Oktober - Falsch
Es regnete schon seit Tagen. Alice mochte den Regen, wenn die Tropfen gegen die Scheiben klopften und wenn alles danach nach Erde roch. Sie ging auch gerne unter einem Regenschirm spazieren. Nur eins mochte sie überhaupt nicht: wenn sie nass wurde. Und das war bei Regen leider vorprogrammiert, obwohl Schirme das meiste abfingen.
Der Regen prasselte auf die Fensterscheiben. Sehnsüchtig sah Alice nach draußen. Sie war im Musikraum. Die Stunde vor der Freistunde war ausgefallen. Einige waren daher bereits nach Hause gegangen, da sie sich die letzte Stunde Deutsch einfach sparen wollten. Doch Alice war glücklich über einige mehr Minuten am Klavier. Sie hatte die Stunde genutzt ein wenig zu üben. Bald hatte sie wieder ihr erstes Klaviervorspiel, welches zwar nicht allzu wichtig war, aber dennoch geübt sein sollte. Dann hatte sie sich ans Fenster gesetzt und nach draußen gestarrt. Sie fand es immer wieder lustig, noch die letzten Lehrer und Schüler aus irgendwelchen Gründen über den nassen Schulhof hasten zu sehen. Die Kapuzen über die Stirn gezogen und möglichst schnell laufend. Erst eine warme Umarmung brachte Alice wieder in die Realität zurück. Stephanie schlang ihre Arme um ihre Taille und kuschelte sich an sie. Alice lächelte und sah sie an. Sie küssten sich sanft. Stephanies Haar roch nach frischer Minze. Es stand ihr gut.
"Hallo Schönheit", raunte Stephanie ihr zu und küsste sie auf die Wange. Alice wurde sofort rot. Sie konnte nie gut mit Komplimenten umgehen. "Awww du bist immer so süß, wenn du verlegen bist!", rief Stephie , knuddelte sie noch fest, bevor sie von ihr abließ und sich an den Flügel setzte. Sie fing an Akkorde zu spielen und dabei lauthals und schräg zu singen. Eigentlich hatte Stephanie keine so schlechte Stimme, aber ses machte ihr unglaublich viel Spaß, schief zu singen. Alice lächelte und stützte sich auf den Flügel, während sie ihre Freundin betrachtete. Freundin! Ja! Stephanie und Alice, Alice und Stephanie... immer wieder hörte sie es im Kopf und sie konnte nicht umhin, glücklich zu lächeln. Sie hätte sich nie erträumen lassen, dass sie mit Stephanie zusammen sein würde. Trotz aller Verwirrungen, allen Streitigkeiten. Stephanie hatte ihr verziehen und dafür war Alice mehr als dankbar. Es hatte sich nicht viel verändert zwischen ihnen. Immer noch war da dieses Vertraute. Vielleicht hatte Alice sie schon immer geliebt, schon bevor es ihr überhaupt bewusst war. Sie hätte sich nie gedacht, dass sie sich so sehr zu einem Mädchen hingezogen fühlen konnte. Andererseits hatte sie sich nie für Jungs interessiert. Sie hatte sich nie wirklich Gedanken gemacht. So weit weg erschienen ihr einst die Aussichten, sich zu verlieben. Stephie grinste und fing an einfach nur zu spielen. Die Klänge brachten Alice in eine völlig fremde Welt. Und dennoch, plötzlich in eine Erinnerung, die sie am liebsten vergessen hätte.
"Pff... Homo-Ehe! Was kommt als nächstes? Sollen solche Leute etwa demnächst auf unschuldige Kinder gelassen werden? Die Welt geht vor die Hunde!" Ihr Vater blätterte die Zeitung um und verschwand fast vollkommen dahinter. Man sah nur den Ansatz seines blondgrauen Haares. Er nahm seine Kaffetasse und nippte daran. Es war der Tag an dem Amanda und Laurin Geburtstag feiern wollten. Es war noch früh und eigentlich war Alice noch nicht wirkich wach. Doch sie merkte, wie ihr Blut aus ihrem Gesicht wich. Ihr Magen wurde flau. Auf einmal hatte sie keinen Appetit mehr. Ihre Mutter hantierte an der Kaffeemaschine und schnalzte mit der Zunge. "Ach Michael, sei mal nicht so! Soll doch jeder machen, wie er will. Solange sie sowas nicht... nicht... solange die ihre Neigungen nicht in der Öffentlichkeit ausleben müssen..." - "Pff... Neigungen nennst du das? Krank finde ich das! Aber wenn man sowas sagt wird man natürlich abgestempelt. Diskriminiert und blablablah! " - "Na reg dich doch mal ab, Michael! Du hast mit ihnen doch eh nichts mehr zu tun als nötig. Alice, mein Schatz, was denkst du darüber?" Die Blicke ruhten auf ihr. Alices Mund wurde trocken. Sie schluckte. "Was... genau meintest du? Also das mit der Öffentlichkeit..." Ihre Mutter biss von ihrem Erdbeermarmeladenbrot ab und durchdrang sie mit ihren blaugrauen Augen. "Das will doch niemand sehen! Wie solche Leute Händchen halten oder sich in aller Öffentlichkeit küssen! Das gehört eindeutig in deren eigener Wohnung! Aber jedem wohl das seine oder?" Ihre Stimme klang schrill und spöttisch. Alice lief es heiß und kalt den Rücken runter. Sie nippte an ihrem Tee, bevor sie mit den Schultern zuckte. "Vielleicht", murmelte sie nur und vermied es, ihre Eltern dabei anzusehen.
Alice schüttelte ihre Erinnerung an dieses Gespräch ab und lauschte stattdessen Stephanies Klängen. Dennoch zitterte sie noch. Es fiel ihr nicht leicht, damit umzugehen, dass ihre Eltern niemals Verständnis haben würden. Dass sie sie niemals akzeptieren würden, wenn sie es wissen würden. Dass ihre eigenen Eltern niemals wissen würden, wer ihre Tochter war. War es das, was ihr Bruder fühlte seit langem fühlte? Seit er nicht mehr zu Hause wohnte hatten sie sich so selten gesprochen. So selten und doch war er immer der einzige gewesen, der sie verstand. Und sie war die einzige gewesen, die ihn verstand. In dieser kranken Familie... diese scheinheilige falsche Familie, der es wichtiger war, ein falsches Lächeln aufzusetzen, als dass alle auch nur ansatzweise glücklich waren. Stephanie sah auf und runzelte die Stirn. Sie hörte auf zu spielen. "Alles in Ordnung?", fragte sie. Es war, als hätte sie gespürt, dass etwas nicht stimmte. Alice zögerte. "Nichts", sagte sie schließlich, "nur... eine doofe Erinnerung." Sie zwang sich zu einem Lächeln und atmete tief durch. Stephanie lächelte schwach zurück und spielte weiter. Die Musik erklang warm im Raum. Alice begann sich zu entspannen. Sie wollte an nichts mehr denken. Sich nur in diese Musik zurückziehen.
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Ich hatte mich entschieden. Heute würde der Tag sein. Der Tag, an dem ich ehrlich zu Clara sein würde, und zur Rede stellen würde. Ich konnte nicht damit leben, zu wissen, dass sie mit Thorben geschlafen hatte... und mit anderen Typen, ohne dass sie sich erklären konnte. Ich hatte keine Lust darauf, Geheimnisse in unserer Freundschaft zu haben, keine Lust mich ständig zu fragen, was gewesen war. Ob sie mehr für ihn empfand, ob er mehr für sie empfand. Wahrscheinlich hätte ich mich besser damit abfinden sollen, es ignorieren und weitermachen sollen, doch dem war nicht so. Ich konnte es nicht. Ich hatte viel darüber nachgedacht, viel mit Jacob darüber geredet und er war derselben Meinung wie ich. Irgendwie seltsam, dass ich es ausgerechnet ihm erzählen konnte und sonst niemanden. Und dann war da die Sache mit Mina... Ich schauderte bei dem Gedanken an diesen kalten Blick, den sie Clara zugeworfen hatte, als wir sie beobachtet hatten. Mir war nicht wohl bei der ganzen Sache. Ich fragte mich, wie weit Mina gehen würde, um "ihr eine Lektion zu geben". Zum Glück hatte ich es ihr ausgeredet irgendetwas zu machen, bevor ich mit Clara selbst gesprochen hatte. Mein Kopf war voll. Ich war unruhig. Normalerweise wäre Laurin diejenige gewesen, der ich mich zuerst anvertraut hätte. Aber es ging aus verschiedenen Gründen nicht. Erstens konnte man zu viel aus ihr locken, wenn man geduldig genug ist und zweitens war es nur eine Sache zwischen mir und Clara. Ich wollte nicht noch mehr Leute in das Drama reiten als bereits waren.
Deswegen fing ich Clara in der Mittagspause ab. Sie war etwas verwundert, als ich sie am Handgelenk packte doch ich sah sie nur ernst an. "Ich muss mit dir reden. Kommst du mit?" Mit gerunzelter Stirn stimmte sie zu. "Ja. Klar." Schweigend führte ich sie durch die Gänge. Ich wusste zwar nicht wo genau ich wollte, aber als wir ein wirklich leeres Treppenhaus fanden blieb ich dort stehen und setzte mich auf die Stufen. Clara setzte sich zögerlich daneben und sah mich mit großen Augen an. Sie zwirbelte an einer Strähne, die sich von ihrem Zopf gelöst hatte. "Hör mal... ich weiß es geht mich gar nichts an. Es geht mich nichts an, was du mit wem machst, aber... aber... ich weiß Dinge über dich und hab keine Ahnung was ich davon halten soll und... ich bin vetwirrt und..." Clara hob die Hand und brachte mich mit meiner gestotterten Einleitung zum schweigen. "Was ist los?", fragte sie. "DuhastwasmitThorben." Die Worte purzelten ungeorsnet und fast unverkennbar aus meinem Mund. Ich räusperte mich. "Du... hast was mit Thorben." Kurz sah ich etwas in ihrem Blick, das ich kaum entschlüsseln konnte, doch der Ausdruck verschwand schnell aus ihren Augen. Was war es? Wut? Überraschung? "Warum denkst du das?", fragte sie langsam. Sie verschränkte ihre Arme. Distanzierte sich etwas von mir.
Ich seufzte. Es tat zu sehr weh, aber... ich musste einfach reinen Tisch machen. "Ich hab's gesehen. Auf der Party. Ich wollte eigentlich nicht... gucken, aber ich war auf dem Weg zur Toilette und die Tür war nicht ganz zu." Sie schwieg. Reagierte kaum darauf. Fast so, als würden die Worte sie nicht erreichen. Als würde es sie gar nicht betreffen.
Ich biss mir auf die Unterlippe. "Du... Clara... ich bin dir nicht böse oder so, aber ich... muss wissen, was da zwischen euch beiden läuft."
"Musst du?" Fast ein Grinsen umspielte ihre Lippen. Doch nur fast. Es war nur zu erahnen.
Ich sah kurz auf den Boden, bevor ich wieder in ihre Augen sah. "Ich... bin in Thorben verliebt", gestand ich schließlich. "Und ich will mich nicht einmischen, aber ich will wissen, ob..."
"Es war nichts ernstes", unterbrach sie mich lächelnd, "nur ein One-Night-Stand, nicht mehr. Ehrlich gesagt ist es mir etwas peinlich. Ich war betrunken, er war betrunken..." Ich blinzelte überrascht. Sie lief etwas rot an, grinste aber schwach. "Ich wollte den Abend eigentlich nur vergessen, weißt du? Sprich mich nicht mehr darauf an." Mit diesen Worten stand sie auf, schenkte mir ihr strahlendstes falsches Lächeln. Falsch, denn ihre Stimme klang wenig begeistert. "Ich bin mir sicher, du passt besser zu ihm." Sie ging und ließ mich verdattert sitzen. So vieles schwang in ihrer Stimme mit, so vieles was ich nicht entschlüsseln konnte. Oder nicht wollte?
Mein Gespräch mit Clara hatte mir viel mehr Fragen aufgeworfen, als beantwortet. Ich fühlte mich zum Teil erleichtert, doch viel mehr war ich nur noch verwirrt. Irgendetwas stimmt nicht. Doch ich wusste nicht was.
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Clara lief die Treppenstufen hinunter und zielstrebig in den TheaterAG-Clubraum. Sie wusste nicht, wohin sie sonst gehen sollte. Sie wusste nicht, was für ein Gesicht sie machen sollte. Sollte sie heulen? Oder lachen? Irgendwie war es wieder typisch. Immer wieder entschied sich das Schicksal, ihr entgegen zu kommen. Oder war das ihr Karma? "Du hast was mit Thorben." Die Worte hallten in ihrem Kopf nach. Sie bekam Kopfschmerzen. Sie betrat den Clubraum. Er war leer wie fast immer zu der Zeit. Auf dem Schreibtisch waren Stapel mit Drehbüchern und Drehbuchvorschlägen. Die Stühle waren in einer Ecke gestapelt, nur der Schreibtischstuhl war am Schreibtisch. Die Garderobenständer waren voll mit Kostümen. Es waren nicht alle Kostüme die sie hatten, nur eine kleine Auswahl. Eine Requisitenkiste lag in der Ecke. Nur ein Fenster war in dem Raum. Es befand sich hinter dem Schreibtisch. Clara ging zum Schreibtisch und setzte sich dahinter. Eine kurze Zeit saß sie nur und atmete tief durch. Sie fragte sich, was sie tun sollte. Irgendwie hatte sie es halb erwartet, dass Amanda auch Gefühle für ihn hatte. So wie sie ihn angesehen hatte... irgendwie ergab es Sinn. Clara war früher immer die erste gewesen, die sich darüber lustig gemacht hatte, dass Amanda auf ihn stand. Aber... damals war es noch nicht so kompliziert. Damals hatte sie nicht die Hauch einer Chance.
Claras Gedankengang wurde unterbrochen, als ihr Handy vibrierte. Wenn man vom Teufel spricht... Thorbens Name ploppte in der Benachrichtigung auf. Clara las die Nachricht.
"Hey, wollen wir reden?"
Sie tippte zurück. "Muss es heute sein? Ich bin nicht in Stimmung."
Ein paar Sekunden nur musste sie warten.
"Egal wann. Ich will mit dir reden. Es tut mir leid."
Clara lächelte irgendwie. Irgendwo freute es sie, dass er sich Sorgen zu machen schien, sie ihm wohl dennoch etwas zu bedeuten schien. Er muss ja nicht mit mir schreiben...
"Kk, lass uns später reden :P"
Clara wusste zwar nicht, warum sie diesen Smiley einfügte, aber es war ohnehin leichter sich zu verstellen, als sich zu zeigen. Und vielleicht sollte sie doch mit ihm reden. Sie bekam das Gefühl nicht los, dass der Sturm noch wüten würde und alles zerstören könnte, was ihr wichtig war. Und vielleicht würde sie noch recht bekommen.
(AN: Wow Kapitel 20 und laut Libre Office über 80 Seiten! Allen Lesern wünsche ich noch viel Lesespaß, denn es wird noch einiges kommen!)
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