Telefon? Ne hab ich nicht.
Ein Telefon hat jeder. Und genau da liegt das Problem. Vorab: Introvertierte hassen es, zu telefonieren. Jetzt ist es aber nun einmal wieder so weit. Der Zahnarzt hat schon die dritte Erinnerung in den Briefkasten gesteckt und der Spliss hat die Frisur bis auf das Äußerste entstellt. Termine müssen her und leider ist niemand fortschrittlich genug, das über ein Emailprogramm zu erledigen. 'Ein Telefon hat doch jeder, so kann man sich dann ja leicht einen Termin holen.' Leicht ist hierbei jedoch das falsche Wort.
Wie ein Introvertierter Telefonate führt: Es beginnt mit der Vorbereitung. Ja ernsthaft. Wir bereiten das vor. Man überlegt sich bis ins kleinste Detail, was man wie sagt, damit es auf keinen Fall zu Missverständnissen kommt oder irgendwie komisch klingt [oder gar so, als hasste man Telefonieren]. Außerdem werden mögliche Antworten des Gesprächspartners, sowie eventuelle Fragestellungen mit in die Überlegungen einbezogen, um in jeder Situation entsprechend passend reagieren zu können. Bei einem durchschnittlichen Telefongespräch von fünf bis zehn Minuten Länge ergibt sich somit ein Spickzettel in A4 Größe, der auf der Vorder- wie der Rückseite beschrieben ist [bei längeren Telefongesprächen kann man sich ja vorstellen, was das für eine Arbeit ist]. Anschließend wird dafür gesorgt, dass der Raum, in dem das Gespräch stattfindet menschenleer und totenstill ist. Wer alleine wohnt hat - Glück, da ist die Sache schnell erledigt. Danach geht der Introvertierte Wäsche aufhängen. Mit größter Präzision und Achtsamkeit [mehr als normalerweise versteht sich] wird jedes einzelne Kleidungsstück nach seinem Wohlbefinden gefragt und dann auf die Leine gehängt. Darauf folgend, kehrt er an den Ort des Geschehens zurück und macht Dehn- und Sprechübungen, sowie mehrere Atemwegskontrollen. Er liest sich noch einmal seinen Spickzettel durch und korrigiert ihn gegebenenfalls. Mittlerweile sind es anderthalb A4 Seiten. Dann ist alles bereit, aber unglücklicherweise knurrt jetzt sein Magen. Also macht der Introvertierte sich etwas zu essen oder er geht irgendwo hin und holt Essen.
Wenn er gesättigt ist, müssen aus gesundheitlichen Gründen natürlich die Zähne geputzt werden und da es schon sehr spät ist, geht der Introvertierte dann um drei Uhr nachmittags ins Bett. Wenn er um sieben Uhr abends dann wieder aufwacht, ist der Arzt/Friseur bedauerlicherweise geschlossen. Der Introvertierte kann endlich wieder frei atmen und verschiebt das Gespräch auf den nächsten Tag.
Das geht selbstverständlich nicht immer so gut auf, und wenn dann tatsächlich einmal telefoniert wird, hört er sich selbst nicht mehr, weil sein Herz so laut hämmert. Er sagt dann immer am Telefon, nebenan wäre gerade Baustelle. Warum aber hassen Introvertierte Telefongespräche?
Erstens: Es geht dabei direkt um sie. Das mag man nicht unbedingt gerne haben, wenn man eher in sich gekehrt lebt. Wie es sich mit anderen Telefonaten verhalten würde, kann man nicht beurteilen, aber in dem Moment, in dem es um die eigene kleine Wenigkeit geht, stehen einem die Schweißperlen auf der Stirn.
Zweitens: Man kann dem Gesprächspartner nicht ins Gesicht schauen und kann daher nicht vorausahnen, was er gleich sagen wird. Das macht die ganze Angelegenheit stressig, weil man sich schnell eine Antwort überlegen muss und sich nicht schon gedanklich darauf vorbereiten konnte.
Drittens: Reichen die Spickzettel niemals aus. Der am anderen Ende schafft es immer wieder Fragen zu stellen, die wir nicht weiter bedacht haben, weil es uns gar nicht in den Sinn gekommen ist, dass man so etwas irrelevantes fragen könnte. Das Schweigen auf beiden Seiten des Telefonhörers ist dem Introvertierten dann äußerst unangenehm.
Zusammengefasst telefonieren Introvertierte am liebsten gar nicht. Tatsächlich würden sie ein Vieraugengespräch ohne zu zögern vorziehen und auch das mögen sie normalerweise nicht. Sie hassen Telefonieren, weil es so unvorhersehbar und unberechenbar ist. Am liebsten würden sie andere damit beauftragen.
Aber wer jetzt denkt, das wäre das Schlimmste für einen Introvertierten, der liegt falsch. Ganz falsch. Noch viel viel dramatischer ist ein Anruf per Skype. Die prompt auftretende Unbehaglichkeit, wenn man plötzlich einem anderen verpixelten Gesicht in die Augen schaut, dann weiß wie kurios man selbst aussieht und deshalb keine Ahnung hat, was man denn jetzt bitte sagen soll, ist noch viel unerträglicher. Skype besitzt der Introvertierte daher im Regelfall nicht einmal und er hasst auch alle Großeltern, die sich jedes Mal darüber beschweren.
Am liebsten kommuniziert der Introvertierte per Nachricht oder Email. In seltenen Fällen auch im Vieraugengespräch. Und er vermeidet so gut es geht jede Form von Telefonat. Hat man sich aber einmal dazu durchgerungen und den Termin endlich gemacht, wartet schon gleich das nächste Problem.
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