November - Elternabend
(AN: Es ist nun ein Jahr oder mehr vergangen, seit ich das letzte Mal an dieser Geschichte oder überhaupt an einigen Dingen gearbeitet habe auf Wattpad. Ich weiß also nicht, ob noch jemand das hier liest, aber ich möchte versuchen, diese Geschichte weiter zu erzählen, so wie ich sie im Kopf hatte und habe. Leider bin ich oftmals sehr beschäftigt oder mein Leben passiert - im Guten sowie Schlechten. Und ich versuche möglichst meinen Rahmen von 1600-2000 Wörtern pro Kapitel einzuhalten, deshalb kann es sein, dass diese Geschichte eher selten geupdatet wird. Also... seltener als sonst schon. Dennoch. Wer schon länger mein Leser ist und sich trotzdem freut: Danke! Ich weiß es echt zu schätzen, auch wenn ich manchmal nicht dazu in der Lage bin, das auszudrücken.)
Dr. Michael Heidenreich beendete jeden Donnerstag seinen Tag um 17 Uhr, statt um 18 Uhr. Sein letztes Beratungsgespräch hatte er mit einem höchst metrosexuellen jungen Mann geführt, der sich seine Nase richten lassen wollte. Pinkes Hemd, gut gepflegt, die Beine gekreuzt, als er gesessen hatte. Leuchtende blaue Augen, die ihn zugegebenermaßen hübsch machte, sah man von seiner eckigen Nase mit seltsam engen Nasenlöchern absah. Doch was war nur mit der Männerwelt passiert? Gab es nur noch Tunten auf der Welt? Dr. Heidenreich vermisste die Zeit, als Männer noch echte Männer waren und für die Familie sorgten. Doch er liebte seinen Beruf. Er wusste zwar, dass seine noch naive Tochter es nicht verstand, wie man sich entscheiden konnte Schönheitschirug für Privilegierte zu werden, anstatt "tatsächlich jemanden zu helfen". Doch es war nicht alles schwarz oder weiß. Menschen, die bei Dr. Heidenreich in die Praxis kamen waren nicht immer nur verschnöselte selbsthassende Reiche, sondern manchmal Opfer von Unfällen oder anderen unglücklichen Umständen, die es zu reparieren galt. Er verstand sich mehr als einen, der die Menschen vielleicht nicht rettete, aber sie doch äußerlich reparierte. Mehr zählte nicht. Er hoffte, seine Tochter würde auch einmal Ärztin oder Anwältin werden. Irgendetwas sinnvolles und gut bezahltes mit Ansehen. Auf seinen Sohn war ja kein Verlass mehr, doch seine Tochter hatte noch Potenzial. Sie würde es irgendwann schon einsehen. Sie hatte ihr ganzes Leben vor sich.
Dr. Heidenreich traute sich mit großen Schritten in die klirrendef Kälte. Er seufzte und verzog kurz seine Miene, bevor er sich auf dem Weg zu seinem Auto machte. Am Abend fand ein Elternabend statt, zu dem seine Frau nicht erscheinen konnte, da diese wegen ihrem kürzlichen Bandscheibenvorfall auf einer Kur war. Eigentlich hatte Michael Heidenreich keine Lust, zum Elternabend zu gehen, doch gleichzeitig wollte er wissen, wie sich seine Tochter so machte.
Als er auf dem Lehrerparkplatz parkte, fiel ihm ein schwarzer BMW auf, den er sehr gut kannte. Rainer und Petra Brandt stiegen aus, schienen zu diskutieren. Petra gestikulierte und zog ihre Jacke näher an ihren Körper. Michael stellte den Motor aus und stieg aus. Schnell schloss er den Wagen ab und ging auf das Paar zu. "Guten Abend Rainer! Petra!" Er grüßte beide mit einer kurzen Umarmung. Rainer Brandt klopfte seinem guten Freund auf die Schulter. "Hallo Michael", sagte er, "alles gut in deiner Praxis? Wie geht es Klara?" Michael nickte. "Ja, heute war nicht viel los, doch morgen muss ich ausgeruht sein, deshalb hoffe ich, dass wir nicht zu lange hier bleiben müssen. Ja, Klara geht es ganz gut, sie ist ja gerade auf Kur. Sie lässt euch aber lieb grüßen." "Danke, grüß sie gerne zurück, wenn du das nächste mal mit ihr telefonierst", sagte Petra Brandt und die drei begaben sich in das Schulgebäude. "Raum 112", murmelte Michael und steuerte auf die Treppe zu. Der Klassenraum war, wie Michael bemerkte, relativ klein für 28 Schüler. Eine Kugel aus Alufolie steckte neben dem äußersten Tisch links, der zum Gang führte, zwischen Tisch und Wand. Michael rümpfte kaum merklich die Nase. Die anderen Eltern trudelten ebenfalls langsam ein. Am Lehrerpult stand ein junger Mann, Michael schätzte ihn auf höchstens Mitte 30. Das musste also Herr Krohn sein, von dem seine Tochter erzählt hatte. Ob er genug Autorität ausstrahlen konnte? Michael ging kurz zu ihm, schüttelte ihm die Hand. "Heidenreich", stellte er sich vor. "Schön Sie kennenzulernen", nickte Herr Krohn und deutete auf die freien Plätze im Raum.
Michael setzte sich irgendwo in die erste Reihe. Er fand es etwas seltsam, wieder die Schulbank zu drücken. Es war so lange her... Kurze Erinnerungen kamen in ihm auf, von dummen Jungenstreichen im Lateinunterricht und darauffolgende Strafen mit dem Rohrstock. "Guten Abend, ich heiße Sie sehr herzlich willkommen zum ersten Elternabend des ersten Halbjahres", sagte Herr Krohn, "mein Name ist Simon Krohn, ich bin der neue Klassenlehrer der 10a und unterrichte Mathematik und Geschichte. Ich freue mich Sie alle kennenzulernen. Ich schlage vor, dass Sie sich auch kurz einmal vorstellen, damit wir uns einigermaßen zuordnen können. Fangen wir bei Ihnen an?" Simon Krohn sah zu dem Elternpaar rechts neben Michael. Sie drehten sich so um, dass sie allen in die Gesichter blicken konnten. "Du oder ich?", fragte die Frau und der Mann sah sie nur nickend an. Die Frau hatte lange dunkle Augen und auffallend grüne Augen. Der Mann hatte eher spärliches Haar und eine Brille. Die Frau lächelte. "Also wir sind Simone und Ivan Pavelic und die Eltern von Georg." Alle nickten. Michael nahm etwas Luft. "Mein Name ist Dr. Michael Heidenreich und ich bin der Vater von Alice."
"Rainer und Petra Brandt, die Eltern von Amanda."
"Justus Thomas, Vater von Alexander." Er war ein hochgewachsener Mann im dunklen Anzug.
"Isabell Wedel, ich bin die Mutter von Céline." Eine kleine blonde Frau, die auch noch zwei Plätze weiter nach Parfum roch.
"Ich bin Jana Dübel und bin die Tante und gesetzlicher Vormund von Jacob Funk." Michael stutzte. Ein Vormund war selten auf einem Elternabend anwesend und der Nachname Funk sagte ihm nichts. Ein Neuzugang? Vage erinnerte er sich daran, wie Alice von einem Jannik... nein. Es war ein Jacob. Er sah zu seinen Freunden hinüber, die auch etwas überrascht wirkten. Jana Dübel schien noch eine sehr junge Frau zu sein mit braunen Haaren, die sie sich hochgesteckt hatte und einen schlichten blauen Pulli zu ebenfalls schlichten dunkelblauen Jeans trug.
Weitere Eltern stellten sich vor.
"...Sarah Tiede, ich bin die Mutter von Sophie."
"Ich bin Laura Stegemann und die Mutter von Julia."
Es folgten noch weitere Namen, doch Michael hörte kaum mehr zu. Auf einmal fühlte er sich abgelenkt, gar unwohl und lustlos. Er wollte nur noch weg und seinen Abend still zu Hause verbringen. Am Ende der Vorstellungsrunde ging es um den bevorstehenden Weihnachtsbazar, bei dem noch zwei helfende Eltern gesucht wurden, Michael hörte nicht wirklich zu. Später ging es auch um die bevorstehende Klassenfahrt nach Stralsund, welche im April stattfinden würde. Dann gab es die allgemeine Diskussion, bei der sonstige Fragen und Themen über die Schule und die Schüler besprochen würden
"Amanda macht sich recht gut, wenn sie sich nur öfter melden würde, könnte sie sich sogar noch verbessern...", antwortete Herr Krohn auf eine Frage der Brandts. Einige Eltern redeten leise miteinander. Bis alles durch ein lautes bestimmtes Räuspern perplex verstummte. Die blonde jüngere Mutter Laura Stegemann biss sich in die Unterlippe und holte einen zusammengefalteten Zettel aus ihrer Tasche. Alle Blicke richteten sich auf sie. "Ja also... Ich möchte etwas ansprechen, was Mobbing in dieser Klasse betrifft", sagte sie und faltete den Zettel auseinander. "Meine Tochter Julia hat kürzlich einen Brief von einem anonymen Absender bekommen, welchen ich aus dieser Klasse vermute. In dem Brief wird meine Tochter beschimpft und ich fände es ein Unding, dies nicht hier anzusprechen."
Simon Krohn runzelte die Stirn und nahm den Brief der Mutter in Empfang. Er las still und verzog sein Gesicht. "Das ist natürlich... Hm. Hat Ihre Tochter vielleicht eine Vermutung, wer diesen Brief geschickt hat?", fragte er sie. Frau Stegemann schüttelte den Kopf. "Ich habe diesen Brief auch nur zufällig gefunden, als er ihr heruntergefallen war. Auf Fragen von mir hat sie sehr abweisend reagiert, deshalb wollte ich hier fragen, ob etwas aufgefallen ist. Und vielleicht die hier anwesenden Eltern", sie ließ ihren Blick in der Runde schweifen, "dazu ermuntern, mit ihren Kindern zu sprechen und an ihr Gewissen zu appellieren. Ich weiß, wie sich schnell Gruppendynamiken bilden können, was zum Mitmachen von Mobbing verführt. Aber hier haben wir die Chance einzugreifen."
Michael Heidenreich runzelte die Stirn. "Sind Sie sicher, dass es wirklich Mobbing ist und kein einfacher Streich? Ich finde dieses Wort wird heutzutage viel zu oft dramatisiert. Zu meiner Zeit wurden solche Dinge einfach unter sich geklärt." Frau Stegemann schnappte nach Luft. "Ist das Ihr Ernst? Meine Tochter soll ihre Schulzeit genießen, anstatt Tag für Tag gegen eine graue Masse ankämpfen zu müssen, nur weil sie den kranken normalen Standards der Gesellschaft nicht 100%ig entspricht!" - "Kranke normale Standards? Davon war doch gar nicht die Rede! Ich dachte es ging darum, dass ihre Tochter angeblich gehänselt wird. Ich mag es nicht, wie Sie alle Schüler hier in dieser Klasse unter Generalverdacht stellen, nur weil jemand einen lächerlichen anonymen Brief ..." "Herr Heidenreich", unterbrach Herr Krohn ruhig, "Mobbing ist nichts, was man verharmlosen sollte. Ich werde diese Sache jedoch erst einmal näher untersuchen, bevor Schüler verdächtigt werden." Zu Frau Stegemann gewandt sagte er ihr zunickend: "Erst einmal vielen Dank, dass Sie Ihr Anliegen hier hervorgebracht haben, ich werde es im Hinterkopf behalten und mehr darauf achten. Natürlich ist Mobbing hier nicht geduldet an dieser Schule, das werde ich in der nächsten Klassenorganisationsstunde ansprechen. Aber bis dahin... Beruhigen wir uns alle erst einmal und sehen, wie es sich entwickelt."
Nicht sonderlich zufrieden verschränkte Julias Mutter ihre Arme vor der Brust. "Haben Sie vielleicht irgendetwas von Ihren Kindern vom Mobbing mitbekommen?", fragte Herr Krohn an andere Eltern gerichtet. Die Brandts schüttelten die Köpfe. Andere gaben murmelnd an, dass sie nichts derartiges gehört hatten.
Herr Krohn schlug die Hände aneinander. "Gut. Dann kommen wir zu anderen Anliegen?" Frau Pavelic meldete sich zu Wort. "Ich möchte fragen, ob unser Georg..." Dr. Heidenreich hörte nicht weiter zu. Der Elternabend plätscherte einfach weiter und interessanteres gab es nicht mehr zu besprechen.
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Jacob sammelte die Scherben in der Küche auf. Die Großen kamen direkt in den Müll, die Kleinen fegte er mit einem Handbesen auf. Es war so unendlich leer in der Wohnung. Er sollte erleichtert sein. Erleichtert, dass seine Mutter sich wieder in die Klinik gebracht hatte. Doch stattdessen fühlte er nur Leere. Er wischte die kleine Blutlache auf, dann stand er auf, um die Sachen auf der Küchentheke ordentlich hinzustellen. Die Karaffe war heil geblieben. Die Karaffe, die seine Oma ihnen einst geschenkt hatte. Er seufzte und stellte die Karaffe ganz weit nach hinten. Eine Dose Mais war auf den Boden gefallen und wies eine Delle auf. Etwas Flüssigkeit leckte aus der krummen Dose. Jacob hob sie auf und schmiss sie in den Müll. Die Flüssigkeit wischte er mit etwas Küchenpapier auf. Die Küche war nun aufgeräumt. Es war nun, als wäre nichts passiert. Außer dass sie kaum Geschirr hatten. Vielleicht sollte er beizeiten Picknickgeschirr kaufen. Er seufzte. Ihm war, als würde das ganze Gewicht der Welt ihm auf den Schultern lasten. Eingehüllt in dieser Schwere wollte er zusammenbrechen, doch sein Körper stand da und tat nichts.
Er konnte nicht einmal weinen. Nicht dass er es unbedingt wollte, aber... er dachte nicht weiter darüber nach. Wie in Zeitlupe drehte er sich um, um die Küche zu verlassen. Jeder Zentimeter erschien ihn wie eine Qual. Als er aus der Küche raus war, atmete er schwer auf. Als wäre er erstickt und hätte nun wieder Luft zu atmen. Seine weichen Knie gaben nach und er fiel auf den schmutzigen Teppichboden. Er zitterte. Warme nasse Tränen liefen ihm über das Gesicht. Oh. Er weinte ja doch. Seine Hände bildeten sich zu Fäusten. Schlugen schwach auf den Boden. Hilflos. Kraftlos. Er konnte nicht mehr. Er wollte nicht mehr. Er konnte nicht mehr. Er schloss die Augen. Fragte sich, wie lange er dort wohl bleiben konnte. Er schlief ein.
Ein traumloser Schlaf wurde jäh unterbrochen, als eine Hand seine Schulter berührte und sanft weckte.
"Hey... Jacob." Er blinzelte. Ihm tat fast alles weh. Sein Arm war ihm eingeschlafen. Sein Bein seltsam verkrampft. Dennoch versuchte er unbeholfen sich aufzurichten, um sich umzusehen. Er hatte auf dem Boden gelegen. Seine Tante blickte ihn an. Ihre grünen Augen sahen besorgt aus. Sie streckte ihm die Hand aus und half ihm auf die Beine. Sie schloss ihn in die Arme. Regungslos taub stand er da. Die Umarmung stumm akzeptierend. Er bemerkte, dass seine Tante Jana zitterte. Möglicherweise die Tränen zurück hielt. Schweigend ließ sie ihn nach einem Moment los. Sie gingen ins Wohnzimmer. Ein selten genutzter Raum, da Jacob sich meistens in seinem Zimmer zurückzog. Es war auch kein besonderer Raum. Ein Sofa. Ein Fernseher. Ein kleiner Tisch mit drei Stühlen. Hässliche Gardinen, die vor einem Fenster hängen und den Raum abdunkelten. Sie waren einmal weiß gewesen. Doch mittlerweile waren sie grau. Jana seufzte und ließ sich auf das Sofa fallen. Jacob setzte sich zu ihr. Sie schwiegen eine Weile. "Wie war der Elternabend?", fragte Jacob schließlich, als die Stille zu schmerzhaft wurde. Jana zuckte kurz zusammen, bevor sie tief Luft holte und langsam wieder ausstieß. "War... okay", sagte sie leise, "...ich... Jacob... wie geht es dir? Wie geht es dir wirklich?" - "Mir geht's gu...", Jacob unterbrach sich selbst, "ich weiß es nicht." Jana straffte sich etwas und sah ihm in die Augen. "Jacob... ich weiß nicht, wie lange deine Mutter diesmal in der Klinik bleiben wird, aber jedenfalls... Du bist bei uns willkommen. Bei mir und Leon." Jacob schwieg. Dann schüttelte er den Kopf. "Es ist okay. Ich... bleibe lieber hier." Jana presste ihre Lippen aufeinander. "Bist du dir sicher?" Jacob nickte abwesend. Seine Tante seufzte nickend. "Okay. Ich... werde einige Tage hier bleiben und ab und zu nach dir sehen. Ich... Wenn du es dir anders überlegst oder darüber reden willst. Sag mir Bescheid." Jacob nickte. Er lehnte sich in die Ecke des Sofas. Er fühlte sich nicht in der Lage sich zu bewegen. Er war starr. Noch viel zu starr. Und die Stille machte ihn verrückt. Doch er konnte nichts sagen, nichts schreien, nichts... Er starrte die Fernbedienung auf den kleinen Fernsehtisch vor ihm an. Doch ihm fehlte die Energie, die Fernbedienung zu betätigen. Jana folgte seinem Blick und machte schweigend den Fernseher an. Dankbar blickte er sie an. Sie ließen sich berieseln. Von irrelevanten dummen Geräuschen aus der dummen Zauberkiste.
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