Rettungsdienst
Nach so einem schrecklichen Desaster ist der Introvertierte am Rande der völligen Entmutigung angekommen. Seine Welt ist in tausend Scherben zerbrochen und die Selbstzweifel schwirren um ihn herum wie diese lästigen Mücken-Biester, die einem im Sommer wie Streuselkuchen aussehen lassen. [Sssssssss - plötzliche Stille und man weiß: Jetzt sitzen sie irgendwo und zapfen einem das Blut ab wie Bier aus dem Fass.]
In solche einer Situation ist auch der Introvertierte nur menschlich und braucht etwas, das seine tiefsitzenden seelischen Schmerzen sofort und effektiv lindert. Ablenken muss es ihn auch, denn er führt Selbstgespräche, in denen er sich folgendes vorwirft:
"Wärst du doch nicht zum Friseur gegangen!"
oder
"Wenn du [aus rechtlichen Gründen mussten wir dieses Wort leider schwärzen] Ochse dich einfach besser ausgedrückt hättest!"
oder
"Ich werde einfach nie wieder zum Friseur gehen!"
Manchmal antwortet er sich auch einfach selbst:
"Ich hab's dir ja gesagt!"
Das gibt ihm den Rest und der Introvertierte bricht völlig in sich zusammen.
Jetzt ist es Zeit für lebensrettende Maßnahmen. Seelentröster, ausgebildet zu Rettungsassistenten mit psychologischer Grundausbildung. Notärzte, die mit vollem Körpereinsatz und unter Vernachlässigung aller möglichen Kosten alles geben, um den Introvertierten wieder auf die Beine zu bringen [oder zu hieven, denn er klebt quasi am Boden wie ein schwerer Betonklotz]. Die Rede ist selbstverständlich vooon - Trommelwirbel und Trompeten: Schokolade, Kuchen, Netflix, Decken und allen anderen Formen von Zucker.
Der Introvertierte schleppt sich mit all seiner verbliebenen Kraft und Selbstkontrolle in sein Hauptquartier. Dort verkriecht er sich in dem angehäuften Berg aus Kissen und Kuscheldecken seines Lieblingsplatzes. Er platziert einen Laptop auf seinem Schoß, öffnet die Chipspackung, stellt sie neben die Tafel Schokolade, kippt sich eine gesamte Flasche Lieblingsgetränk hinter die Rübe und drückt auf Play.
Von den erste Minuten wird er kaum etwas mitkriegen, da er sich noch viel zu sehr mit seinem Problem auseinander setzen muss. Er wird auf sozialen Portalen Haarschnitte, Haarfarben und hübsche Menschen suchen, um sich darüber aufzuregen, wie sehr sein Friseur die Sache doch in den Sand gesetzt hat. Danach [es vergehen etwa fünf Minuten] wird er sich wieder selbst die Schuld geben und sich denken, er hätte so ein schreckliches Aussehen verdient.
Es werden noch einige weitere Wechsel der Schuldzuschiebungen stattfinden, bevor dem Introvertierten endlich bewusst wird, dass er an der Situation ohnehin nichts mehr ändern kann. Erst dann kann der Heilungsprozess einsetzen.
Erste Anzeichen für beginnende Selbstheilung können sein: unkontrolliertes Frust-Essen, Bingewatching einer neuen Serie, Übellaunigkeit [denn das bedeutet, dass er wieder etwas empfindet] oder auch hemmungsloses Ertränken aller Zimmerbewohner [Bakterien, Flöhe, Fusel] in einem Meer aus salzigen Selbstmitleids-Tränen.
Die Heilung ist ein Prozess. Also erzwingen Sie nichts, wenn Ihr Introvertierter keine oben genannten Anzeichen zeigt. Er muss sich aus diesem Loch, alleine wieder hinaus buddeln - manche bauen da sehr komplexe Tunnelsysteme, anstatt sich einfach wieder heraus zu ziehen.
Im Prozess der Genesung wird sich dann langsam der normale Energiegewinnungsmodus wieder einstellen, den wir bereits kennengelernt haben: unkontrolliertes Essen, pausenloses Ansehen von Serien, distanzierte Laune.
Für den Anfänger mag es hier auf den ersten Blick keine sichtlichen Veränderungen geben. Mit ein bisschen Übung ist jedoch eindeutig zu erkennen, dass es sich beim Seelenheilungsprozess und beim normalen Auflademodus schlicht und einfach um den gleichen Prozess handelt [der nur mit anderen Begrifflichkeit betitelt wurde].
Geht es dem Introvertierten wieder besser, dann greift er auch wieder zu seinem Buch und schaltet die Musik an, die ihm schon den ganzen Tag durch den Kopf schwirrt. Er vertieft sich wieder in seiner eigenen Welt und ist nun offiziell kein Teil der aktuellen Gesellschaft mehr, bis er sich dazu entschließt, sein Hauptquartier wider aller Risiken zu verlassen. Die Heilung ist erfolgt.
Anwendungshinweis [bitte so lesen, als würde jemand Risiken und Nebenwirkungen eines Medikamentes aufzählen]: Beschriebenes Szenario ist auf jede andere unglücklich gelaufene Situation im Leben eines Introvertierten übertragbar und kann aufgrund von Individualität unterschiedlich stark ausfallen. Bei Fragen wenden Sie sich bitte an Ihren Arzt oder Apotheker.
Da es dem Introvertierten nun wieder besser geht, kann er sich auch wieder mit seinem Leben außerhalb seines Deckenberges beschäftigen: Er erstellt Playlists.
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