Geheimbasis Hauptquartier

Der geheimste aller geheimen Orte: das Zuhause des Introvertierten. Wer schon einmal die Ehre hatte bei einem eingeladen worden zu sein, der wird jetzt nicken: Jeder von uns hat seine sogenannten 'Kuschelecken'. Hier handelt es sich um Kissenberge, unordentlich auf einer Couch ausgebreitete Decken oder schlicht und einfach das Bett. Manch einer hat den Luxus, noch über eine Örtlichkeit im Freien zu verfügen (z.B. ein Baum- oder Gartenhaus oder auch eine Terrasse), um die Sonnenstrahlen, die im Sommer ab und an auftreten, nicht nur durch eine Scheibe genießen zu müssen. Das sind die Zufluchtsorte eines Introvertierten. Gefilde, in denen ihn niemand stört, in denen er für sich sein und die Batterien in den Auflademodus befördern kann. Alle Sicherheitsaspekte sind erfüllt: Wärme, Geborgenheit, Schutz nach außen.

Besonderheiten: Auffällig an den geheimsten Geheimverstecken ist, dass es sich selten um klinisch saubere Sofas oder Stühle handelt. Wenn Couch, dann mit vielen Kissen, Kuscheldecke und meistens frei herumlaufenden Büchern. An guten Tagen steht auch noch eine Flasche Wasser irgendwo und die Süßigkeitenpackung hat ihren Inhalt nicht mehr unter Kontrolle. Warum ist das so? Schlicht und einfach: Autarkie. Zumindest vorübergehend. Im Ladungsprozess will der Introvertierte durch nichts und niemanden gestört werden. Demzufolge muss sein Rückzugsort bequem sein und seine Grundbedürfnisse erfüllen. Essen, Schlafen, Langeweilebekämpfungsgerät. So wenig Bewegung wie möglich ist beim Recharge angesagt. Je nach Fortschritt des Entladungsprozesses kann das Wiederaufladen zwischen einer halben Stunde und ganzen Tagen andauern. In sehr extremen Fällen, beispielsweise nach einer Familienfeier, die sich über mehrere Tage erstreckt hat, braucht es auch mehr als schlichte vierundzwanzig Stunden. Dann bekommen Angehörige den Introvertierten teilweise Monate lang [gut leicht übertrieben, aber einige Tage sind es schon] nicht mehr zu Gesicht. Wundere dich also nicht, wenn du dir einen Introvertierten hälst und er nicht ansprechbar ist. Solange er noch atmet, gibt es keinen Grund zu extremer Beunruhigung. Anhaltende Fragerei nach dem Wohlbefinden wird die Sache nur noch weiter in die Länge ziehen. Ruhe bewahren und abwarten.

Was macht so ein Introvertierter denn aber den ganzen Tag, fragst du dich jetzt? Die Sache ist simple. Es gibt nicht viele Möglichkeiten, da Bewegung aller Art ja bereits von der 'Das-Könnte-Ich-Tun-Liste' gestrichen ist. Die am weitesten verbreitete Freizeitbeschäftigung ist das Lesen ganzer Romane. Ja tatsächlich. Es gibt sie noch: Menschen, die Bücher mit einem Umfang von 1000 plus Seiten verschlingen können. Die Sprache variiert je nach Interesse des Introvertierten stark, meistens wird jedoch in der Muttersprache gelesen. Manch ein Exemplar ist auch durchaus wählerisch, was die Inhaltsauswahl seiner Lektüre angeht. So kommen für den einen die kitschigsten aller Kitschromane auf den Speiseplan, während ein anderer eben jene für verabscheuungswürdig befindet und lieber spannende Thriller von den bestbekanntesten Bestsellerautoren unter die Lupe nimmt.

Eine weitere, recht moderne Freizeitbeschäftigung stellt das Inhalieren ganzer Serienstaffeln dar. Mit dem Aufschwung von Netflix und netflix-ähnlichen Diensten bietet sich nun die Möglichkeit, zu jeder Zeit in eine andere Welt abzutauchen. Diese Variante bietet sich besonders bei derart stark ausgeprägter Müdigkeit an, dass die Konzentration für das Verstehen von Schwerlektüre nicht mehr ausreicht. Dabei ist die Auswahl des Angebotenen gigantisch und kann den ein oder anderen Introvertierten auch ab und an einmal überfordern. Er sinkt dann resigniert in die Kissen zurück und starrt für eine Weile an die Decke, bis das Gehirn eine genaue Vorstellung von Serie für ihn erarbeitet. Hat ein Introvertierter jedoch erst einmal angefangen zu schauen, und ihm gefällt, was er sieht, dann ist es ein Ding der Unmöglichkeit, ihn vor dem Staffelfinale wieder von seinem Gerät zu trennen. Tut man es doch, könnte das stark ausgeprägte Übellaunigkeit zur Folge haben. Davon wäre also aus Gründen des Selbsterhaltungszwecks abzuraten.

Des weiteren gibt es noch die Möglichkeit, sich bei vollendeter Erschöpfung einfach nur die Playlist anzuschalten und Musik zu hören. Dabei wird meist nur aus dem Fenster gestarrt oder die Zimmerdecke genauestens inspiziert. Dieser Prozess der aktiven Passivität hält im Regelfall solange an, bis entweder die Playlist zu Ende ist und man vergessen hat auf 'Repeat' zu drücken oder aber die eigenen Batterien wieder so weit aufgeladen sind, dass man sich dazu in der Lage fühlt, etwas leicht Anspruchsvolleres zu unternehmen.

Natürlich gibt es noch andere Varianten. Malen, Zeichnen oder wildes im Zimmer Herumspringen zu sehr fragwürdigen Musiktiteln sollen auch ab und an einmal gesichtet und dokumentiert worden sein. Mir selbst ist so etwas allerdings noch nie zu Gesicht gekommen [was daran liegen könnte, dass ich mich dabei nicht im Spiegel beobachte].

Essen hingegen ist ein sehr weitläufig praktizierte Angelegenheit, wobei auch hier die Präferenzen stark variieren. Es gibt die Kaffeetrinker, Schokolade verschlingende Verschlinger, Kuchen verzehrende Genießer oder aber diejenigen, die zu allem greifen, was auch nur in Ansätzen mit Pizza zu tun hat. Natürlich sind auch hier wieder Hybriden die am häufigsten auftretende Form, sodass es schon einmal vorkommen kann, dass man einen Introvertierten mit einem Kaffe in der Hand, der Pizza auf dem Schoß, der Schokolade noch zwischen den Zähnen und dem Kuchenstückchen im Magen antrifft. In diesem Fall geht es ihm äußerst gut und der Extrovertierte, der ihn beobachtet, kann sich lobend auf die Schulter klopfen.

Doch so sicher die eigenen vier Wände auch sind, sie schützen keinesfalls vor allen Gefahren. Denn irgendwann ist es plötzlich wieder soweit: Man braucht einen Termin irgendwo oder der Anstand sagt einem, man müsse die Eltern über seinen Gesundheitszustand informieren. Dann hat es einen plötzlich eingeholt: das Telefongespräch.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top