Wer gewinnt den Starr-Contest

Man stelle sich folgendes Szenario vor: Der Introvertierte hat nach langem Hinauszögern endlich beim Arzt angerufen, um diesen Termin für einen Allergietest zu machen. Er verlässt also seine Komfortzone und schlendert eher weniger entspannt über die Straße. Schon hier fühlt er sich irgendwie beobachtet, aber immerhin hat er etwas zu tun: gehen. Nach strapaziösem Weg erreicht er dann schon etwas ausgelaugt die Arztpraxis.

Das erste Hindernis ist natürlich die Anmeldung, aber er hat sich ja auf dem Weg hierher schon in aller Ruhe darauf vorbereitet, was er wann wie sagen würde und ist daher so entspannt, wie es ihm denn irgend möglich ist. Solange die nette Schwester ihn nicht in ein Small Talk Gespräch verwickelt, übersteht er diese Aktion daher verhältnismäßig gut. Freundlich weist sie ihn darauf hin, im Wartezimmer platz zu nehmen. Sein Termin ist in zehn Minuten. Er ist wie immer viel zu früh, weil es ihm unangenehm ist, zu spät zu erscheinen.

Wie ihm geheißen, nimmt der Introvertierte also im Wartezimmer platz. Er murmelt ein geräuschreduziertes 'Hallo', das niemand wirklich hört und auf das auch niemand jemals antwortet und setzt sich. In der ersten Minute ist auch noch alles in bester Ordnung. Er kontrolliert das Emailpostfach, liest verpasste Nachrichten und antwortet dem Ein oder Anderen. Dann beginnt er zu realisieren, dass man ihn beobachtet. Zwangsläufig musste es in diesen kleinen stickigen Raum ja soweit kommen. Der Anstandsregler im Gehirn des Introvertierten beginnt nun, die Situation zu überprüfen. Dabei kommt die Frage auf, wie lange es angebracht ist, auf sein Telefon zu starren, ohne dass alle einen für abhängig oder 'die Jugend von heute' halten. Also legt er das Gerät weg, weiß nun aber nicht, wo er denn bitte hinschauen soll. In anderer Leute Augen entspricht nicht seiner Natur und wäre wohl auch erdenklich unangemessen. Die ganze Zeit auf einen Punkt an der Decke zu starren, könnte allerdings genauso Fragen aufwerfen. Daher lässt er seinen Blick langsam schweifen und bleibt an einer Person hängen, die ihn in diesem Moment gerade nicht anschaut. Er beobachtet sie, weil er nun einmal neugierig ist. Es kommt, was kommen muss: Die Person dreht sich zu ihm herum und ihre Augen streifen sich für einen winzigen Moment. Eilig schaut der Introvertierte überall hin nur nicht zurück, um so zu wirken, als hätte man nicht gerade selbst jemanden angestarrt, obwohl er genau weiß, dass der andere es mitbekommen hat. Es ist ein Spiel mit dem Feuer. Wenn andere Wartende es auch gesehen haben, werden die nächsten Minuten äußerst unangenehm. Jetzt starren ihn alle an, um zu überprüfen, ob er sie gerade anstarrt. Er fühlt sich wie auf dem Präsentierteller oder im Zentrum der Manege eines Zirkuszeltes. 

Bedauerlich ist, dass man niemals tatsächlich dran ist, wenn man den Termin hat. Er wartet also zehn Minuten, dann noch einmal zehn und dann noch einmal drei Minuten und zweiundvierzig Sekunden bevor die Schwester seinen Namen ruft. Das ist ihm peinlich, weil er sich fragt, ob die anderen seinen Namen für unschön halten oder gar für lustig. Schnell springt er auf und verliert dabei in der Regel irgendwas, sodass er sich noch einmal niederknien und es aufheben muss. Der Introvertierte konzentriert sich beim Verlassen des Raumes sehr stark darauf, nicht zu erröten, wie es eine Tomate in seiner Situation getan hätte.

Beim Arzt selbst entfällt dann Gott sei Dank die Zuhörerschaft. Jedenfalls sollte das im Normalfall so sein. Doch bereits im Vorfeld ist dem Introvertierten aufgefallen, dass die Wände äußerst hellhörig sind und die Stimme des Arztes ziemlich laut hindurch schallt. Er weiß also ganz genau, dass das Wartezimmer wenigstens die Hälfte des gesamten Arztgespräches mithören kann, was ihm großes Unbehagen bereitet. Daher traut er sich auch niemals beim Arzt direkte Fragen zu stellen. Natürlich sagt er, dass ihm das Knie schmerzt, aber er würde nicht zugeben, dass er gerne ein Röntgenbild hätte, um auf Knochenschwund oder ähnliches zu prüfen. Stattdessen hofft er, dass der Arzt dies von selbst vorschlägt. Natürlich will er auch den Arzt nicht kränken, indem er zugibt, dass er selbst bereits Nachforschungen angestellt und sich eine Diagnose diagnostiziert hat. Also wartet er höflich und ärgert sich dann später, dass der Arzt sein Knie nicht geröntgt hat.

Wenn er das Arztzimmer wieder verlässt, ist es ihm am liebsten, wenn der Doktor ihn bittet, sich direkt einen Anschlusstermin geben zu lassen. Dann kann er das direkt mit der netten Schwester an der Anmeldung klären und muss nicht wieder hier anrufen. Das ist zwar auch verlorene Energie, aber die Sache mit dem Telefonieren haben wir ja bereits abgehandelt.

Müde, ein bisschen sauer auf den Arzt und immer noch paranoid schleppt sich der Introvertierte dann im Normalfall zum nächst besten Imbissstand oder Schnellrestaurant. Doch weil er ja nie Glück hat, gibt es auch hier einige Stolperfallen, die es zu beachten und am besten zu umgehen gilt.

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