Kapitel 06
»Es tut mir so leid, Vianne.« wispert er.
»Ich hätte nicht gehen sollen...« Sein Blick streift noch einmal das Bild, dann kommt er langsam auf mich zu. Ich halte die Luft an.
Nicht weinen, Vianne. Du hast genug geweint.
Kurz vor mir bleibt er stehen und schaut zu mir runter. Er war schon immer größer als ich, heute komme ich mir aber besonders klein vor. Seine Nähe bringt mich komplett aus der Fassung und sein Duft steigt mir in die Nase. So vertraut.
»Das was da zwischen uns passiert ist...Ich war überfordert damit. Ich war viel zu jung für... Ach fuck, sorry okay? «
Ich atme.
Ich versuche es jedenfalls.
Ich will wegrennen. Weinen. Ihn schlagen. Ihn anschreien. Oder einfach nur in einem großen Loch versinken. Aber ich nicke.
Ich räuspere mich und will etwas Sinnvolles sagen, aber es kommt kein Ton aus mir.
Seine Augen bohren sich in meine und noch immer sehen sie aus, als wären sie aus dunklem Honig gemacht.
»... Ich wusste, dass wir in diesem Moment etwas Wertvolles zerstört hatten. Ich wollte mich dem nicht stellen.«
Um halbwegs zu funktionieren, starre ich auf den Fußboden unter meinen immer noch nackten Füßen. Er scheint dieses Gespräch wohl schon öfter mit sich selbst geführt zu haben, was unfair ist, weil ich auf Verdrängung gesetzt habe und daher keine Argumente finde.
»Ich habe versucht, dich zu erreichen...« japse ich leise. »Du hast dich nie zurückgemeldet.«
Ben nickt. »Das stimmt. Ich hab mich damals wie ein Arschloch verhalten. Ich hatte wirklich Schiss vor allen möglichen Konsequenzen.«
Ich seufze und atme. Ich muss mich daran erinnern, dass es inzwischen schon ewig her ist. Ich stehe über den Dingen. Passiert ist passiert.
Ich setze ein versöhnliches Lächeln auf und versuche, mehr als salopp die Situation zu lösen. »Wir waren beide verdammt jung. Schade, dass wir das nicht geklärt haben...damals. Mein bester Freund hat mir gefehlt.« Und zwar in vielen Situationen unmittelbar nach unserem Bruch.
Ich fahre mir durch meine Haare und muss mich schon wieder räuspern, während ich versuche, Bens Reaktion zu lesen.
»Du hast mir auch gefehlt, Vianne.« Ben lächelt versöhnlich, knufft mich leicht in die Seite und lässt seinen Blick erneut durch die Galerie schweifen.
»Das Jahrgangstreffen damals war für mich irgendwie ein totaler Abschied von allem.«
Ben setzt sich auf die Bank und rauft sich die Haare.
»Nach dem Winterball damals hatte ich keinen Kontakt mehr zu Owen. Ich hatte gehofft, es auf dem Jahrgangstreffen am See wieder gerade rücken zu können, aber er hat mich behandelt wie Luft. Dabei war er es, der mich verprügelt hat, nicht umgekehrt.«
Er lässt sich rücklings auf die Bank fallen und starrt an die Decke.
»Er hat mir erzählt, dass er dein Verhalten scheiße fand und dir deswegen eine Standpauke gehalten hat, du hast ihn ausgelacht und dann meint er, dass bei ihm eine Sicherung durchgebrannt ist.«
Ich erinnere mich noch an das Gespräch. Das war ein paar Monate nach dem Treffen. Auch wenn Ben keinen Zugang mehr zu Owen gefunden hat, haben er und ich zueinander gefunden.
Ben fängt an bitter zu lachen.
»Hast du hier auch Alkohol?« fragt er aus dem Nichts. »Die Wahrheit braucht nämlich was Hochprozentiges.«
Ich schaue ihn überrascht an – das braucht sie definitiv.
Ich nicke und laufe wieder zurück zur Küche. Ophelia zerrt ordentlich an dem alten Gebäude. Es knackt und knarzt in jeder Ecke. Wenn man versucht, nach draußen zu schauen, erkennt man nichts mehr von der Welt. Der Regen peitscht durch die Bäume, knallt an die Fenster und lässt die Sicht verschwimmen. Es ist, als würde die Welt uns auslöschen wollen.
»Wir haben Tequila und Wein.«
Ich halte zwei Flaschen hoch. Ben steht wieder vor dem Bild am See. Sein Kiefer ist angespannt und seine Hände stecken zu Fäusten in seiner Hosentasche. Als er mich hört, dreht er sich um und wieder zaubert sich ein Lächeln in sein Gesicht. »Den Tequila heben wir für später auf.«
Den Schalk in seiner Stimme kann ich nicht deuten, aber öffne die Flasche Wein, ohne nachzufragen, und fülle ein paar gute Schlucke in unsere leeren Kaffeetassen, reiche ihm seine und setze mich auf einen der weicheren Teppiche auf dem Fußboden.
Ben prostet mir zu, nimmt einen tiefen Schluck und verzieht das Gesicht; er mochte Wein noch nie.
»Als du zu, ich weiß nicht mal mehr ihren Namen, ins Bad bist, stand Owen plötzlich vor mir und meinte, er würde nicht zulassen, dass ich so mit dir umgehe. Dass du in mich verliebt seist und ich deine rosarote Brille nur ausnutzen würde...Ich hab gelacht, weil ich seine Art dramatisch fand. Dann drohte er mir und meinte, er würde die erstbeste Gelegenheit nutzen, dich zu seiner Freundin zu machen. Ich musste leider noch lauter lachen, weil ich erstens nie eine romantische Verbindung zwischen euch festgestellt hatte und zweitens, weil die Situation mehr als suspekt war. Ich wollte nur Spaß haben und plötzlich kommt da dieser Spinner.«
Ben seufzt schwer und schaut mich über den Rand seiner Tasse hinweg an.
»Das ist das, was passiert ist. Ich glaube, Owen hat in seiner Version einiges weggelassen.«
»Owen lässt viel weg, um gut dazustehen.« murmle ich in meinen Wein und beginne zu zittern.
Ich kann meine Tasse kaum halten und stelle sie auf den Boden.
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