ich jeden Moment erwachen könnte. Dass er es ist, der mich hält.
Ich schlinge meine Arme um seinen Hals und vergrabe meine Hände in seinen Haaren, sie sind nass und kleine Tropfen rinnen über meinen Handrücken.
Ben löst seine Lippen von meinen und schaut mich mit glitzernden, verhangenen Augen an. Sein Atem vermischt sich mit meinem.
»Ich will dich nicht noch mal verlieren«, raunt er außer Atem an meinen Mund, ehe er seine Tasche von seiner Schulter gleiten lässt, mich fest in seine Arme schließt und seine Lippen wieder auf meine versenkt.
Fast als würde er nicht nur mich, sondern auch unsere Vergangenheit versuchen zu umarmen. All die verlorenen Jahre. All die Verletzungen. Die Leere. Als wäre es eine Wiedergutmachung für den Moment, in dem ich damals alleine in der kleinen Bucht wach wurde.
Jeder meiner Atemzüge ist erfüllt von einer Sehnsucht, die so lange in mir gebrodelt hat, dass es fast schmerzt, sie endlich zuzulassen und mich ihr vollständig hinzugeben.
Jede Berührung, jedes Aufeinandertreffen unserer Lippen ist mehr als nur Verlangen. Es ist ein Versprechen, ein unausgesprochenes Bekenntnis, das weit über diesen Moment hinausgeht. Seine Lippen, weich und fordernd zugleich, sagen mir mehr, als Worte es je könnten.
Nichts anderes zählt. Kein Vorher, kein Nachher. Nur dieser Moment.
»Du bist hier«, flüstere ich und versuche, seinen Blick zu erhaschen. Er steht mit gesenktem Kopf vor mir, versucht abermals, meine Lippen mit seinen zu versiegeln. Er sieht erschöpft und gehetzt aus, als wäre er auf der Flucht gewesen.
Sanft nehme ich seine Hände in meine und führe ihn langsam in meine Einzimmerwohnung.
Meine Wohnung ist klein, aber behaglich. Die Schlafcouch – immer ausgezogen, ist mit bunten Kissen und weichen Decken überhäuft, die zum Kuscheln einladen. Ein kleiner Tisch und eine abgenutzte Mid-Century-Kommode für meine Klamotten, auf der ein alter Fernseher steht, sind fast die einzigen Möbel. An den Wänden lehnen leere und bemalte Leinwände, stille Zeugen all der Stunden, die ich mich kreativ verausgabe. Hinter einem Vorhang versteckt sich die Küchenzeile, und ein kleiner Durchgang führt zum Badezimmer. Auch wenn ich nur selten hier bin, habe ich alles, was ich brauche, und es fühlt sich immer wie ein richtiges Zuhause an.
Nachdem ich den Lichtschalter betätigt habe, lässt Ben seinen Blick durch den Raum wandern, ein leichtes Lächeln spielt auf seinen vollen Lippen, als würde er jede Ecke der Wohnung mit mir verbinden. Ich mustere ihn. Auch er scheint geweint zu haben. Seine Augen sind gerötet und seine Lippen leicht geschwollen.
»Ich konnte nicht im Hotel bleiben...«, Seine Stimme bricht fast, als er die Worte flüstert – dabei fährt er sich mit seinen Händen durch seine zerzausten, nassen Haare. »...nicht nachdem ich wusste, dass du nur wenige Minuten von mir entfernt bist. Wenn ich morgen einfach in den Flieger gestiegen wäre... Ich hätte es bereut.«
Seine Worte und sein Verhalten passen nicht in das Bild, das mein Kopf sich in den letzten Jahren von ihm zurechtgelegt hat, um mein gebrochenes Herz zu heilen, dessen Narben er nun vollständig entblößt hat.
Seine Finger gleiten sacht über mein Gesicht, als versucht er selbst zu realisieren, dass er wirklich hier. In seinen Augen sehe ich den Sturm toben, der in ihm wütet. Ob aus Unsicherheit, aus Angst, oder schlicht aus dem Unglauben, dass wir tatsächlich hier stehen, kann ich nicht deuten. Er hält für einen Herzschlag inne, als würde er selbst an der Wirklichkeit dieses Augenblicks zweifeln.
In Zeitlupe bewegt er seinen Mund wieder zu mir herunter, legt ihn auf meine geöffneten Lippen – sein Kuss ist besitzergreifend und trotz seiner Sanftheit dominant. Seine Hände gleiten über meinen Hals in meinen Nacken, vergraben sich in meinen lockigen Haaren und ziehen mich näher an sich. Ich erwidere seinen Kuss, passe mich den Bewegungen seiner Lippen an und umfahre sie mit meiner Zungenspitze. Die Intensität unserer Nähe lässt meine Knie weich werden, und um meinen Halt nicht zu verlieren, kralle ich mich an seiner Brust fest. Unter meinen Fingerspitzen fühle ich das aufgeregte Schlagen seines Herzens, das meinem kaum nachsteht.
Wie viele Jahre lebten wir mit dieser Sehnsucht nacheinander in uns, ohne ihr jemals wirklich nachgegeben zu haben? Wie konnten wir uns so belügen, weil uns eine Freundschaft wichtiger war als der Versuch, miteinander Glück finden zu können? Denn am Ende hatten wir alles verloren.
Unsere Freundschaft und unser mögliches Glück.
***
» Haben wir nicht alle ein bisschen gehofft, dass Ben zurück kommt?
♥️
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