Hamsterball
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Der Anfang ist jetzt irgendwie versaut...
Man beginne einfach ganz von vorne:
An die gesamte versammelte Menschheit vor den Mobilgeräten, die alle gebannt auf die flimmernden und flackernden Seiten starren: Hiermit beginnt das revolutionärste aller revolutionären Bücher der Revolution... Nein so geht das auch nicht! Zu theatralisch. Gut noch ein Versuch:
Hamsterball.
"Was soll das denn jetzt?", mag sich der ein oder andere fragen und ja, ich habe Hamsterball gesagt. Hamsterball wie in 'kleine bunte Kugel mit einem knuffigen Hamster drin'.
Warum?
Weil es der beste Weg ist, um anderen Menschen zu erklären, wie die Welt für einen freilaufenden Introvertierten in der Wildbahn aussieht.
Der Einfachheit halber stellen wir uns auch mal den Introvertierten [aus mangelnder Motivation immer maskuline und feminine Bezeichnung zu verwenden, betrachte man alle Begriffe ab sofort als sächlich und damit als Hybrid], um den es in diesem Buch hier gehen soll, einmal als Hamster vor [positiver Nebeneffekt: Niedlichkeitsfaktor]. Dieses knuffige kleine Fellknäul sitzt jetzt in seinem Hamsterball aus alles abhaltendem Plastik und ist glücklich. Die böse Babykatze von nebenan, die durch ihre Augen alle täuscht nur ihn nicht, kann ihm hier nichts anhaben. Aus sicherheitstechnischen Gründen und aufgrund des Zwecks der Selbsterhaltung wird er daher seinen geliebten pinken Ball niemals verlassen. Niemals [aus tierschutztechnischen Gründen sei erwähnt, dass es sich hierbei um ein imaginäres Tier handelt und dies kein Vorschlag für die beste artgerechte Tierhaltung ist].
Warum jedoch hat der winzige Hamster Angst vor der Babykatze von nebenan? Lösung: das Energieprinzip. Die Katze könnte ihn bei Bedarf fressen und alle Energie wäre dahin. Tragödie wie aus Shakespeares Feder. Na gut. Ganz so drastisch ist das mit dem freilaufenden Introvertierten natürlich nicht, aber auch hier gilt das Energieprinzip. Extrovertierte Menschen unterscheiden sich nämlich von ihrem introvertierten Pendant nur durch die Art der Energiegewinnung, um es zu konkretisieren: in ihrer Energiequelle. Eine extrovertierte Persönlichkeit zieht ihr gesamtes Aktivitätspotenzial aus der Interaktion mit anderen. Menschenmassen sind kein Problem, Partys am Wochenende werden regelmäßig mitgenommen und Sprechen vor vielen gebannten Zuhörern ist kein Hindernis. Jede Form von Interaktion ist besser, als gar keine Interaktion. Small Talk, Umarmungen und häufig auftretende verbale Gefühlsbekundungen sind daher untrennbar mit ihrem Alltag verknüpft. Je weniger menschlichen Kontakt ein Extrovertierter hat, desto schlechter geht es ihm. Sperre ihn alleine für drei Tage in einen Bunker und er rollt sich zusammen wie ein Baby und ist zu keiner Aktivität mehr fähig. Langeweile würde ihn förmlich übermannen.
Aus Sicht eines Introvertierten sieht die ganze Sache aber folgendermaßen aus: Er hat Energie. Die hat er sich ganz mühevoll erlesen. Der Extrovertierte rennt mit offenen Armen auf ihn zu, nur um ihm seine wertvolle Energie zu entreißen. Daraus resultieren Verlustängste und der Überlebenswille macht sich bemerkbar. Introvertierte Menschen beziehen ihre Energie aus der Zeit mit sich selbst. Sie sitzen im Regelfall lesend in einer Ecke und sprechen mit niemandem. In Zeiten der Streamingdienste ist auch die ununterbrochene Inhalation von Serien zum beliebten Aufladeprozess geworden. Recharge mit Fiction, Horror und überdimensional niedlichen Tierbabydokumentationen. Ist man introvertiert, dann kostet jede Art von Interaktion mit Menschen Energie. Wertvolle Energie. Bei einer zu großen Zeitspanne, in der der Hamster/Introvertierte anderen Wesen ausgesetzt ist, reduziert sich sein Energielevel auf null. Das wiederum hätte konsequente Zurückgezogenheit und Verweigerung aller sozialen Tätigkeiten für mindestens die nächsten sieben Tage zur Folge. Da der Introvertierte jedoch aus einigen Ratgebern weiß, dass dies dem allgemein gültigen Anstand widerspricht, ist er besonders gut darin geworden, seine Energie zu erhalten. Evolution. Hier kommt jetzt auch endlich der Hamsterball ins Spiel, der vorab bereits Erwähnung gefunden hat.
Man sehe ihn als eine Art Panzerung. Diese kann bestehen aus: abweisendem Verhalten, erbarmungslosem Schweigen, Vermeidung jeglichen körperlichen Kontakts oder dem demonstrativen 'Mit-Etwas-Anderem-Beschäftigt-Sein'. So vermeidet er, dass ihm ein Extrovertierter mit seinen Fangarmen der Interaktion sämtliche Energie entziehen kann. Kühles, desinteressiertes Verhalten ist dementsprechend nicht [jedenfalls nicht in allen Fällen] als direkter Angriff auf die andere Person als solche zu betrachten. Es handelt sich viel mehr um einen Schutzmechanismus, der den Selbsterhaltungszweck verfolgt. Aus diesem (pinken) Hamsterball wird sich der Hamster/Introvertierte niemals entfernen lassen und auch niemals freiwillig daraus hervortreten. Dennoch ist es selbstverständlich möglich und auch ab und an einmal nötig, mit ihm zu interagieren und zu kommunizieren. Mit den richtigen Vorgehensweisen kann daraus auch eine Win-Win Beziehung entstehen. Allerdings liegt die Betonung auf dem Wort RICHTIG. Denn nur allzu oft [Um alle in Schutz zu nehmen: Das mag durchaus an der Natur der Extrovertierten liegen] geschieht es, dass es zu radikalen, rasanten und rücksichtslosen Annäherungsversuchen kommt, die den Introvertierten selbst in seinem Hamsterball erzittern lassen.
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