August - Der Neue

Ein Jahr vor dem Vorfall...

Alice wirkte immer wie eine wunderschöne anmutige Waldelfe mit ihrer schlanken Statur, ihren langen, dichten, blonden Haare und ihren dunkelgrünen großen Augen. Damit zog sie immer die Blicke auf sich, wo auch immer sie sich befand. Obwohl Pünktlichkeit nie ihre Stärke war und sie jeden Tag völlig aus der Puste eine Minute vor Unterrichtsbeginn in den Klassenraum stolperte, wirkte sie anmutig wie eh und je.
Clara beneidete sie ein bisschen darum. Alice war wirklich bemerkenswert. Wunderhübsch, nett und schlau zugleich. Außerdem war sie eine talentierte Klavierspielerin. Und es schien bei Alice alles mit einer Prise Selbstverständlichkeit zu kommen, auch wenn ihr es wahrscheinlich nicht bewusst war. So wie sie könnte Clara niemals sein.
Eine ungestraft verpeilte Person wie Alice, die ihre Verpeiltheit immer mit einem Lächeln wegstrahlen konnte, wie genau da, in dem Moment.
Alices Kopf war feuerrot vom letzten Sprint in den Klassenraum. Es war kurz vor zehn. Da es der erste Tag nach den Sommerferien war, begann die Schule erst um zehn. Dass Alice dennoch fast zu spät kam, war aber zu erwarten.

Clara winkte ihr lächelnd zu und deutete auf den leeren Platz neben ihr. Überschwänglich umarmte Alice Clara, bevor sie sich setzte. "Heeey", rief Alice fröhlich, "alles klar?" Clara grinste. Vor ihnen saßen Laurin und Amanda, sie sich auf ihren Stühlen nach hinten umgedreht hatten.
Laurin war relativ klein und hatte schwarz gefärbte Haare mit einem geraden Pony. Sie war eher zierlich und war die allerbeste Freundin von Amanda, die im Gegensatz zu ihr relativ groß war. Amanda hatte lange braune Haare und war eher spotlich gebaut.

"Wieder mal fast zu spät, Alice?", fragte Laurin. Sie zupfte einen Träger ihres BHs an der Schulter zurecht. Sie trug wie so häufig einen blauen Tanktop mit tiefem Dekolleté. Alice strich sich lässig über ihr Haar und stützte sich auf den Tisch. "Ich wette Amanda hat dich wieder geweckt", grinste sie. Amanda lachte bestätigend. "Ja, die Prinzessin musste erst wachgeküsst werden!" Laurin wurde schon immer die Prinzessin genannt. Nicht, weil sie das meiste Sagen in der Clique hätte, sondern weil sie manchmal eine Diva war. Sie war selbstbewusst, manchmal auch etwas stur. Dennoch war sie eine sehr liebe Person und Clara bewunderte ihr Selbstbewusstsein.

Laurin rollte mit den Augen. "Alice ist viel öfter zu spät als ich", sagte sie. Alice kramte einen Collegeblock und ihre Federmappe aus ihrer Tasche heraus. "Wo sind eigentlich Mina und Sophie?", fragte sie beiläufig. "Toilette", erwiderte Laurin und strich ihren Pony zurecht. "Die haben sich da hin gesetzt", meinte Clara und deutete eine Reihe hinter sich.

Während sich die anderen unterhielten, schweifte Claras Blick durch die Klasse. Die meisten Schüler standen in kleineren Gruppen herum und unterhielten sich.
Einige andere, etwas unscheinbare Schüler saßen still auf ihren Plätzen und lasen oder kritzelten herum. So viele Außenseiter gab es nicht in der Klasse. Julia, ein sehr stilles Mädchen, an die nicht wirklich jemand heran kam. Clara hatte genau einmal ein Wort mit ihr gewechselt. Das war, als sie einmal nach einem Stift gefragt hatte. Dann gab es noch Hermann, der zwar ruhig erschien, aber immer viel zu aufgedreht und nervig wurde, wenn man ihn ansprach. Wahrscheinlich drehte er nur deshalb am Rad, weil er sonst niemanden zum Reden hatte, was zugegebenermaßen ziemlich traurig war. Allerdings machten alle Mädchen in der Klasse einen riesigen Bogen um ihn. Hermann konnte gruselig anhänglich sein. Ben hingegen war ein totaler Einzelgänger mit einer Null-Bock-Einstellung. Manchmal sah man ihn zwar mit Julia abhängen, aber selbst das war äußerst selten. Keiner der dreien wurde sonderlich gemobbt - zumindest soweit Clara es mitbekam - , aber sie schienen alle einfach nicht... dazu zu passen. Im Grunde interessierte sich Clara nicht wirklich für diese Außenseiter. Sie gingen sie nichts an und sie hatte eh ihre Freunde. Warum sich also darum kümmern?
Ihr Blick schweifte weiter zu den Jungs. So viele gutaussehende Jungs gab es auch nicht wirklich, aber Thorben und Alex sahen beide nicht schlecht aus. Thorben war eher so ein Sunnyboy mit wuscheligen blonden Haaren. Gut gebaut und glänzende gerade Zähne. Das hatte man wohl davon wenn die Eltern Zahnärzte waren... Viele Mädchen waren verknallt in ihn und sogar einige aus der Parallelklasse hatten ein Auge auf ihn geworfen. Besonders, da er momentan keine Freundin hatte.
Alex war eher breiter gebaut, etwas muskulöser. Braunhaarig mit durchdringenden dunkelbraunen Augen. Er hatte irgendwie etwas von einem Bad-Boy. Und baggerte gerne hübsche Mädels an. Allerdings hatte er bislang nie eine ernste Beziehung zu einem Mädchen. Aber... irgendwie war Alex auch cool und konnte nett sein.

Neben Clara seufzte Alice in ihr Ohr. "Oh Alex, du bist ja so süß", säuselte sie spöttisch. Clara schrak ertappt auf und wurde rot. "Stimmt gar nicht!", rief sie und sah sofort weg. Die anderen kicherten. "Na, was läuft?" Mina und Sophie bahnten sich den Weg durch den Raum zu ihnen hin.
Mina war eine sehr hübsche Latina mit beneidenswert lockigen Haaren. Ihre Eltern waren ziemlich reich und sie trug immer schicke und angesagte Klamotten. Mit ihrer Figur konnte sie - ernsthaft! - Model werden. Sophie war ähnlich modebewusst wie Mina und trug ihre braunblonden Haare mit Blumenhaarschmuck in ihrem geflochtenen Haar. Sie gab sich immer viel Mühe mit ihren Frisuren.
Alice grinste Clara immer noch an, sagte jedoch nichts.

Die Schulglocke läutete. Es war Punkt zehn. Langsam schlenderten Mina und Sophie auf ihre Plätze und Laurin und Amanda drehten sich um. Der neue Klassenlehrer stellte sich vor. Er war noch nicht lange auf der Schule und hieß Herr Krohn.
Er war noch relativ jung - Clara schätzte ihn auf Ende zwanzig oder Anfang dreißig. Er sah ganz gut aus, für einen Lehrer. Schlank, groß und braunhaarig. Er trug eine eckige Brille mit schwarzem Rand.
Neben ihm stand ein Junge, den Clara noch nie gesehen hatte. Ein neuer Schüler?

"Das hier ist Jacob", stellte Herr Krohn ihn vor, "er wird ab heute auch in eurer Klasse sein."
Jacob nickte lächelnd und hob seine Hand leicht zum Gruß. Er sah ziemlich gewöhnlich aus. Schlank, vielleicht etwas schlacksig, groß mit braunblonden wuscheligen Haaren und goldbraunen Augen. Er war nicht ganz Claras Typ, aber er war auch nicht hässlich.
Jacobs Blick schweifte suchend durch die Klasse. Klar - er kannte ja niemanden - dann setzte er sich neben Julia, neben der ein Platz frei war. "Hallo", hörte Clara ihn sagen, doch außer einem murmelden "Hallo" zurück, kam von Julia nichts weiter.

Clara kritzelte gedankenverloren auf ihrem Block. Noch gab es nichts interessantes. Willkommen im neuen Schuljahr... blablabla...
Irgendwann schrieb er endlich den neuen Stundenplan auf die Tafel. Die Klasse stöhnte auf. Montags acht Stunden Schule! Laurin ließ ihren Kopf auf den Tisch fallen. Wie ätzend!

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Jacob war nervös, als er mit Herrn Krohn die Klasse betrat. Er hatte noch nie die Schule gewechselt und wusste überhaupt nicht, wie er angenommen werden würde. Eigentlich war es ihm gar nicht so wichtig. Er hatte seine Mutter fast angefleht, auf diese Schule zu wechseln. Nicht unbedingt, weil er in seiner alten Schule gemobbt wurde. Er hatte als Grund dafür angegeben, dass er in der Oberstufe in der jetzigen Schule eine Leistungskurs-Kombination machen konnte, wie sonst selten irgendwo.
Und das war immerhin die halbe Wahrheit.
Als er vor der Klasse stand richteten sich alle Blicke auf ihn. Die meisten guckten neugierig, einige eher gelangweilt. Aber niemand schien ihn von vorneherein zu verurteilen.
"Das hier ist Jacob. Er wird ab heute auch in eurer Klasse sein."
Jacob lächelte nickend und hob unsicher seine Hand zum Gruß. Einige Blicke wandten sich wieder ab. Einige kritzelten wieder weiter auf ihren Heften herum. Suchend sah Jacob in die Klasse. Es wäre ein ziemlicher Zufall wenn er in ihrer Klasse wäre, oder? Sein Blick schweifte durch die Gesichter. Sahen alle normal aus. Es war immerhin keine Bonzenklasse voller Snobs. Aber auch keine Asi-Klasse voller Kevins und Schantalls. Sein Blick schweifte zu den Mädchen, die in der Nähe des Fensters saßen. Und plötzlich sah er sie. Sie saß in der dritten Reihe am Gang. Lange braune Haare, haselnussbraune Augen, hübsches Gesicht. Er erkannte sie sofort. Er konnte es nicht fassen. Er kam in ihre Klasse! Nun gut, es war eine 25%ige Chance. Trotzdem. Darauf war er nicht vorbereitet. Ihm lief es heiß und kalt den Rücken runter. Seine Kehle wurde trocken. Er spürte, wie er sehr leicht zitterte, aber wahrscheinlich sah man das nicht so deutlich. Ihre Blicke trafen sich. Sie sah ihn fragend an, leicht irritiert und er sah sofort weg. Natürlich konnte sie nicht wissen, wer er war. Sie hatten sich erst einmal im Leben gesehen. Und das war lange her. Doch er erinnerte sich sehr gut daran...
Jacob nahm tief Luft und sah wieder in die Klasse. Neben einem blonden Mädchen war noch Platz frei. Jacob ging schnellen Schrittes hin und setzte sich. Der Platz war nicht weit weg von dem Mädchen mit den braunen Haaren. "Hallo", sagte Jacob freundlich zu seiner Sitznachbarin. "Hallo", murmelte sie nicht sehr deutlich zurück und ging wieder auf etwas Abstand. Sie war wohl ziemlich schüchtern.
Ob das alles eine gute Idee war?

Nachdem der Lehrer den Stundenplan angeschrieben hatte war eigentlich schon wieder Schulschluss. Jacob kannte das so gar nicht. In seiner alten Schule hatten sie am ersten Tag nach den Ferien schon normal Unterricht. Aber naja, er wäre der Letzte, der sich darüber beschweren würde.
Seine Sitznachbarin war sofort nach Schluss weggerauscht. Die sechs Mädchen am Fenster gingen lachend als Gruppe an ihm vorbei und raus. Einige Jungs hingen in einem Kreis noch rum. Jacob seufzte, packte seine Sachen und ging auch in Richtung Tür. Doch bevor er draußen war, wurde er zurück gerufen. "Ey Jacob! So heißte doch oder?" Jacob drehte sich um. Ein dunkelhaariger muskulöser Junge saß breitbeinig auf einem Tisch, einige standen neben ihm. "Ja?", fragte Jacob.
"Wir wollten jetzt bisschen kicken gehen, kommste mit?" Ein anderer Junge hielt einen Fußball im Arm. "Wenn du mitmachst können wir gleich große Teams machen", ergänzte der muskulöse Junge. Jacob lächelte. "Kay, ich komm mit", sagte er. "Cool."

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