September - Traum und Begehr

Jacob folgte einem weißen Hasen. Wie bei Alice im Wunderland. Nur dass er plötzlich bermerkte, dass Amanda der Hase war. Sie hoppelte vor ihm im Gras und hatte weiße Hasenohren auf dem Kopf. Und plötzlich rief jemand nach ihm. Die Stimme kam ihm bekannt vor. Er drehte sich um und sah Stephanie auf ihn zurennen. Sie hatte ein rotes Kleid an. Doch als sie ihn erreichte verwandelte sie sich in Else, eine Freundin aus der alten Schule. Ihre blauen Augen durchdrangen ihm und sie sah ihn hasserfüllt an. Ihre braunroten Haare wehten im Wind. "Wir haben auf dich gewartet", sagte sie und er machte sich darauf gefasst, dass sie ihn bald schlagen würde. Doch stattdessen küsste sie ihn. Verwirrt schloss er seine Augen, erwiderte den Kuss. Doch auf einmal bemerkte er, dass ihn viele Elses um ihn herum standen und alle seine Arme und Beine umschlangen und ihn tief nach unten zerren drohten. Und vor seinen Augen hoppelte sie. Amanda. Sie zeigte auf ihre Taschenuhr und murmelte etwas von Zuspätkommen. Dann hoppelte sie weiter, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen...

Jacob schrak hoch. Er atmete unregelmäßig. Er war eingeschlafen. Im Hintergrund hörte er aber noch das selbe Album wie vorher, also hatte er maximal zwanzig Minuten geschlafen. Langsam beruhigte er sich. Er lag auf seinem Bett. Den Kopf auf seinem Kissen etwas höher gestützt und auf seinem Bauch sein Laptop. Er war also so müde gewesen...

Jacob befühlte seine Wange. Der Kratzer blutete schon längst nicht mehr, aber es fühlte sich noch frisch an.
Es war nicht das erste Mal gewesen, dass seine psychisch unzurechnungsfähige Mutter mit Geschirr nach ihm geworfen hatte. Früher war es so schlimm gewesen, dass sie einige Monate mit Papptellern essen mussten. Jacob hatte nichts gegen Pappteller. Damit konnte man sich immerhin nicht verletzen. Das war alles vor der Diagnose. Damals war er erst elf gewesen. Damals dachte er noch, dass er schuld war. Doch das war dem nicht. Als er zwölf war bekam seine Mutter die Diagnose. Paranoide Zwangsneurosen. Zwischendurch gab es auch Vermutungen, dass sie eine bipolare Störung hätte, aber das konnte nicht bestätigt werden. Sie ging in Behandlung, um ihr Sorgerecht zu behalten. Eine Zeit lang wuchs Jacob bei seiner Tante auf. Dann schließlich durfte er wieder zu seiner Mutter. Sie hatte sich gebessert. Hatte Fortschritte gemacht und nahm Medikamente. Doch das änderte sich schlagartig an einem Tag. Der Tag lag nicht sehr lange in der Vergangenheit, aber es war seitdem einfach genauso wie früher.
Solange Jacob genau das machte, was sie von ihm verlangte war alles gut. Sollte er auch nur ejn wenig davon abweichen, rastete sie aus und verletzte entweder ihn oder sich selbst.
Doch Jacob verspürte keinen Hass auf seine Mutter. Sie war krank. Wenn sie es nur erkennen würde, würde sie wieder mit der Therapie anfangen. Und wieder ihre Medikamente nehmen. Und wenn es auch nur Johanniskraut war, das sie schluckte. Solange es auch nur im Ansatz half war es ihm recht.

Und doch konnte er nicht vernünftig mit ihr reden. Die Kratzer an seiner Wange bestätigten das. Sie hatte sich schluchzend entschuldigt. Auf Knien gebettelt, dass sie ihm verzieh. Doch so einfach ging es nicht. Er war ihr nicht böse, aber er hatte seinen Respekt vor ihr verloren. Es war ein paradoxes Gefühl. Seine Mutter zu lieben und gleichzeitig zu hassen.

Jacob lehnte sich nach hinten. Aus seiner Anlage kam Musik von Rise Against. Er hatte seinen Laptop auf seinen Schoß drappiert und war gerade auf tumblr und Facebook unterwegs. Er klickte ein wenig rum, stalkte seine Facebook-Freunde. Von der neuen Schule hatte er bereits einige geaddet. Und darunter Amanda. Ihr Profilfoto zeigte sie mit einem schwarzen Labrador. Nach den Kommentaren zu urteilen handelte es sich um ihren verstorbenen Hund namens Pelle. Ihr Titelbild war ein Bild mit ihren Freundinnen. Alle strahlten in die Kamera. In der Mitte Amanda, die ihre Arme um Laurin und Clara hatte. Um die drei herum standen Sophie, Mina und Alice. Ob Amanda noch länger dieses Bild behalten würde, nachdem sie das mit Clara und Thorben wusste? Ihre Posts waren so typisch Mädchen. Sprüche, Memes und spotify-Lieder zierten die Chronik. Und sie ging in Hogwarts zur Schule. Jacob grinste. Irgendwie war das knuffig. Er ging wieder auf seine Seite zurück. Animebilder sprangen ihm ins Gesicht. Als Titelbild hatte er Charaktere aus der Serie Mirai Nikki. Sein Profil zeigte ihn, aber es war eher eine Silhouette. Eine Freundin von der alten Schule hatte das Bild geschossen. Die, von der er geträumt hatte. Er sah, dass genau diese Freundin ihm gerade etwas auf die Chronik gepostet hatte.

Else Peltz:
We miss u! ♡

Darunter war ein Bild von ihr, wie sie ihren Arm um einen sehr düster blickenden schmächtigen blonden Jungen mit Brille gelegt hatte. Uli, sein damaliger bester Freund. Offenbar war er noch sauer auf ihn wegen dem Wechsel. Jacob seufzte. Aber viellicht konnte er das noch gerade biegen, wenn er ihn einmal anrief? Immerhin war Else nicht sauer auf ihn. Else war Ulis Schwester. Ihre neu gefärbten roten Haare erinnerten sie irgendwie an Stephanie. Wahrscheinlich war ihm Stephanie so sympathisch, weil sie ihn an Else erinnerte. Lustig, dass er gerade davor von beiden geträumt hatte. Und dann auch noch so ein komischer Traum. Er wurde rot. Im Traum hatte er Else geküsst. Es war... nicht schlecht gewesen, wenn auch ziemlich gruselig. Er hatte sich nie viele Gedanken über sein Liebesleben gemacht. Wäre er weiter auf die Schule mit ihr gegangen, viellecht... vielleicht! wäre daraus mehr als nur Freundschaft geworden. Doch die Umstände hatten sich geändert.

Jacob likete das Bild und zögerte. Er wollte etwas schreiben, aber er wusste nicht was. Er grübelte fast eine Stunde, bis er schließlich einen Kommentar verfasste.

Jacob Funk:
Miss u too ♥

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Als Vorsitzende der TheaterAG war es Claras Pflicht sich die Vorschläge für neue Stücke zu überprüfen. Jedes Jahr hatten sie eine große Aufführung. Das Auswahlkriterium verlief folgendermaßen. Jeder, der eine Idee hatte schrieb sie auf einen Zettel und gab sie Clara. Gab es irgendwelche Quatschvorschläge wurden sie sofort abgelehnt. Dann wurde der Rest an Frau Roth weitergegeben, die die AG leitete und wenn sie ihr Okay gab konnten die Stammmitglieder darüber abstimmen.
Stammmitglieder waren diejenigen, sie fest dabei waren. Im Gegensatz zu den Helfern, die nur mal schnuppern und kleinere Rollen oder Aufgaben erledigten. Die AG bestand aus zehn festen Mitgliedern, was schon eine ziemlich große Truppe war. Leute, die Darstellendes Spiel (DS) in der Oberstufe belegten, waren auch noch mal zusätzlich dabei.

Letztes Jahr hatten sie Romeo und Julia aufgeführt und es war ein voller Erfolg. Clara war sehr stolz auf diese Leistung. Sie liebte es, in fremde Rollen zu schlüpfen und sie zu spielen. Figuren lebendig zu machen. Auf ihre eigene Art und Weise.

Clara sah sich den Stapel an. Alle Schüler durften im TheaterAG-Postfach Vorschläge machen. Dies führte natürlich auch zu viel Blödsinn. Eine Aufführung von "Schneeflittchen" war außer Frage. Neben fünf solcher Mistvorschläge kamen dann auch die normalen Vorschläge. Alice im Wunderland, Sherlock Holmes, Faust... klang alles irgendwie machbar, auch wenn man teilweise neue Drehbücher schreiben müsste. Clara sortierte die Haufen. Es war mittlerweile viertel nach vier. Nur noch schnell alles aufräumen und dann hatte sie alles.

Die TheaterAG war wie eine zweite Heimat für sie. Sie liebte das Schauspielen. Auf der Bühne war sie selbstsicherer als sonst. Konnte sich fallen lassen und einfach wer anders sein. Wer anders, als Clara, das Flittchen, dachte sie etwas bitter.

Erinnerungen an die Party wurden wach. Sie schob diese wieder weg. Es tat weh. Es tat mehr weh, als sie erwartet hatte. Mit jemanden zu schlafen, den man mehr begehrte, als alles andere. Mit jemanden zu schlafen, von dem sie wusste, es würde niemals wahr werden. Denn sie wusste, dass er sie nicht liebte. Und sie wusste doch, dass er jemand anderen liebte. Erinnerungen wurden in ihr wach, an eine Nacht vor etwas längerer Zeit.

Sommerferien. Sie hatten es getan. Sie hatte es nicht fassen können. Es fühlte sich so richtig an, ihre Haut schien bei jeder Berührung Feuer zu fangen. So leidenschaftlich und gefährlich zugleich. Ihre Küsse waren voller Begierde und Lust gewesen, als gäbe es nichts anderes auf der Welt. Es war, als würden sie fliegen. Fliegen, in den Himmel hinauf, bevor es zurück in die Hölle ging. Glück und Schmerz zugleich, der sich in ihrer Brust stechend bemerkbar machte. Sie waren bei ihm zu Hause gewesen. Er hatte sturmfrei gehabt. Und sie hatte keinen Überblick mehr über die Zeit gehabt. Clara hatte sich so komplett gefühlt, wie noch nie. Es war so ein unbeschreibliches Gefühl gewesen. Sie hatte sich gewünscht, dass es ihr erstes Mal gewesen wäre. Doch dem war nicht mehr so. Dennoch fühlte es sich so an, wie sie sich ihr erstes Mal immer gewünscht hatte. Leidenschaftlich, aneinander herantastend, immer mehr erkundend. So, als würde sie geliebt werden. So, als würde es nichts anderes mehr geben. Dieses Gefühl war Clara so wichtig geworden, dass sie danach so verzweifelt wieder danach gesucht hatte, nur, dass es ihr danach immer wieder verwehrt wurde. Und nachdem die zwei erschöpft auf den Laken gelegen hatten, wussten sie beide, dass etwas sich verändert hatte. Dass etwas gestorben war, ohne dass es je existiert hatte. Dass die Bindung der zwei zu sehr zerstört hatte, um jemals von vorne anzufangen. Und als Clara es realisiert hatte, hatte sie auch etwas anderes realisiert.

Clara war verliebt. Und von dem Moment an, als sie es anfing zu spüren, versuchte sie ihr Bestes, es zu unterdrücken und nach und nach von sich abzutrennen. Sie versuchte alles, was nur in ihrer Macht stand, um dieses Gefühl aus ihrem Herz heraus zu reißen, egal ob sie dabei verbluten könnte.
Nur dieses eine einzige Mal mit ihm, letzten Sommer. Nur dieses Mal hatte ihr etwas bedeutet. Nun war es nichts. Sie hatte es zerstört. Er liebte sie nicht. Er hatte sie nie geliebt. Er wusste nicht, dass sie ihn liebte. Er wusste gar nichts über sie. Und er tat genau das, was sie von ihm wollte. Er zerriss ihr das Herz, mit jedem Mal, wenn sie miteinander schliefen. Er spuckte auf ihr Herz, als er anfing statt ihren Namen zu stöhnen, einen anderen verwendete. Er schlug ihr in die Magengrube, jedes Mal, wenn er ihr erzählte, dass er verliebt in dieses eine Mädchen war, das er nie bekommen würde. Und sie erstoch sich jedes Mal selbst, indem sie darüber lachte und ihm an die Wäsche ging.

Und all das nur in der Hoffnung irgendwann einmal anders zu fühlen.

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