Schmerz
0.30h
Jacob fand den Zettel. Er war im Badezimmer, zerknüllt neben dem Papierkorb. Er nahm ihn mit. Und als er aus der Toilette ging sah er eine bekannte Gestalt die Treppe hochhuschen. Normalerweise würde er nicht stören. Normalerweise würde er nicht hinterher gehen. Doch es gab etwas, das sein Verhalten dementsprechend ändern ließ. Er sah sie weinen. Etwas schien passiert gewesen zu sein. Er lief hoch. Ihr hinterher. Er wollte nicht stören, aber... aber...
Sie schien vor einer Tür zu zögern, dann ging sie den Gang weiter nach hinten und kramte aus ihrem Kleid an einer Seite einen Schlüssel heraus. Sie öffnete die Tür und ging herein. Sie schien ihn nicht bemerkt zu haben, sie beachtete ihn nicht. Schnell lief er zu dem Zimmer und klopfte kurz an. Keine Antwort. Sollte er es wagen? Sollte er nachsehen? Sollte er das Risiko aufnehmen, in ihre Privatsphäre einzudringen, die sie vielleicht zu bewahren versuchte? Behutsam öffnete er die Tür, aus eine Art inneren Drang heraus, dass er nachsehen musste. Dass er sie nicht einfach so im Stich lassen durfte.
Er sah sie. Sie saß mit dem Rücken zu ihm auf dem Doppelbett und starrte durch das Fenster in die Nacht heraus. Er hörte sie schluchzen und weinen. Das schwache Licht der Nachttischlampe beschien alles matt. Ohne groß darüber nachzudenken, ging Jacob auf sie zu und schloss sie in seine Arme. Zuerst versteifte sie sich und er dachte daran, einen Rückzieher zu machen, doch stattdessen zog sie ihn dicht an sich und ließ ihren Tränen seinen Lauf.
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0.26h
"Nimmst du Papier mit?" - "Jaja!", rief ich den Besoffenen zu. Zugegeben, ich war auch nicht mehr sehr nüchtern. Ich fühlte mich ziemlich schummrig und meine Schritte waren tapsiger als sonst. Im Garten waren Leute auf die grandiose Idee gekommen, Wer-Bin-Ich? Zu spielen. Ein Spiel, wo man von jemand anderem eine Person ausgedacht bekommt und dann erraten soll, wer man ist. Deswegen, war ich ins Haus gegangen und wollte oben etwas holen. Ich holte die Zettel und Stift von meinem Zimmer und ging nach unten in Richtung Toilette. Und dann sah ich es.
Ich sah nicht viel, aber die Tür war eine Spalt breit offen und es reichte, um zu erkennen wer da drin war und was sie machten.
Ich hörte sie.
Ich sah sie.
Ich sah Thorbens nackten muskulösen Rücken und seinen Hinterkopf. Ich hatte ihm nach dem Training schon mal oberkörperfrei gesehen, also war ich mir sicher, dass er das war. Er war komplett nackt und ich konnte... fast zu viel sehen. Nein. Nein... nein. Nein.
Ich starrte auf ihn. Fühlte den Schmerz. Als wäre in mir etwas in tausend Teile zersplittert. Ich sah ihn beim ficken und es tat verdammt weh. Es tat mehr weh, als alles, was ich bisher erlebt hatte. Wie ein Messer schnitt es ein. Ließ mich ausbluten. Ich fühlte mich so machtlos. So dumm. So naiv. Ich hätte mir nicht unnötig Hoffnungen machen sollen nach einem oder mehreren Tänzen. Ich hätte nicht gedacht, dass er der Typ für sowas wäre. Einfach Sex auf einer Party zu haben... meiner Party.
Ich wollte das nicht sehen, wollte gehen, doch ich war wie festgewachsen. Ich zitterte und konnte mich nicht rühren. Mein Hals war so trocken. Ich fühlte mich so leer. Ein Teil von mir wollte hineinstürmen, sie anschreien, ihm entgegen schreien, was ich für ihn empfand und wie sehr er mich verletzte. Ein Teil von mir wollte ihn rausschmeißen, ihn treten. Meine Kickboxfähigkeiten zunutze machen. Und mit der Schlampe, mit der er schlief hätte ich auch eine Rechnung offen gehabt. Wie hatten sie überhaupt den Schlüssel für das Gästezimmer? Oder hatte ich es nicht zugeschlossen?
Mir war die Antwort fast egal, ich war... zu verletzt, zu wütend, zu fassungslos, zu schockiert um anständig zu denken. Ich war kurz davor, einfach die Tür aufzustoßen und rein zu stürmen. Doch stattdessen stand ich da. Unfähig, mich zu bewegen. Stattdessen zitterte ich, währen stumm meine warmen Tränen über meine Wangen liefen.
Mein Blick fiel auf ihren Fuß. Sie hatte ihre Beine um seine Hüften geschlungen und ließ sich einfach vögeln. Es glitzerte und erzeugte eine Art metallisches Rascheln. Und als ich mich zwang, genauer hinzusehen kam noch ein stärkeres Gefühl in meiner Brust auf, größer als jeglicher Schmerz, den ich zuvor hatte. Verrat.
Es war das Fußkettchen. Mit kleinen Anhängern. Ein vierblättriges Kleeblatt, ein Schmeterling und Rosen. Ich erkannte es wieder. Ich hatte es ihr geschenkt.
Clara.
Ich hörte ihr leises Stöhnen. Sein leichtes Keuchen. Ich sah...
Mir wurde schlecht. Ich stolperte zurück. Ich machte die Tür zu. Reflex und lief zum Klo. Schloss schnell ab und setzte mich auf den Klodeckel. Ich wollte heulen. Schreien. Alles aus mir heraus sprudeln lassen. Ich hielt meine Zettel noch in der Hand. Halb zerknüllt. Und meinen Kugelschreiber. Ich schrieb. Schrieb, was mir als erstes in den Sinn kam. Schlampe, Schlampe, Schlampe, dröhnte es ständig in meinen Ohrenschmerzen Und dann... ich wusste es nicht mehr so richtig. Ich wusste nicht mehr, ob ich dabei schrie oder nur stumm heulte.
Ich war hochgegangen, wollte in mein Zimmer, doch mir fiel ein, dass Alice dort schlief. Ich wollte sie nicht wecken. Also ging ich ins Elternschlafzimmer. Den Schlüssel fummelte ich aus meinem BH. Es war derselbe Schlüssel wie von meinem Schlafzimmer. Ich saß. Starrte in die Nacht hinein. Geistesabwesend hatte ich das Licht angemacht. Das kleine auf dem Nachttisch. Ich fühlte mich elend. Ich weinte. Schluchzte. Hätte ich vielleicht doch Alice wecken sollen und ihr alles erzählen sollen? Ich fühlte mich einsam. Ich brauchte jemanden. Irgendjemanden. Es war mir egal.
Und dann war er da. Irgendjemand. Er nahm mich in den Arm und hielt mich fest. Ich heulte in seinen Armen. Ich fühlte mich so geborgen. Seltsam vertraut. Dabei wusste ich nicht, wer das war. Ich schluchzte zu viel und zu sehr verschwamm meine Sicht vor mir. Nach einer Weile sah ich dann doch hoch und ihm ins Gesicht. Jacob.
0.50h
Unten hatte sich ein größerer Kreis auf dem Rasen gebildet. Einige waren schon nach Hause gegangen. Ungefähr fünfzehn Leute waren noch draußen. Im Zelt lief keine Musik mehr, nur vom Haus dudelte leise noch etwas Musik. Einige rauchten, einzelne kifften. André saß neben Mina und hatte seinen Arm um sie gelegt. In der anderen Hand hielt er seine Zigarette. Sophie saß neben Mina und rupfte gedankenverloren Gras. Ihr Freund war nicht da. Sie hatte ihn zwar eingeladen, aber er hatte "keine Zeit". Sie schnaubte bei dem Gedanken. Aber es war okay. Es war ja nicht so, als wäre sie wichtig gewesen oder so.
"Also... Mandy nimmt sich echt voll viel Zeit für Papier holen", sagte Laurin und zog an ihrem Joint. Sie wirkte irgendwie ziemlich entspannt dabei. "Du meinst: Amanda lässt sich ganz schön viel Zeit, um Papier zu holen", verbesserte Lara aus der b-Klasse kichernd. Sie wirkte auch bekifft. Sophie seufzte. "Sie ist wahrscheinlich nur zu besoffen", vermutete sie. Laurin bekam einen Lachanfall. "Sie? Und besoffen? Mandy wird nicht besoffen!" Sophie verdrehte die Augen. Sie hatte gesehen, was Amanda so getrunken hatte und sie war garantiert mindestens angetrunken gewesen. Laurin kriegte sich neben ihr kaum mehr ein. Wurde sie immer so albern, wenn sie kiffte? Laurin hatte eigentlich immer gesagt, dass Gras nichts mit ihr anstellte. Typischer Fall von Selbstüberschätzung. Sophie schnorrte sich eine Zigarette und steckte sie sich an. Sie nahm einen tiefen Zug und bließ den Rauch in die Abendluft. Eigentlich rauchte Sophie nicht, aber ihr war gerade danach. Der Rauch biss in ihrer Kehle. Irgendwie war sie angefressen. Müde. "Wo ist eigentlich Clara?", fragte Sophie, ohne, dass es sie so sehr interessierte. Mina zuckte mit den Achseln. Alex runzelte die Stirn und schien kurz etwas sagen zu wollen. Doch er hielt die Klappe. Sophie nahm noch einen Zug und blickte auf ihr Handy in der Hand. Olivier hatte nicht geschrieben. Das wäre das Mindeste gewesen. Laurin hatte sich doch von ihrem Lachanfall erholt und lehnte sich an Sophie. "Willste?" Sie bot ihr ihren Joint an. Sophie schüttelte den Kopf. "Lass stecken, Barbie", sagte sie. Nur Sophie nannte Laurin manchmal Barbie. Den Grund wussten sie beide nicht mehr wirklich. Laurin grinste selig. "Alles okay, Sophie-Soph-Soph?"
"Schon gut", murmelte Sophie nur. Laurin kicherte und legte sich auf den Rücken. Sophie betrachtete das Geschehen.
In der Schule wären sie alle nicht so vertraut. Klar war man nett und traf sich auch privat, aber eine Hausparty schweißte schon ziemlich zusammen irgendwie. Und es war beinahe eine Art Statement. Welche Cliquen gut miteinander konnten und welche nicht.
Und welche eben nicht dazu gehörten. Sophie befeuchtete ihre Lippen und verschob den Gedanken an eine Begebenheit von vor einigen Stunden.
Sie sah Laurin nachdenklich an. Auch wenn sie sich nie sagten, dass sie eine Anführerin hätten, war Laurin am ehesten diejenige. Sie hatte ihren Kopf und bestimmte einfach. Eine Königin. Doch das konnte sie nur, weil keine der anderen je Lust gehabt hätten, zu bestimmen. Sophie seufzte. Vielleicht, wenn sie sich anstrengte, vielleicht war sie irgendwann wichtig genug, zu bestimmen. Clara kam aus dem Haus. Da fiel Sophie auf, dass sie Clara auf der Party kaum gesehen hatte. Mina wirkte ziemlich überrascht aus irgendeinem Grund. "Hey Leuts!", rief Clara fröhlich und setzte sich auf den Boden zwischen Sophie und Laurin. Sophie betrachtete sie schweigend. Sie sah aus, als hätte sie sich gerade frisch gemacht. Neuen Lipgloss aufgetragen und nochmal Kayal nachgezogen. Sie trug ihre Haare offen. Seltsam. Aber Sophie dachte sich nichts weiter dabei. Mina schien Clara von oben nach unten zu betrachten. Irgendwie benahm sie sich in letzter Zeit anders als sonst.
Aber was wusste Sophie schon. Mina kuschelte immerhin ihrem André... wenn Oliver nur da wäre!
"Wo ist eigentlich Thorben, der Sack?", fragte Alex nuschelnd. Er steckte sich gerade eine Zigarette an. Clara zuckte mit den Achseln. "Und wo warst du eigentlich, Clara?", fragte Sophie. Clara fuhr sich durch die Haare. "Frisch machen", sagte sie, "und ich habe Alice kurz besucht. Hat aber gepennt." Sophie wollte noch etwas sagen, doch dann rief jemand irgendetwas heraus. Und sie vergaß, sich näher zu erkundigen.
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