Oktober - Ketten
"War das Thorben?", fragte Jacob überflüssigerweise, als ich auflegte. Ich grinste wie ein bescheuertes Honigkuchenpferd. Ich nickte. Er erhob sich vom Bett und sah mich prüfend an. "Er will dich treffen?"
"Er hat einen Schal im Verein gefunden und dachte das könnte meiner sein und er wollte sowieso in die Nähe und dann können wir uns sehen und wir haben schon länger nicht geredet!", plapperte ich in einem rasenden Tempo hinunter, während ich von einem auf das andere Bein hüpfte. Er verdrehte kurz die Augen, lachte aber. "Super. Und wann kommt er her?" Ich meinte in seiner Stimme einen leichten Hauch von Ironie zu spüren, doch ich ignorierte es. "In einer Stunde", platzte ich heraus. Ich redete viel schneller als sonst. Okay, offensichtlich hatte es mich immer noch voll erwischt. Doch ich war von uns zweien offenbar die einzige, die sich wirklich freuen konnte. Skeptisch betrachtete er mich und setzte sich. "Hmm... sicher, dass das eine gute Idee ist?", fragte er, "ich meine... er war nicht besonders sorgsam oder so..." - "Naja, er hatte ja auch keinen Grund dazu oder? Es ist nicht so, als wären wir zusammen." Jacob zuckte hilflos die Schultern. Er schien mit meiner Laune etwas überfordert zu sein, nachdem ich eigentlich sauer und verletzt von Thorbens Verhalten war. Doch mir war es egal. Denn ich wollte irgendwie zurück. Zurück in die Zeit, bevor die Sache mit Clara war. Ich wollte alles irgendwie vergessen und einfach nur die Hoffnung haben, dass er sich doch für mich interessierte. Dass ich ihm mehr bedeutete als nur eine Freundin. Ich war nicht sicher, ob es mich blind machte, ob es klug war, aber ich wusste, dass mein Herz sich schon entschieden hatte und meinen Kopf einfach ausgeschaltet hatte.
"Deine Euphorie macht mir Angst", sprach Jacob seinen Zweifel an, doch packte seine Sachen. Ich sah ihn schief an. "Och komm schon! Vertrau mir! Ich... vergesse nicht alles!", rief ich und packte seine Hand. Ich quiekte und wippte auf und ab. Er zog eine Augenbraue hoch. Doch er schien zu ahnen dass es nutzlos war. Ich hatte mich entschieden und so würde es sein. "Lass uns am Montag den Rest machen", sagte er resigniert und meinte mit dem Satz unser Referat. Ich nickte eifrig. "Aber wenn er dich zum weinen bringt sehe ich mich gezwungen, ihm eine reinzuhauen", drohte er mit einem brüderlichen Blick. Ich lachte und knuffte ihn. "Hau schon ab", sagte ich scherzhaft, "wir sehen uns Montag!" - "Tschö!" Er nahm seine Sachen und winkte mir noch zum Abschied. Ich hätte ihn mit einer Umarmung wahrscheinlich eher zerdrückt. Als er weg war suchte ich mir aufgeregt etwas aus meinem Kleiderschrank aus. Es war natürlich einfach nur mädchenhaft, dass ich nun an Klamotten dachte und hoffte besonders süß auszusehen. Schließlich kannte er mich auch in meinen nicht so schönen Sportklamotten. Dennoch fand ich einfach nur eine Jeans und ein T-Shirt irgendwie langweilig. Ich zog mir eine dunkelblaue Bluse an, dazu einen Wollrock, den ich eher selten anhatte. Meine neuen schwarzen Strümpfe ohne Laufmaschen und Löcher kamen auch zum Einsatz. Ich gefiel mir in dem Outfit. Ich würde darüber meinen braunen Parka anziehen und einen roten Barett. Ich suchte mir auch Schmuck aus und meine Finger berührten schließlich die Kette, die er mir geschenkt hatte. Ich hatte sie kein einziges Mal getragen. Ich hatte es mir öfter überlegt, da ich den Anhänger wirklich schön fand, aber irgendwie war es nie dazu gekommen. Und dieses Mal... fühlte ich mich nicht bereit dafür. Meine Finger schoben den kalten Metall beiseite und ich nahm stattdessen einfach eine lange lederne Kette mit einem Elefanten aus Jade, welches mir meine Tante einmal geschenkt hatte.
Es war viertel vor sechs und ich stand in voller Montur in meinem Zimmer. Selbst meine warmen Stiefel hatte ich mir bereits angezogen. Ich sah auf mein Handy und schrieb ihm, dass wir doch ein wenig spazieren gehen sollten. Ich war ohnehin zu unruhig und zu hibbelig. Außerdem konnte ich gut noch ein wenig frische Luft vertragen. Ich beschloss ihm entgegen zu gehen und ging deshalb direkt nach draußen. Die Luft war kühl und eine kalte Briese sagte mir, dass es endlich Herbst war. Es regnete nicht, es war schon etwas dunkel. Irgendwie konnte ich verstehen, warum Menschen im Herbst so schlecht drauf waren. Wenn es so früh schon düster wurde hatte man irgendwie das Gefühl, dass die Dunkelheit schneller hinter einem lauern konnte als sonst.
Ich ging nur zur Kreuzung in der Richtung der Bushaltestelle. Und lange warten brauchte ich wirklich auch nicht, denn schon schnell sah ich seine blonden verwuschelten Haare. Seine Hände hatte er in seiner grauen Jacke tief eingegraben. Er trug lässig eine Sporttasche. Und diese Augen... seine Augen brachten mir nicht unwesentlich zum Schmelzen.
"Hey", rief ich fröhlich. Er lächelte. "Hey." Wir umarmten uns kurz. Er packte den Schal aus seiner Tasche. Er kam mir durchaus bekannt vor. Ein Wollschal, eigentlich etwas zu warm für die Jahreszeit, aber eindeutig mein Schal. "Ist das deiner?" Ich nickte nur und er wickelte den Schal um meinen Hals, bevor ich noch reagieren konnte. Ich wurde rot und wusste nicht, was ich sagen soll. Deshalb blieb ich einfach angewurzelt stehen. "Also... ich weiß ja nicht, wohin du später willst...", murmelte ich schüchtern, doch er lächelte nur. "Eigentlich... war das gelogen", sagte er, "ich wollte einfach nur ein wenig mit dir reden. Ich hoffe das ist okay."
Meine Hormone tanzten Tango, mein Blut pumpte zur Feier des Tages extra viel in mein Gesicht und meine Muskeln zitterten, als hätte ich einfach zu viel Kaffee getrunken. Oder als wäre mir kalt. Oder als hätte ich einen epileptischen Anfall. Okay, das letztere war etwas zu makaber, aber das war mir in dem Moment egal. Ich brachte nur ein Nicken zustande und deutete irgendwo mit dem Kopf, sodass wir uns in diese Richtung begaben. Wir liefen eine Weile ohne etwas zu sagen, bis ich schließlich meine kratzige Stimme bemühen konnte. "Ähm... worüber wolltest du mit mir reden?", fragte ich. Wir waren schließlich an einer Wiese angelangt, wo normalerweise die Kinder Fußball spielten und die Hundebesitzer mit ihren Hunden Gassi gingen. Er deutete auf eine nahegelegene Bank, die zum Glück trocken war. Wir setzten uns. "Ich wollte eigentlich fragen... ob mit dir alles okay ist. In der letzten Zeit haben wir nicht viel geredet und irgendwie kommt es mir so vor, als würden wir uns irgendwie ausweichen."
Oh. Mist. Ich versuchte, meine Kräfte vom Rotwerden in Denken umzuwandeln, was allerdings nur mäßig gut klappte. Ich überlegte mir einige Antworten, doch am Ende entschied ich mich für die Wahrheit. "Also... ehm... ehrlich gesagt... also ich", stotterte ich, "und... es ist einfach... etwas... naja... also... ich weiß von deinem One-Night-Stand mit Clara." Er starrte mich überrascht an, schockiert. "Wo..woher?", fragte er. Ich wich seinem Blick aus. "Ich... ich hab euch gesehen auf der Party. Und... naja ich wusste danach nicht, wie ich darauf reagieren sollte." Jup, das kam hin. So konnte man es ausdrücken. Kurz schwieg er. Es wurde eine unangenehme Stille. Er schien ebenfalls nicht zu wissen, was er sagen sollte. Die Distanz zwischen uns fasste nur vielleicht zwanzig Zentimeter, doch fühlte sie sich wie zwanzig Meter an. Ich seufzte leise. "Hör mal... es ist okay, Clara hat mir erklärt, dass sonst nichts bei euch läuft, als das eine Mal. Also... nicht dass mich das etwas angehen würde..." - "Das hat sie gesagt?", fragte er. Endlich sahen wir uns wieder an. Ich nickte. Er stutzte und nickte schließlich auch. "Okay", sagte er, "ja, ich war ziemlich betrunken." Ich biss mir auf die Unterlippe. Irgendwie versetzte es mir einen Stich. Ich wollte noch etwas sagen, doch dann klingelte mein Handy. "Entschuldige... ich..." - "Nimm ruhig ab", beschwichtigte er.
Ich drückte auf den grünen Hörer. "Hallo Mama?", sagte ich. Meine Mutter war wohl gerade nach Hause gekommen. "Amanda, wo bist du? Ich bin heute doch früher da, also habe ich uns etwas zu essen mitgenommen... ehrlich gesagt etwas viel Essen... Ich dachte nicht, dass der Asiate um die Ecke so riesige Portionen macht." Ich lachte. Das war so typisch meine Mutter. "Ich bin kurz raus, treffe mich mit einem Freund", antwortete ich. "Nimm ihn mit!", rief sie, "wir bekommen das heute sonst nie aufgegessen und du weißt ja, dass dein Vater sowas nicht so mag." "Isst er heute nicht zu Hause?", fragte ich. Ich hörte meine Mutter kurz durchatmen. "Nein, er hat ein spontanes Essen mit einem Kollegen", antwortete sie, "also... bis gleich, nimm deinen Freund am besten mit, tschüss!" "Er ist nicht mein...", rief ich noch, doch da hatte sie schon aufgelegt. Ich seufzte. "Magst du asiatisches Essen?", fragte ich Thorben, "meine Mutter lädt dich ein." Er blinzelte überrascht. "Echt? Also ich..." "Sie bestand fast förmlich darauf. Also falls du nichts zu tun hast..." Ich merkte selber, wie rot ich dabei wurde, doch immerhin wirkte meine Stimme fester und weniger zittrig wurde. Er lächelte dankbar. "Okay, ehm... danke. Ich schreib kurz nach Hause."
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Thorben hatte Amandas Eltern vielleicht ein oder zwei Mal in der Schule getroffen. Doch viel hatte er nie mit ihnen geredet. Er fand es sehr nett, zum Essen eingeladen zu werden und fand es außerdem schön, sich noch etwas mehr mit Amanda unterhalten zu können. Frau Brandt sah genau so aus, wie Thorben es in Erinnerung hatte. Schlank, dunkelblond und auffallende grüne Augen. Man konnte meinen, dass Amanda im Aussehen eher wie ihr Vater war, mit ihren dunkelbraunen Haaren und braunen Augen, doch man sah an der Kopfform ihrer Mutter deutlich die Familienähnlichkeit. Frau Brandt wirkte wirklich sehr jung, doch Thorben wusste durch Amanda, dass sie eigentlich älter war. Amandas Mutter hatte den Tisch gedeckt, als die zwei ankamen. Und es war wirklich recht viel. Gebratene Teigtaschen, Nudeln, ein wenig Ente und natürlich Reis... Es sah alles echt nicht schlecht aus. "Hallo Frau Brandt", begrüßte Thorben Amandas Mutter und schüttelte ihr die Hand, "Ich bin Thorben." Sie sah ihn prüfend an und grinste. "Ich hätte nie gedacht, dass meine Tochter so einen gutaussehenden Freund mit nach Hause nehmen würde." "Ma!", rief Amanda empört. Ihr Gesicht war leuchtend rot und Thorben lachte. Irgendwie war das süß. "Wir sind nicht zusammen", stellte er klar und lächelte. Amanda tippte verlegen an Thorbens Seite und bat ihm einen Stuhl an, während sie sich daneben setzte.
Das Essen verlief ganz gut, es war eine recht lockere Atmosphäre und die Gerichte schmeckten gut. Thorben fand Frau Brandt recht sympathisch. Sie war eine herzliche Mutter mit Sinn für Humor. Sie zog Amanda damit auf, dass sie immer noch nicht mit Stäbchen umgehen konnte, was Thorben schließlich am Ende mit ihr übte. Amanda schien von allem peinlich berührt zu sein und er konnte es ihr nicht verübeln, doch sie war einfach viel zu niedlich, wenn sie so verlegen war.
Schließlich stellten sie das schmutzige Geschirr in die Geschirrspülmaschine und gingen danach noch nach oben in Amandas Zimmer. Es war ein ziemlich normales schönes Jugendzimmer. Mit einem recht hohem Schrank und einem breiten Bett. Auf dem Schreibtisch lagen noch einige Schulsachen unordentlich herum und ihr Laptop war aufgeklappt. Insgesamt war es aber recht ordentlich. Auf der Wand war eine Collage aus Fotos von Freunden und einigen Schauspielern. Thorben betrachtete sich die Collage. Glücklich lächelten Amanda, Laurin und Clara in die Camera, damals allesamt erst in der fünften Klasse. Dann war da noch ein Foto von der letzten Klassenfahrt am Meer, wo sie und ihre Freundinnen zeitgleich hochsprangen. Thorben erinnerte sich, dass Alex das Foto gemacht hatte. Amanda stand neben ihm und sah ihn amüsiert an. "Gefällt dir meine Collage?", fragte sie. Er lächelte. "Klar." Sein Blick schweifte weiter in den Raum und er sah so einen Schmuckbaum, den viele Mädchen hatten. Daran hingen mehrere Ketten und Armreife und Ohrringe. Sein Blick fiel auf einen Anhänger, den er kannte. "Ich hab dich noch nie die Kette tragen sehen, die ich dir geschenkt hatte", sagte er. Amanda zuckte zusammen. Sah ihn an. "Ich... hat sich einfach nie ergeben bisher. Aber sie ist schön, danke dir." Thorben nickte. Er wusste nicht mehr, was er sagen wollte. Irgendwie brachte sie ihn aus dem Konzept. Sie war einfach... besonders.
Man konnte meinen, ein Sunnyboy wie er wäre nicht so schüchtern, das Mädchen, das er mag anzusprechen. Doch... es war anders. Er hatte noch nie so etwas für jemanden gefühlt, nicht für Clara, nicht für jemand anderes. Er war sich nicht einmal sicher warum. Es war, als hätte er etwas vergessen, das lange vergraben war. Und er versuchte, dieses Vergessene wieder zu finden. Er war bereit, dafür fast alles zu tun. Doch er fühlte sich unsicher. Denn er wusste nicht wie er sich genau zu verhalten hatte. Vor allem jetzt, wo er wusste, dass etwas zwischen ihm und Clara gewesen war. Er war Clara zwar dankbar, dass sie ihr nicht mehr erzählt hatte... aber er hoffte nur darauf, dass Amanda es niemals herausfinden würde.
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