Kapitel 16

Es nieselt noch, die Luft riecht schwer und feucht – der modrige Geruch von alter Erde und schmutzigem Wasser vermischt sich mit dem Hauch von Regen und Meerwasser. Auf den Wegen und Straßen liegt noch durchgewirbelter Unrat, Blätter und Äste, aber die Bergungs- und Reinigungstruppen sind fleißig dabei, alles wieder freizuräumen.
Es wird sicher ein paar Tage dauern, bis alle Schäden gesichert oder repariert sind, dennoch hätte es uns schlimmer treffen können.

»Wie kommst du eigentlich nach Hause?« fragt Ben, nachdem er sich einen Überblick verschafft hat, in unser Schweigen hinein.
»Ich wollte mir gleich auch ein Taxi bestellen.« Er zieht die Augenbrauen hoch. »Das ist doch Quatsch, ich lass dich rumfahren. Komm, steig ein.« Er öffnet die Tür und bedeutet mir einzusteigen. »Warte.«

Nachdem ich meine Handtasche geholt habe, schließe ich die alte Holztür der Bibliothek ab und schalte den Alarm mit meinem Handy ein.

Ben steht noch immer an der Autotür, wartet geduldig, bis ich mich auf die Rückbank gleiten lasse, um auf der anderen Seite neben mir einzusteigen.

Ich gebe dem Uberfahrer meine Adresse durch. Wir müssen einmal quer durch die Stadt nach Queens. Doch ein kleiner, nicht unbedeutender Teil in mir freut sich, noch ein bisschen Zeit mit Ben geschenkt bekommen zu haben.

Wir sitzen schweigend im Wagen und schauen auf die Straßen, registrieren die Schäden, die Ophelia angerichtet hat, die Aufräumarbeiten und den Stillstand, den das Unwetter über die sonst so lebendige Stadt gebracht hat. Eine ungewollte Entschleunigung des Alltags hängt trist wie das Grau des Himmels über den Dächern New Yorks.

Ben legt seine Hand auf meinen Oberschenkel, während er gedankenverhangen aus dem Fenster blickt und wahrscheinlich ebenso wie ich das Szenario der Verwüstung registriert. Allein diese Berührung lässt in mir einen erneuten Sturm von Gefühlen aufkommen. Ich atme scharf ein und schließe meine Augen. Ich will nicht, dass er geht.

Ich bin dankbar, dass weder Ben noch der Uberfahrer heute gesprächig sind.

Als wir nach einer halben Stunde in meiner Straße halten, steigt Ben aus, um mir die Tür zu öffnen. Er begleitet mich zur Tür, seine Hände tief in seiner Jackentasche versenkt und die Schultern angezogen, bleibt er neben mir stehen. »Hier ist also dein Fuchsbau?« Ein leises Lachen entfährt mir.

Ich bin froh, dass ich damals nicht die Souterrainwohnung genommen habe – so wie es aussieht, steht die Kelleretage komplett unter Wasser.

Ich nicke. »Danke fürs Bringen, von hier ist es auch nicht mehr weit zu deinem Hotel.« Ich nicke in die Richtung vom JFK und lächle Ben dankbar an. Er erwidert mein Lächeln still und streicht mir mit seinen warmen Fingern eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ich sehe, wie er mich mustert, seine Augen gleiten fast traurig über mein Gesicht als ob er sich alles genau einprägen möchte, während seine Hand an meiner Wange verharrt. Mein Herz springt in Pressluftschlägen gegen meine Rippen. Ich wünsche mir so sehr, dass er mich küsst. Aber er nimmt mich nur vorsichtig in den Arm und murmelt leise, fast nicht hörbar, in meine Haare: »Irgendwann, Füchschen.« Ich drücke mein Gesicht gegen seinen Brustkorb und schlucke die Tränen runter, die versuchen, sich ihren Weg zu bahnen.

Er steigt in den Uber. Ich sehe noch den roten Rücklichtern hinterher, ehe ich zitternd meinen Schlüssel aus meiner Handtasche fische, die zwei Stockwerke zu meiner Wohnung hochschleiche und, als ich sie betrete, die Tür hinter mir schließe, bricht der Damm.

Ich rutsche in meinem dunklen Flur auf den Boden und weine. Ich weine all die Tränen, die sich in mir angestaut haben. Wimmere leise seinen Namen. Und wieder zersplittert mein Herz in viele kleine Splitter, die kaum mehr zu reparieren sind. Ich bekomme keine Luft. Ich verfluche mich, dass ich all das zugelassen habe. Verfluche mich dafür, dass ich nichts gesagt habe, aus Angst, dass was auch immer gestern Nacht passiert ist, plötzlich Bedeutung bekommt oder verliert. Verfluche Ben, dass er einfach fahren konnte.

Ich liege auf dem kalten Boden meines Flures, mein Körper schwer von den Rissen die der Abschied und die Flut an Erinnerungen in mir hinterlassen hat. Tränen fließen unaufhaltsam – es fühlt sich an, als würde ich an ihnen ertrinken.

***

» Nun ist er weg.
Ich übrigens auch. Ich bin jetzt im Urlaub ein bisschen Meerluft schnuppern. Mal schauen ob die Zeit im Strandkorb Vianne und Ben wieder zusammen bringt.

♥️

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